fokus

"Österreich ist nicht interessiert"

share on facebookprint/drucken
Interview mit Gerd Valchars

In vielen Ländern kann ich nur dann wählen gehen oder für politische Ämter gewählt werden, wenn ich die StaatsbürgerInnenschaft des jeweiligen Landes besitze. Waren in der Geschichte StaatsbürgerInnenschaft und Wahlrecht schon immer aneinander gekoppelt?

Es gibt sowohl historische als auch Beispiele aus anderen Staaten, wo das aktive und passive Wahlrecht auch Nicht-StaatsbürgerInnen offen stand und steht. Eines der prominentesten historischen Beispiele sind die USA, wo das aktive Wahlrecht für die Wahl des Präsidenten bzw. der Präsidentin in manchen Bundesstaaten an den Wohnsitz und nicht an die Staatsangehörigkeit geknüpft war.

Zwei andere Beispiele sind Kanada und Australien, die BürgerInnen aus Commonwealth-Staaten bzw. britischen BürgerInnen das nationale Wahlrecht gewährten. Beide Regelungen sind heute nicht mehr in Kraft und sind nur vor dem Hintergrund der kolonialen historischen Verknüpfungen dieser Staaten untereinander zu verstehen. Für Großbritannien gilt heute noch, dass BürgerInnen aus Irland und den Commonwealth-Staaten mit Wohnsitz im Land aktiv und passiv auf allen Ebenen wahlberechtigt sind. Die heute gültige Regelung besteht seit 1972, denn ursprünglich standen BürgerInnen aus den britischen "Überseegebieten" deutlich mehr Rechte zu, allen voran das Recht auf Einwanderung und Aufenthalt in Großbritannien. Um jedoch eine Zunahme der Migration aus den ehemaligen Kolonien zu verhindern, wurden ihnen bis 1981 sukzessive die mit diesem Status verbundenen Rechte entzogen — einzig des Wahlrecht blieb.

Um welche Art von Wahlrecht geht es dabei?

Bei bestehenden inklusiven Wahlrechtsregelungen muss man vor allem nach ihrer institutionellen und personellen Reichweite fragen. Gemeint ist damit, für welche Wahlen das jeweils gewährte Wahlrecht gilt und welche Personengruppe davon betroffen ist. Auch Regelungen, die ausländischen Staatsangehörigen das Wahlrecht verleihen, inkludieren diese in der Regel nicht per se und im vollen Umfang in die Wahlrechtsordnung. Das Recht zu wählen ist vielmehr im Vergleich zu den Staatsangehörigen auf unterschiedliche Weise eingeschränkt. Wenn inklusive Wahlrechtsregelungen überhaupt bestehen, sind sie in den allermeisten Fällen lediglich partiell und partikulär.

Prinzipiell gibt es drei Möglichkeiten, das Wahlrecht zu beschränken: Zunächst einmal jene auf nur bestimmte (und in der Regel untere) staatliche Ebenen, politische Ämter oder gesetzlich eingerichtete Interessenvertretungen. Eine andere Möglichkeit ist, das Wahlrecht auf eine bestimmte, aufgrund ihrer Herkunft privilegierte ausländische Bevölkerungsgruppe einzuschränken. Das ist beim schon erwähnten Beispiel Großbritannien, aber auch in Portugal der Fall, wo z.B. neben Staatsangehörigen auch BürgerInnen aus Brasilien zu den Parlamentswahlen zugelassen sind. Das kommunale Wahlrecht für EU-BürgerInnen in den Mitgliedstaaten der EU kann als Beispiel sowohl für die Beschränkung auf eine bestimmte Ebene als auch auf eine bestimmte privilegierte Personengruppe genannt werden. Schließlich gibt es die dritte Möglichkeit, nämlich die Einschränkung auf das aktive Wahlrecht, also das Recht zu wählen, nicht aber, auch selbst zu kandidieren und gewählt zu werden.

2004 hat der österreichische Verfassungsgerichtshof die geplante Einführung des aktiven und passiven "Ausländerwahlrechts" auf Wiener Bezirksebene aufgehoben. Warum ist es in Österreich so schwierig, ein Wahlrecht für MigrantInnen durchzusetzen?

Der Verfassungsgerichtshof hob in seinem Urteil 2004 die vom Wiener Landtag 2002 beschlossene Ausweitung des Bezirkswahlrechts auf Drittstaatsangehörige als verfassungswidrig auf. Skurrilerweise sah der Verfassungsgerichtshof die Ausweitung des Wahlrechts im Widerspruch zum demokratischen Grundprinzip der österreichischen Bundesverfassung. "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus", lautet Artikel 1 B-VG. Der Begriff "Volk", so der Gerichtshof, knüpfe dabei an die österreichische Staatsbürgerschaft an.

Die Ausweitung des Wahlrechts auf Nicht-StaatsbürgerInnen (auch auf Bezirksebene) kann damit ausschließlich durch eine Verfassungsänderung im Nationalrat erfolgen. Interessanterweise ignoriert der österreichische Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil damit völlig, dass auf Bezirks- und außerhalb Wiens auch auf Gemeindeebene auch EU-BürgerInnen wahlberechtigt sind und damit das Wahlrecht eben nicht ausschließlich an die Staatsangehörigkeit knüpft.

Politisch besteht in Österreich derzeit schlichtweg kein Interesse an Einführung eines Wahlrechts für Nicht-StaatsbürgerInnen, egal auf welcher Ebene. Vereinzelt gibt es zwar Bemühungen wie den Versuch in Wien durch die Wiener SPÖ und die Grünen oder den Vorstoß in Graz durch einen gemeinsamen Antrag im Gemeinderat von ÖVP, SPÖ, KPÖ und Grünen auf Verfassungsänderung, um den Bundesländern die Einführung eines inklusiven Wahlrechts zu ermöglichen. Parallel zum Antrag wurde ein konkreter Vorschlag der Grazer ÖVP präsentiert, der — verkürzt — ein Wahlrecht für MigrantInnen auf Gemeindeebene nach fünf Jahren Aufenthalt vorsah.

Der Bundesgesetzgeber hat die Anregung des Grazer Gemeinderats freilich ignoriert, und auch vom Grazer ÖVP-Modell hat man schon lange nichts mehr gehört. Bis auf FPÖ und BZÖ bestehen somit in allen bundespolitisch relevanten Parteien Initiativen für ein Wahlrecht, die jedoch bei VP und SP eher marginalisierte Positionen darstellen.

Eine Ausweitung des Wahlrechts ist einfach nicht Thema – ganz im Gegenteil. Die Bemühungen in diesem Kontext gehen ja deutlich in Richtung immer repressiverer Regelungen, wie sich anhand der Änderungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes 2005 und der nahezu laufenden Verschärfungen im so genannten Fremden- und im Asylrecht zeigt.

Sie haben Großbritannien und Portugal schon als Beispiele erwähnt. Können Sie weitere Länder nennen, in denen das Recht zu wählen und der Besitz der jeweiligen StaatsbürgerInnenschaft unabhängig voneinander existiert?

Irland war 1963 das erste Land in Europa, das allen ausländischen Staatsangehörigen im Land, unabhängig von ihrer Herkunft, das Wahlrecht auf kommunaler Ebene gewährte. In den 1970er und -80er Jahren folgten die skandinavischen Staaten Schweden, Dänemark und Norwegen sowie die Niederlande, weitere Länder zogen nach.
Abgesehen vom Kommunalwahlrecht für EU-BürgerInnen, das für alle Staaten der Union gilt, räumen heute immerhin 14 europäische Staaten MigrantInnen auch ohne EU-Pass ein Wahlrecht auf lokaler Ebene ein. Weltweit sind es sogar 45 Demokratien, in denen Nicht-Staatsangehörige bei lokalen, regionalen oder nationalen Wahlgängen stimmberechtigt sind.

Teilweise sind das sehr enge Regelungen, die nur auf bestimmten Ebenen, nur in einzelnen Bundesstaaten oder nur für MigrantInnen aus bestimmten Herkunftsländern gelten. Aber auch Länder wie Neuseeland, Malawi, Chile oder Uruguay fallen darunter, die MigrantInnen unabhängig von ihrer Herkunft selbst an nationalen Parlamentswahlen beteiligen — in Neuseeland sogar schon nach einem Aufenthalt von nur einem Jahr. Ein vom Besitz der nationalen Staatsangehörigkeit abgekoppeltes Wahlrecht ist also keine Utopie.

Seit den 1990er Jahren wird in der politikwissenschaftlichen Forschung das Konzept der WohnbürgerInnenschaft diskutiert. Was bedeutet "WohnbürgerInnenschaft"?

Der Begriff "Denizen" wurde von Tomas Hammar 1990 in die wissenschaftliche Debatte eingebracht, in Österreich hat vor allem Rainer Bauböck versucht, den Begriff zu etablieren. Die "Denizenship", ins Deutsche oft als "WohnbürgerInnenschaft" übersetzt, beschreibt eine rechtliche Zwischenstellung zwischen dem mit vollen Rechten ausgestatteten Status der Staatsangehörigen und dem nur sehr schwachen Status erst kürzlich Zugewanderter.

Der Begriff hat dabei sowohl deskriptiven als auch normativen Charakter: Er beschreibt einerseits eine beobachtbare Realität, nämlich dass MigrantInnen mit zunehmender Aufenthaltsdauer in der Regel eine höhere sozial- und aufenthaltsrechtliche Absicherung erfahren und in Teilbereichen den Staatsangehörigen gleichgestellt werden – oder zumindest besser gestellt sind als MigrantInnen mit erst kurzer Aufenthaltsdauer. Andererseits beinhaltet "Denizenship" meistens aber auch eine normative Dimension: In der Regel ist mit dem Begriff auch die Forderung verbunden, den rechtlichen Status von nicht oder noch nicht eingebürgerten MigrantInnen aufzuwerten und neben einer aufenthalts- und sozialrechtlichen Stärkung z.B. eben auch das Wahlrecht zu ermöglichen.

In der EU leben schätzungsweise 18,5 Millionen Drittstaatsangehörige, die keinen Zugang zu nationalen und EU-weiten Wahlen haben. Gleichzeitig spricht die EU immer wieder von ihren Grundsätzen der demokratischen Gleichheit, der repräsentativen Demokratie und der partizipativen Demokratie, also der Mitbestimmung der BürgerInnen. Wäre ein Wahlrecht für Drittstaatsangehörige nicht auch eine antidiskriminatorische Praxis, die sie auch zu "BürgerInnen" machen würde?

Wenn im Zusammenhang mit der Europäischen Union von "mehr Demokratie" gesprochen wird, ist meistens von einer Verlagerung der Entscheidungen hin zum Europäischen Parlament, einer direkten Wahl eines Präsidenten/einer Präsidentin oder einem europaweiten Referendum zu bestimmten Sachthemen die Rede. Gemeint ist also in der Regel die qualitative Dimension der demokratischen Entscheidungen. Die quantitative Dimension, also die Frage, wer überhaupt bei den bestehenden demokratischen Entscheidungen mitsprechen darf, bleibt meistens unberücksichtigt.

Von "Bürgerschaft" wiederum hört man im Zusammenhang mit der Europäischen Union meistens nur in einem sehr emotionalisierten Kontext. Da werden dann Forderungen nach einer "europäischen Identität", nach "Identifikation" und einem "Europa-Bewusstsein" bis hin zu einem europäischen Patriotismus laut, die durch Staatssymbolik wie Flagge und Hymne, Europatag und einem als "Verfassung" bezeichneten Vertrag erzeugt und heraufbeschworen werden sollen.

Die Forderung nach einem Wahlrecht zum Europäischen Parlament für Drittstaatsangehörige ist sehr alt. Neben NGOs war es immerhin das Europäische Parlament selbst, das bei der Einführung der Unionsbürgerschaft verlangte, dass die strenge Verknüpfung der europäischen Unionsbürgerschaft mit dem Besitz der nationalen Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedsstaates nur eine vorübergehende Lösung sein sollte und in Zukunft der Erwerb der Unionsbürgerschaft — und damit eben auch das Wahlrecht zum Europäischen Parlament — Drittstaatsangehörigen nach einer bestimmten Aufenthaltszeit zustehen sollte. Diese Forderung wurde allerdings vom Rat und den Mitgliedstaaten nie aufgegriffen. Das Wahlrecht für Drittstaatsangehörige zum Europäischen Parlament stand nie ernsthaft auf der europäischen politischen Agenda.


Interviewfragen: Vina Yun

Gerd ValcharsGeb. 1978, Politikwissenschafter in Wien. Diplomstudium Politikwissenschaft an der Universität Wien, Doktoratsstudium Politikwissenschaft in Wien und Toronto, Lehrtätigkeit am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien, bis 2009 DOC-team-Stipendiat und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für europäische Integrationsforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: österreichische Regimelehre, Citizenship und Migrationsforschung. Homepage Gerd Valchars Monographien und Artikel zum Thema (Auswahl): Defizitäre Demokratie. Staatsbürgerschaft und Wahlrecht im Einwanderungsland Österreich. In: Anton Pelinka/Ilse König (Hg.): Studienreihe Konfliktforschung. Band 18. Wien: Braumüller 2006. Über freiwillige und unfreiwillige politische Enthaltsamkeit. In: europa-digital.de, 24. Mai 2009. (Gemeinsam mit Tamara Ehs.) In Englisch erschienen unter: Voluntary and involuntary political abstinence. In: "SHIFT Mag. Europe talks to Brussel", Nr. 10/2009, S. 22–23. Demos statt Ethnos. Plädoyer für ein EU-Volk jenseits des Homo Europaeus. In: "Blätter für deutsche und internationale Politik", 4/2009, S. 85–91. (Gemeinsam mit Tamara Ehs.) Wahlrechte von Nicht-StaatsbürgerInnen in Österreich. In: Heinz Fassmann (Hg.): 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2001–2006: Rechtliche Rahmenbedingungen, demographische Entwicklungen, sozioökonomische Strukturen. Klagenfurt/Celovec: Drava 2007, S. 127–130. Weil Staaten keine Klubs sind. Über die Allokation von Mitgliedschaft und politischen Beteiligungsrechten. In: Sylvia Köchl/Radostina Patulova/Vina Yun (Hg.innen): fields of Transfer. MigrantInnen in der Kulturarbeit. Wien: IG Kultur Österreich 2007, S. 106–108.