Ausgabe 2014/1

Bis aufs Blut

Um kaum einen anderen Stoff ranken sich derart viele Fantasien und Mythen wie um diesen besonderen Saft: Blut. Der aktuelle Schwerpunkt wirft ausgewählte Schlaglichter auf die ambivalenten Bedeutungen, die Blut eingeschrieben sind - von den kolonial-rassistischen und nationalsozialistischen Diskursen über "reines Blut" bis zur nationalen "Blutsgemeinschaft" der Gegenwart, von der Blutspende als "selbstloser Tat", die Leben rettet, bis zum "bösen Blut" als Träger von Krankheit und Seuche, vom christlichen Opferblut bis zum Menstruationsblut als Material in der feministischen Aktionskunst, das die männliche Vorherrschaft besudelt.
Foto: wwarby/flickr (CC-Lizenz)

Fokus ^

Die Blutspende als sozialer Vertrag

von Veronika Siegl

Das System der Blutspende spiegelt nicht nur die Idee des gesellschaftlichen Zusammenhalts wider, sondern auch ihre strukturellen Ausschlüsse. Denn manchen wird das Blutspenden dauerhaft verweigert.

Gemeinschaft, Verwandtschaft, Nation, Identität, Infektion, Rassismus, Krieg - die Assoziationen, die Blut hervorruft, verweisen auf dessen vielfältiges und komplexes Bedeutungsspektrum. Ein Spektrum, das sich nicht zuletzt in den Praktiken und Regulierungen der Blutspende abzeichnet und seit rund vierzig Jahren strittig verhandelt wird.

Bluten - für wen?

von Kathrin Hagemann

Zahlreiche Menschen möchten freiwillig Blut spenden, doch viele dürfen es nicht. Dabei sind Ausschlüsse von der Blutspende nicht bloß "bedauerliche Ausnahmen".

"Krass, das hatte ich nicht erwartet. Ich darf eigentlich nicht spenden. Ich sollte wieder gehen. Wäre ja auch einfach, ich habe mich noch bei niemandem gemeldet, niemanden wird das stören. Aber ist meine Betroffenheit von den Kriterien nicht ziemlich marginal? Und 'Lebensgemeinschaft', was soll das heißen? Oben heißt es ja 'Partnerschaft', also muss das hier was anderes sein. Meinen die wirklich WG? Fuck, ich darf nicht spenden. Die wollen mich nicht. Die brauchen zwar unbedingt Leute, die spenden, 'Ihre Spende rettet Leben' und so, aber mich wollen sie dann doch lieber nicht.

Hemato-nationalism: The Past, Present, and Future of "Japanese Blood" (english)

von Jennifer Robertson

In Japan blood is less a criterion of membership in a natal family but much more a measure of indissoluble nationality. The compelling fiction of "pure blood" has been nurtured and sustained over a century by a multi-authored hemato-narrative.

In Japan citizenship is based on the principle of jus sanguinis. Naturalized citizenship is a possibility, but there is a tacit understanding at large that really real, or "pure," Japaneseness is qualified (and circumscribed) by "blood'' (chi, ketsu). Further, for many Japanese today, blood is understood in terms of blood type, which, despite its controversial serological history, prevails as a popular mode of horoscopy, match-making, and personality analysis.

Blood: Cute ...

Sittlichkeit, "Rassenmischung" und Emanzipation: Debatten der weißen Frauenbewegung im deutschen Kolonialismus

von Anette Dietrich

Im rassenhygienischen Diskurs zur Zeit des deutschen Kolonialismus wurden "Mischehen" und "Mischlinge" als Gefahr für den Bestand der Kolonien und die "Reinheit deutschen Bluts" betrachtet. Vertreterinnen der weißen bürgerlichen Frauenbewegung trugen diesen Diskurs maßgeblich mit. [1]

In der Zeit des deutschen Kolonialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts besaß das Bild der "starken weißen Frau" in der Ferne eine enorme Anziehungskraft - für kolonialistisch-nationalistisch organisierte Frauen bis hin zur radikalen Frauenbewegung. Frauenverbände verschiedener politischer Couleur unterstützten die Entwicklung des Deutschen Reiches zu einer Kolonialmacht und wollten sich an der Ausgestaltung der Kolonien und an der Kolonialpolitik beteiligen.

Zur Wirkungsmacht des Blutmythos

von Heribert Schiedel

In den allermeisten antisemitischen Stereotypen finden sich Bilder des "eigenen" und "fremden" Bluts - von der jüdischen "Blutschuld" am Tode Jesu Christi bis zur NS-Diktion der "Blutschande".

Die Leidenschaft, mit der bis heute in Österreich gegen das Schächten (rituelles Schlachten) gekämpft wird, verweist weniger auf die Tierliebe als auf die anhaltende Wirkungsmacht von Fantasien, die sich rund um das Blut gruppieren. Fast alle antisemitischen Stereotype hängen mit Bildern des (eigenen wie fremden) Bluts zusammen, die sich im Laufe der Zeit zu richtiggehenden Mythen verdichteten.

Das Blut zwischen Opfermythos und Befreiungsritual

von Elisabeth Priedl

Die Aktionskünstlerinnen der 1960er Jahre stellten die Geschlechterordnung vehement infrage. Den eigenen Körper und das Menstruationsblut erhoben sie dabei zum künstlerischen Material.

"Wir haben uns zur Befriedung der Menschheit entschlossen, drei (vier) Tage in das Gewölbe niederzusteigen. (Wo selbst wir uns einmauern lassen.) Drei Tage schrankenlose Enthemmung, Befreiung von aller Brunst, Transponierung derselben in Blech, Schrott, verwesenden Abfällen, Fleisch, Blut, Gerümpel usw., die ganze Materie des Kosmos wollen wir verwandeln.

P is for Period (english)

Interview with Lauren Rosewarne

Menstruation rarely gets a starring role on screen despite being experienced by most women for many decades of their lives. Written from a feminist perspective, Lauren Rosewarne's book, "Periods in Pop Culture: Menstruation in Film and Television" (2012), turns the spotlight on menstrual representations in contemporary media.

migrazine.at: What was the idea behind your book "Periods in Pop Culture: Menstruation in Film and Television", and why did you focus on the media?

Blut, "Samen" und Geschlecht

von Heinz-Jürgen Voß

Die Lehre von den Körperflüssigkeiten, die in der Antike und im arabischen Mittelalter entwickelt wurde, hatte in Europa weitreichende Geltung. Sie beeinflusste auch das Geschlechtermodell auf nachhaltige Weise.

Blut hat in vormodernen Texten auf andere Weise als in "modernen" Beschreibungen Bedeutung. Neben Schleim, gelber Galle und schwarzer Galle ist dort Blut einer der vier "Säfte", die den menschlichen Organismus ausmachen. Demnach sei das Verhältnis der Säfte zueinander für Gesundheit und Krankheit entscheidend. So galt beispielsweise der Aderlass, also die Abnahme von Blut, als ein Heilverfahren, das darauf abzielte, das Verhältnis der Säfte zueinander in Einklang zu bringen und derart die Gesundung des behandelten Menschen zu erreichen.

Crossover ^

Über die Grenzen der Kunst

von Barbara Rothmüller und Ruth Sonderegger

Partizipation an der Kunst- und Kulturproduktion ist mit Hürden verbunden - insbesondere für Migrant_innen. Dabei kommen soziale Ausschlussmechanismen nicht erst im Kunstfeld selbst zum Tragen. Sie beginnen bereits beim Zugang zu künstlerischen Bildungsinstitutionen.

Die österreichischen Kunstuniversitäten sind - theoretisch - offen für alle, die bei der Zulassungsprüfung zum Studium eine künstlerische Eignung nachweisen. Für die meisten Kunststudien ist formal nicht einmal eine Matura notwendig. Trotz dieser formalen Offenheit sind Studierende aus soziokulturell und ökonomisch unterprivilegierten Lebenslagen selten an Kunstuniversitäten anzutreffen: Wenn sie überhaupt an der Eignungsprüfung teilnehmen, sind ihre Chancen verhältnismäßig gering, die Hürde der Prüfung zu nehmen. Dafür sind meist unausgesprochene Ausschlussmechanismen verantwortlich.

Und es kamen Menschen

von Hengameh Yaghoobifarah

Jahrelang haben Imran Ayata und Bülent Kullukcu in Archiven nach der Musik der ersten "Gastarbeiter_innen"-Generation in Deutschland gegraben. Eine Auswahl dieser Lieder findet sich auf der aktuellen Kompilation "Songs of Gastarbeiter" - einer Mischung aus subtilem Aufruhr, sarkastischem Humor und berührender Sehnsucht.

Wir schreiben das Jahr 1961. Am Münchner Hauptbahnhof fährt ein Zug aus Istanbul ein. Die Wagons sind gefüllt mit Menschen, die seit fünf Tagen unterwegs und nun endlich am Ziel sind: Endstation Almanya.

50 Jahre Anwerbeabkommen Österreich–Türkei: Eine Geschichte in Zitaten

von Gamze Ongan und Vida Bakondy

Am 15. Mai 1964 wurde das Abkommen über die Anwerbung türkischer Arbeitskräfte und deren Beschäftigung in Österreich unterzeichnet. Eine Plakataktion zum fünfzigsten Jahrestag erinnert an die erste Generation der ArbeitsmigrantInnen im Land.

Wer weiß in Österreich heute noch, dass "Gastarbeiter" aus Spanien, der Türkei und Jugoslawien aktiv ins Land geholt wurden? Wer erinnert sich daran, dass Österreich den Wirtschaftsaufschwung in den 1960er und 1970er Jahren in beträchtlichem Ausmaß diesen "Gastarbeitern" verdankt? Und wer hat schon von Österreichs Angst gehört, die "Gastarbeiter" könnten sich für Deutschland oder die Schweiz entscheiden, weil diese Länder attraktivere Arbeitsbedingungen anboten?

Perspektiven aus dem Zwischenstock

Interview mit Galia Baeva

Das maiz-Pilotprojekt "Mezzanin" eröffnet jungen Migrant_innen berufliche Perspektiven im Kunst- und Kulturbereich. migracolor>zine.atcolor> sprach mit Projektleiterin Galia Baeva über die österreichische Bildungs- und Migrationspolitik und welche Berufsvorstellungen für Migrant_innen hierzulande gefördert werden.

migrazine.at: Welche Ziele verfolgt das Projekt "Mezzanin" von maiz?

Tschüss, Ethno-Label!

Interview mit Petra Grosinic und Veronica Lion

Migrantinnen werden in der Popmusik oft in Schubladen gedrängt, finden Veronica Lion vom pink noise Girls Rock Camp und Petra Grosinic vom DJane-Kollektiv Brunnhilde. Dem setzen sie selbstorganisierte Frauennetzwerke entgegen.

migrazine.at: In der aktuellen Ausgabe beschäftigt sich migrazine.at mit der Repräsentation von Migrant_innen in Kunst und Kultur. Wie geht ihr in euren jeweiligen Projekten, dem Girls Rock Camp und dem DJane-Kollektiv Brunnhilde, mit dieser Frage um?

Sich dem Glück in den Weg stellen

Interview mit Sara Ahmed

Die feministische Theoretikerin Sara Ahmed spricht im Interview über die Dynamiken affektiver Ökonomien, die rassialisierte Figur des_der Fremden und das ermächtigende Potenzial feministischer Killjoys.

Seit Mitte der 1990er-Jahre lässt sich ein steigendes Interesse an den Themen Emotion und Affekt innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften beobachten. Während Emotionen zuvor primär der Privatsphäre zugeordnet wurden, rückte nun die Wechselwirkung mit sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren in den Vordergrund. Aber der sogenannte affective turn übersieht oft ein wichtiges Vermächtnis: die Arbeiten von queeren, feministischen, postkolonialen und Schwarzen Theoretiker_innen und Aktivist_innen.

Im Jugendkulturrausch

von Tamara Tanasijević

Das Jugendmedienfestival YOUKI ist internationaler Treffpunkt von und für junge Menschen, die Kultur nach ihrem eigenen Verständnis machen. migrazinecolor>.at hat nachgefragt, welche Hürden dabei zu bewältigen sind und warum Wels als Austragungsort ein schwieriges Pflaster ist.

Als Österreichs größtes, internationales Jugendmedienfestival ist YOUKI aus dem Kulturleben von Wels nicht mehr wegzudenken. Seit 1999 bietet das popkulturelle Format seinem Publikum ein abwechslungsreiches Programm mit Workshops, Medienprojekten, Musikveranstaltungen und vielem mehr. Highlight des Festivals ist der internationale Filmwettbewerb, der jährlich rund achtzig Kurzfilme junger RegisseurInnen zwischen zehn und 26 Jahren präsentiert.

Getting in the Way of Happiness (english)

Interview mit Sara Ahmed

Feminist theorist Sara Ahmed talks about the racialised figure of the stranger, the empowering potential of the killjoy and the accusation of being "old-school".

Since the mid-1990s there has been a growing interest in emotions and affects within the humanities and social sciences. Emotions have moved from being regarded as a largely private matter to a sphere understood as interdependent with social, political and economic factors. But the so-called "affective turn" tends to forget an important legacy - the writing of queer, feminist, postcolonial, and Black theorists and activists.

"Es gibt viele Wege, bei uns anzudocken"

Interview mit Claus Pirschner

FM4 ist der bekannteste Jugendkultursender im deutschsprachigen Raum. Seit einigen Jahren bemüht sich das Jugendradio des ORF verstärkt um migrantische MitarbeiterIinnen in seinen Reihen. Claus Pirschner, Redakteur und "Diversity"-Koordinator bei FM4, sprach mit migracolor>zine.atcolor> über den Abbau von Zugangsschwellen und Akzente on air.

migrazine.at: Was ist deine Aufgabe als "Diversity"-Koordinator bei FM4?

Definitionsmacht enteignen!

von Jennifer Ndidi Iroh und Rafaela Siegenthaler

Wiederholt kritisieren Schwarze Aktivist_innen die Verwendung des rassistischen N-Worts und die diskriminierenden Praktiken des "Blackface". Die heftigen Gegenreaktionen auf diese Kritik zeigen, wie tief der Rassismus in der Gesellschaft verankert ist.

Warum muss bis heute immer wieder legitimiert werden, dass das N-Wort rassistisch ist? Wie kommt es, dass dieser Begriff trotz seiner gewaltvollen Dimension beharrlich verwendet wird - und das fast ausschließlich von Menschen, die sich in ihrem alltäglichen Leben nicht von Rassismus betroffen sehen? Wer besitzt die Definitionsmacht darüber, was ein gewaltvoller Sprachgebrauch ist?

"Man fragt nicht, man bezahlt nicht, man macht!"

Interview mit Carsten Janke und Martin Gegenheimer und Matze Jung

Seit 2009 widmet sich das Graffitiarchiv, Teil des Archivs der Jugendkulturen e.V. in Berlin, den Themen "Graffiti" und "Streetart" und vermittelt einen differenzierten Blick auf ihre vielfältigen Erscheinungsformen. Im Interview mit migrazine.at sprach das Archivteam über Graffiti/Streetart im Spannungsfeld zwischen kommerzialisierter Straßenkunst und dissidenter Praxis im öffentlichen Raum.

migrazine.at: Warum ein Graffitiarchiv?

2000 De/Kodieren

von Renée Winter

Eine subjektive Lektüre des Cultural-Studies-Pioniers Stuart Hall.

Am 10. Februar 2014 starb Stuart Hall, einer der Begründer der Cultural Studies, Soziologe und linker Kulturtheoretiker, der Texte zu so umfassenden Gebieten wie Medientheorie, Postkolonialismus und Rassismus, Repräsentationen, Identitäten und nicht zuletzt "Thatcherismus" publizierte. Hall gehörte zu jenen Autor_innen, deren Texte mich zu Beginn meines Studiums ansprachen, fesselten, Nägel kauen ließen, begeisterten und mein wissenschaftlich-theoretisches, politisches, aber auch musikalisches Tun und Denken wesentlich beeinflussten.

Mind the Trap!

von Azadeh Sharifi und Bahareh Sharifi

In Berlin leistet das Bündnis kritischer Kulturpraktiker*innen Entwicklungshilfe für den deutsch-deutschen Kulturbetrieb.

Berlin - ein Ort, an dem viele künstlerische und politische Diskurse angestoßen, weitergeführt und in Frage gestellt werden. Ein Ort, wo kleine Menschengruppen Großes bewirken können. Wie beispielsweise die protestierenden Geflüchteten am Oranienplatz, deren Widerstand für viele, ob Geflüchtete oder sich solidarisierende Menschen, ein ermächtigendes Vorbild ist. Allerdings ahnt mensch zuvor meistens nicht, dass Widerstandsmomente zu Widerstandswellen werden können.

In and Between (english)

Interview with Queering Yerevan

Queering Yerevan, a collective of artists and activists in the capital of Armenia, elaborates on "slant activism" and the idea of "egalitarian invisibility" in public spaces.

migrazine.at: What's the history of the Queering Yerevan collective?

Deutsch. Lieben. Lernen.

Interview mit Nikita Dhawan

Deutschunterricht für ZuwanderInnen zwischen Zwang und Befähigung: Wer hört zu, wenn MigrantInnen sprechen?

maiz, die Migrantinnen-Selbstorganisation für und von Migrantinnen, feiert dieses Jahr ihr zwanzigjähriges Jubiläum - ein idealer Anlass, um Wegbegleiterinnen von maiz zu Wort zu bitten. Zu ihnen zählt auch die indische Philosophin und Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan, die seit vielen Jahren maiz-Positionen mitgestaltet und unterstützt.