Ausgabe 2009/1

Wer die Wahl hat, hat das Wahlrecht

Wählen gilt als demokratisches Grundrecht und wichtigstes Mittel politischer Mitbestimmung. Doch wer kann hier eigentlich partizipieren? Unter welchen Bedingungen und in welcher Form? Im Themenschwerpunkt werden bestehende und mögliche Modelle von "Wählen" und "Wahlrecht" dargestellt — aus politikwissenschaftlicher, historischer und aktivistischer Perspektive. Wer bleiben will, soll bleiben können. Wer bleiben will, soll wählen können. Für ein Wahlrecht für alle!

Fokus ^

"Dienstboten, Katholiken, Juden, Frauen, AusländerInnen"

von Initiativkomitee Stimm- und Wahlrecht für Migrantinnen und Migranten

Im Schweizer Kanton Basel-Stadt fordert ein breites BürgerInnen-Bündnis das kantonale Wahlrecht für MigrantInnen. Im März dieses Jahres wurden mehrere tausend Unterschriften an die Kantonsregierung übergeben. Im Beitrag stellt die Basler Stimmrechtsinitiative ihre Forderungen vor.

Die "Basler Stimmrechtsinitiative" [1] wurde im September 2007 von einem Personenkomitee lanciert, dem VertreterInnen aus verschiedenen Parteien, Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften und aus der Kultur angehören. Die Initiative tritt dafür ein, dass MitbewohnerInnen mit Migrationshintergrund, welche die Niederlassungsbewilligung, die sogenannte C-Bewilligung, besitzen und mindestens fünf Jahre im Kanton leben, stimmen und wählen können. [2]

100 Prozent Gemeinderat

von Vina Yun

Parallel zur offiziellen Kommunalwahl am 7. Juni 2009 lud die Initiative "Freiburger Wahlkreis 100 %" Nicht-Wahlberechtigte zur Stimmabgabe ein.

Anfang Juni 2009: Neben den Europaratswahlen finden in Deutschlands südlichster Großstadt Freiburg Kommunalwahlen statt. Kurz darauf steht das Ergebnis für den Gemeinderat fest: Philip Bona, Präsident des Afrika-Rats in Freiburg, ist König der Stimmen.

"Österreich ist nicht interessiert"

Interview mit Gerd Valchars

Blickt man über Österreichs Grenzen hinaus, wird klar: Das Wahlrecht für MigrantInnen ohne den "richtigen" Pass ist keine Utopie.

In vielen Ländern kann ich nur dann wählen gehen oder für politische Ämter gewählt werden, wenn ich die StaatsbürgerInnenschaft des jeweiligen Landes besitze. Waren in der Geschichte StaatsbürgerInnenschaft und Wahlrecht schon immer aneinander gekoppelt?

Von "Inhabitants" und "Citizens"

von Sabine Mesicek

Wie hat sich das Wahlrecht in den klassischen Einwanderungsländern USA und Kanada entwickelt? Eine Geschichtsstunde zu den historischen Gesetzesgebungen in Nordamerika.

Die Vereinigten Staaten von Amerika waren von Anfang an eine Nation von EinwandererInnen. Zusammen mit Kanada galten die USA im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert als Fluchtstätten vor politischer Verfolgung, aber auch als "Traumländer", in denen man möglichst schnell möglichst viel erreichen konnte.

"A fascist answer to their voters" (english)

Interview with Leila Pereira Daianis

The following interview sheds some light on the new immigration law in Italy — which condemns every illegal immigrant to the condition of a "criminal" — as seen by the migrant transgender activist Leila Pereira Daianis.

Leila, could you please introduce yourself?

My name is Leila Pereira Daianis, I was born in Brazil 54 years ago, and my family is from Pernambuco, in the Brazilian Northeast. I graduated at the University of São Paulo (USP) in philosophy and language but I specialized in Greek Mythology and Theater.

"Uma resposta fascista aos seus eleitores" (português)

Entrevista com Leila Pereira Daianis

A entrevista seguinte comenta o impacto da nova lei de imigração na Itália — que condena o imigrante clandestino à condição de "criminoso", propagando o medo e a xenofobia - vista por uma imigrante ativista transexual que vive na Itália há trinta anos …

Leila, você poderia se apresentar?

Eu me chamo Leila Pereira Daianis, nasci no Brasil 54 há anos, e a minha família é toda de Pernambuco, Nordeste Brasileiro. Formei-me na Universidade de São Paulo — USP, em Filosofia e Letras, mas me especializei em Mitologia Grega e Teatro.

Bleibe- und Bewegungsrecht für alle, jetzt und da!

von Radostina Patulova

Die Straßenbahn als Ort der öffentlichen Intervention: ein Rückblick auf eine antirassistische Aktion zum Bleiberechtstag 2008 in Linz.

Im vorigen Jahr haben migrantische Selbstorganisationen, Menschenrechts- und Hilfsorganisationen in Österreich gemeinsam eine breite Plattform gebildet, um den 10. Oktober als "Tag des Bleiberechts" auszurufen. Viele unterschiedliche Initiativen und AktivistInnen gingen mit Aktionen an die Öffentlichkeit, das österreichweit initiierte "Sesselmeer" gewann sogar eine beachtliche mediale Aufmerksamkeit.

Crossover ^

Am Anfang war Eldorado

von Aileen Dierig

15 Jahre maiz. Und kein Ende in Sicht — allen Widrigkeiten zum Trotz.

Am 30. Oktober 2009 feiert maiz 15 Jahre und unsere zugrunde liegenden Überzeugungen sind nach wie vor ungebrochen. Auf den ersten Blick gibt es vielleicht nicht gerade viel zu feiern: So wie viele anderen Kulturvereine ist auch maiz weitgehend von "Projekten" abhängig, um den Betrieb aufrecht zu erhalten, ein Umstand, der unglaublich viel Zeit und Energie auffrisst und wenig bis gar keine Sicherheit bringt.

Bombing the system

von Gudrun Rath

In Mexiko und Argentinien haben sich Graffiti und Street Art zu unübersehbaren Mitteln des sozialen Protests gewandelt.

"Bomitando el sistema" lautet ein Schriftzug über einer gekrümmten Figur, die "das System erbricht". Dieses Graffiti-Bild aus dem südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca ist nur eines von vielen Beispielen des "bombing" durch Graffiti und Street Art, mit dem "das System" im Zuge der massiven sozialen Proteste der letzten Jahre besprüht wird.

"People of Color" als solidarisches Bündnis

von Kien Nghi Ha

Empowerment und selbst-reflexive Identitätspolitik: Wie können Marginalisierte — individuell wie auch als Community — für sich selbst sprechen und eigene Zugehörigkeitsformen definieren?

Der "People of Color"-Begriff entstammt der Selbstbenennungspraxis rassistisch unterdrückter Menschen. Er wurde im Laufe der 1960er Jahre durch die "Black Power"-Bewegung in den USA als politischer Begriff geprägt, um die Gemeinsamkeiten zwischen Communitys mit unterschiedlichen kulturellen und historischen Hintergründen zu benennen. Dadurch sollte eine solidarische Perspektive quer zu den rassistischen Einteilungen in unterschiedliche Ethnien und "Rassen" eröffnet werden, die antirassistische Allianzen befördert.

Black Conscience in Brazil (english)

Interview with Wilson Honório da Silva

Gay and Black rights activist Wilson Honório da Silva reflects on the Black Movement and its history in Brazil.

Please introduce yourself and tell us something about the organizations in which you are active.

I was born in the suburbs of São Paulo in 1964, but my family moved when I was very young to the area of the ABC Paulista, where I grew up. There, in the cradle of the workers' union movements and with leaders such as Lula, in the late 1970s, I came into contact with political militancy, including the Black movement, which was then starting to get organized in the fight against the military dictatorship.

Bombing the system (español)

von Gudrun Rath

En México y en Argentina el graffiti y el arte callejero se han convertido en medios de protesta social altamente visibles.

"Bomitando el sistema" está escrito sobre una figura que se retuerce y vomita. El graffiti, proveniente de un estado del sur de México, Oaxaca, es solo uno de innumerables ejemplos del "bombing" a través de graffiti y arte callejero, con el que se ha manchado "el sistema" en el curso de las protestas sociales de los últimos años.

Consciência Negra no Brasil (português)

Entrevista com Wilson Honório da Silva

Ativista dos negros e dos gays Wilson Honório da Silva reflete sobre o Movimento Negro no Brasil.

Desde quando você participa e como e a sua participação?

Nasci na periferia de São Paulo, em 1964, mas minha família mudou-se quando eu era muito novo para o ABC Paulista, onde cresci. Lá, berço do movimento sindical e de lideranças como Lula, no final dos anos 1970, entrei em contato com a militância política, inclusive o movimento negro, que estava se reorganizando, na luta contra a Ditadura Militar.

Kritik des Antiziganismus

Interview mit Kathrin Herold und Markus End und Yvonne Robel

Ein im Mai erschienener Sammelband will zu einer breiteren und differenzierteren Diskussion des Antiziganismus beitragen, der in Europa derzeit einen erneuten Aufschwung erlebt. Katharina Morawek sprach mit den Buch-HerausgeberInnen Markus End, Kathrin Herold und Yvonne Robel.

Im Ankündigungstext eures Buches beschreibt ihr das Phänomen des Antiziganismus als eine in westlichen Gesellschaften tief verankerte Praxis der Diskriminierung und Verfolgung, gleichzeitig fehlen politische und theoretische Analysen des Antiziganismus, aber auch das Bewusstsein etwa über die Geschichte des Wortes "Zigeuner". Wie kommt es zu diesen blinden Flecken, und wie würdet ihr in diesem Zusammenhang den gesellschaftspolitischen Anspruch formulieren, den ihr mit eurem Buch verfolgt?

Antiziganismus scheint so selbstverständlich zu sein, dass es nicht einmal notwendig ist, darüber zu kommunizieren. Häufig hören wir Kommentare wie "Gibt's das überhaupt noch?" oder "Ist das denn wirklich ein Problem?". Deswegen war unser Hauptanliegen, auf die Spezifik des Antiziganismus in Abgrenzung zu anderen Ressentiments hinzuweisen, um sowohl der mehr als 500-jährigen historischen Entwicklungsgeschichte als auch den spezifischen strukturellen Verwobenheiten mit den widersprüchlichen Grundformen der modernen Vergesellschaftung Rechnung zu tragen. Es war uns wichtig, den – auch in linken Debatten — fehlenden Begriff des Antiziganismus zu stärken. Die Bandbreite antiziganistischer Praxen reicht von offener Verfolgung inklusive tödlicher Gewalt bis hin zu einem sprachlich verfassten, bildlich verfestigten und strukturell verankerten Fortschreiben kulturell vermittelter stereotyper Denkmuster und Bilder. Diesen "Besonderheiten" haben wir versucht Rechnung zu tragen, indem wir im Sammelband theoretische Deutungsansätze mit Einzelfallanalysen vereinen.

Ihr beschreibt, wie auch eine linke Kritik an Antiziganismus oft nicht über eine moralische Empörung hinausgeht und es nicht selten zu einem antiziganistischen Schreiben "über Roma" kommt. Inwiefern setzt ihr diesen Zuständen des stellvertretenden Sprechens über Marginalisierte mit eurem Buch etwas entgegen?

In linken Diskursen findet sich häufig noch ein positiver Bezug auf vermeintlich "zigeunerische" Eigenschaften, der an die so genannte "Zigeunerromantik" des späten 19. Jahrhunderts anknüpft und eine verkürzte Kritik der bürgerlichen Gesellschaft transportiert. Wir versuchen konsequent, über die Mehrheitsgesellschaft statt über Roma zu schreiben. Damit tragen wir der Einsicht Rechnung, dass dort auch die Ursachen für Antiziganismus zu suchen sind. "Zigeuner"-Bilder sind Projektionen und dienen als Gegenbilder stets auch der Konstitution und Abgrenzung von Wir-Gruppen-Identitäten. Als solche tragen sie letztlich auch zur Konstruktion von Geschlechterverhältnissen sowie zur Standortbestimmung von kapitalistischer Lohnarbeit und Nationalstaatlichkeit bei. Gleichzeitig versuchen wir als Nicht-Roma soweit es möglich und gewünscht ist, mit Roma-Organisationen zusammen zu arbeiten.

Wie beurteilt ihr die derzeitige Konjunktur rassistischer Gewalt gegen Roma und Sinti in Europa? Wie ist dieser Anstieg zu analysieren und zu verstehen?

Es scheint tatsächlich seit dem Ende der Sowjetunion mit dem Erstarken des Nationalismus und rechter Bewegungen eine neue Konjunktur antiziganistischer Gewalt zu geben. Der Beginn dieser Entwicklung ist allerdings eher in den 1990er Jahren (Rostock-Lichtenhagen und Oberwart können als die prägnantesten Beispiele gelten) als in den letzten Jahren zu suchen. Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass ein Teil dieses Anstiegs auch dem überhaupt erst in den letzten zwanzig Jahren etablierten Augenmerk für Antiziganismus geschuldet sein kann. Ein weiterer Aspekt ist sicherlich, dass Roma seit jeher eine der Gruppen waren, die in Konflikt- und Krisenphasen als erste von Gewalt betroffen waren.

Wie und auf welchen Ebenen (zum Beispiel bild-/repräsentationspolitisch oder realpolitisch) formiert sich Widerstand dagegen?

Der Widerstand wird zuallererst von den Betroffenen selbst formuliert und getragen. Seit den späten 1970er Jahren gibt es Roma-, Sinti- oder Jenischen-Organisationen, die auf antiziganistische Diskriminierung aufmerksam machen und – speziell in Deutschland – Aufklärung über den NS-Völkermord leisten. Europäische Roma-Netzwerke kämpfen gegen Armut und soziale Ausgrenzung und um Anerkennung als bedrohte Minderheit. Widerstand etabliert sich jedoch, wie etwa die Beiträge zu Italien oder zur deutschen Abschiebepolitik zeigen, nach wie vor zumeist als Reaktion auf realpolitische "sichtbare" Antiziganismen. Häufig agiert auch ein solcher Widerstand unter Rückgriff auf stereotype Darstellungen. Versuche, den eingeschriebenen Denk- und Wahrnehmungsmustern entgegenzuwirken, stehen leider noch am Anfang.


Interview: Katharina Morawek

Erstmals erschienen in: "MALMOE", Nr. 46, 2009.

Literaturtipp:
Markus End, Kathrin Herold, Yvonne Robel (Hg.Innen): Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Unrast Verlag: Münster 2009.

RebellInnen im Omnibus

von Saskya Rudigier

Bis Anfang Oktober erkundeten drei Bustouren in Linz verborgene Geschichten. Eine Passagierin berichtet.

"Geboren wurde ich am 16.09.1920. (…) 25 Jahre war ich Fabrikarbeiterin, zehn Jahre Betriebsrätin. Aber geraucht habe ich nie!", erzählt Leopoldine Feichtinger von ihrer Arbeit in der Austria Tabakfabrik. Die "Tschickbude" wurde 2001 unter der Schüssel-Regierung vollständig privatisiert und gehört seit 2007 JT International. Trotz Protest wird Ende 2009 der Betrieb nach 160 Jahren eingestellt. Einer der Gründe für diese Entscheidung: Weil der Bau denkmalgeschützt ist, wird die Produktion in das modernisierte Werk nach Hainburg verlagert. 275 ArbeiterInnen sind davon in Linz betroffen.

Living outside … and inside? (english)

von Thais Palermo Butti

An almost-interview with Thais Palermo Butti, a Brazilian immigrant woman, living in Italy in a very particular situation, who has been touched by a reality she always though to be far, far away …

When migraZine's editorial team wrote me asking if I was interested in being interviewed about the situation of immigration in Italy after the adoption of the new law regarding clandestine immigration, I answered giving my complete availability to do the interview, but pointing out the fact that I did not consider myself to be the most appropriate person to talk about the subject.

Viver de fora … e dentro? (português)

von Thais Palermo Butti

Desabafo de uma imigrante brasileira que vive na Itália em uma situação muito específica, mas que de repente se viu tocada por uma realidade que sempre acreditou estar muito distante …

Quando a redação do migraZine me escreveu perguntando-me se tinha interesse em ser entrevistada sobre a situação da imigração na Itália, depois da aprovação da lei que criou o reato de imigração clandestina, respondi dando a minha completa disponibilidade a fazer a entrevista, mas ressaltando que não me considerava a pessoa mais adequada a tratar do assunto.