Die Blutspende als sozialer Vertrag
Im Februar 2014 brach eine öffentliche Diskussion aus, als eine Ärztin des Oberösterreichischen Roten Kreuzes eine Blutspendenaktion der Islamischen Religionsgemeinschaft Linz ablehnte. Ihre Begründung: Menschen "muslimischer" oder "türkischer Herkunft" kämen aus "medizinischen Gründen" für eine Blutspende prinzipiell nicht in Frage. [1] Nachdem der Fall in die Medien gekommen war, entschuldigte sich das Rote Kreuz und stellte klar, dass Menschen mit Migrationshintergrund als Blutspender_innen "jederzeit herzlich willkommen" seien. [2] Alles lediglich ein Missverständnis, bekundete auch die Leiterin der Blutzentrale Wien. [3] Laut Christian Gabriel jedoch, Leiter der Blutzentrale Linz, ziehe sich das Rote Kreuz bewusst aus der Zusammenarbeit mit "Kulturvereinen" zurück. Viele Kooperationen seien in der Vergangenheit "schiefgelaufen", weil die Hepatitis-B-Prävalenz dieser Spenden bis zu vierzig Prozent betragen habe. [4]
Verlorenes Vertrauen
Die Angst vor "kontaminiertem" Blut ist wesentlich von den Entwicklungen der 1980er Jahre geprägt: Damals markierten die Entdeckung des HI-Virus und seine rasche Ausbreitung einen radikalen Bruch innerhalb des globalen Blutspendesystems. Nicht nur wurden die bisherigen Methoden der Blutspende reorganisiert, auch die Konzeptualisierung der Blutspende an sich erfuhr einen Wandel. Schließlich führte die sogenannte "AIDS-Krise" zu einer grundlegenden Transformation von Blutspendeorganisationen zu Risikomanagement-Institutionen. [5] Von dieser Krise sollte sich das Blutspendesystem nie wieder erholen - das Vertrauen war nachhaltig erschüttert. [6]
Dem verlorenen Glauben versuchen seitdem viele Einrichtungen mit einer "Zero Risk"-Politik entgegenzuwirken, die oft ganze Bevölkerungsgruppen per se von der Blutspende ausschließt. In Österreich und Deutschland betrifft diese Politik u. a. Männer, die Sex mit Männern haben (MSM). Ein umstrittener Ausschluss, gegen den sich zahlreiche Initiativen seit Jahren einsetzen. Dauerhaft verweigert wird die Blutspende in den beiden Ländern auch (ehemaligen) Sexarbeiter_innen und Drogenabhängigen.
Von der "Risikogruppe" zum "Risikoverhalten"
Kritiker_innen plädieren dafür, nicht mehr in der Kategorie der "Risikogruppe" zu denken, sondern von "Risikoverhalten" zu sprechen. Ein Umdenken, das den Blick auf individuelles Verhalten lenken soll, anstatt ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht zu stellen. Auch wenn das HIV-Infektionsrisiko bei MSM höher ist als bei heterosexuell lebenden Personen - von einer "schwulen Krankheit" kann keine Rede sein, steigt doch das Risiko einer Ansteckung bei ungeschütztem (Anal-)Verkehr um ein vielfaches, unabhängig von der sexuellen Orientierung. Darüber hinaus haben neue Technologien wie der PCR-Test die Fensterzeit - also jener Zeitrahmen, in dem der HI-Virus nicht im Blut nachweisbar ist - von zwölf auf unter zwei Wochen reduziert.
Die Gesetzgebung und die Einstellung zahlreicher Institutionen scheinen jedoch dieser Realität weit hinterherzuhinken. Denn bis heute sind alle Männer, die seit 1977 (!) Sex mit einem Mann hatten, in Deutschland und Österreich lebenslang von der Blutspende ausgeschlossen. Während immer mehr Länder ihre Regulierungen überdenken - in Großbritannien dürfen MSM ein Jahr lang keinen sexuellen Kontakt zu Männern gehabt haben, in Südafrika beträgt der Zeitraum ein halbes Jahr -, scheint eine Änderung hierzulande nicht in Sicht. In Deutschland wird seit einigen Jahren öffentlich über die Sinnhaftigkeit eines generellen Ausschlusses von MSM diskutiert, bislang jedoch ohne konkrete Änderung der Bestimmungen.
"Böses" Blut
Die Angst vor der Übertragung von HIV führt aber nicht nur zu Ausschlüssen entlang der Kategorie Sexualität, sondern auch entlang von Race/Ethnicity-Markern. So wurde etwa in Israel die Blutspende der Parlamentsabgeordneten Pnina Tamano-Shata im Dezember 2013 abgelehnt, weil sie bis zu ihrem dritten Lebensjahr in Äthiopien gelebt hatte. Das Thema ist nicht neu - bereits vor 16 Jahren gab es in Jerusalem Massenproteste, als bekannt wurde, dass Blutspenden von "Afrikaner_innen" direkt im Müll landeten. Ganz ähnlich wurde in Südafrika verfahren: 2005 stellte sich heraus, dass das Blut von Schwarzen Personen jahrelang aus "Sicherheitsgründen" umgehend vernichtet wurde.
Begründet werden solche Vorgehensweisen mit Fakten und Statistiken. Es stimmt zwar, dass Äthiopien zu einem der Länder mit der höchsten HIV-Rate gehört, und tatsächlich ist aufgrund der Geschichte Südafrikas die dortige Schwarze Bevölkerung wesentlich stärker vom HI-Virus betroffen als andere Bevölkerungsgruppen. Aber es ist wohl kein Zufall, dass diese Ausschlüsse wiederholt Personengruppen betreffen, die aufgrund struktureller Ungleichheiten ohnehin marginalisiert sind. Ein kritischer Blick auf die Ausschlüsse von der Blutspende macht schnell deutlich, dass es bei der Blutspende um wesentlich mehr geht als um die Weitergabe von Zellmaterial.
Aus Liebe zum Menschen
Die (Un-)Möglichkeit des Blutspendens hat für viele Menschen eine große politische und kulturelle Bedeutung, da die Spende eng mit Konzepten von Zugehörigkeit und der Teilhabe an gesellschaftlichen Praktiken verbunden ist. Das politische Moment der Blutspende erklärt sich nicht zuletzt durch die Geschichte der Blutbanken, die in der Zwischenkriegszeit eingerichtet wurden. Viele Methoden der Spende, Untersuchung und Aufbewahrung von Blut wurden während des Zweiten Weltkriegs in den USA und in Großbritannien weiterentwickelt. Es war dieser Kontext, der die Blutspende mit Ideen von Demokratie, Beteiligung (am Krieg) und Antifaschismus verknüpfte. [7] Wie Douglas Starr in seinem Standardwerk "Blood: An Epic History of Medicine and Commerce" (1998) eindrücklich beschreibt, symbolisierte die Blutspende somit einen neuen Gesellschaftsvertrag.
Die Macht dieses Vertrags trat zuletzt in den Tagen nach 9/11 in Erscheinung. Die Angriffe auf das World Trade Center lösten einen regelrechten Ansturm auf die Blutspendeeinrichtungen in den USA aus. Angetrieben von den medialen Appellen an die Bevölkerung, die sich schon bald verselbstständigten, übernachteten Menschen massenweise vor den Blutspendezentralen - sie alle wollten spenden, selbst als schon längst ausreichend Blutkonserven zur Verfügung standen. Eine Dynamik, die laut den australischen Wissenschaftler_innen Catherine Waldby und Robert Mitchell die enge Verbindung von Blut(-spende) mit der emotional aufgeladenen Vorstellung von Nation, Zugehörigkeit und Gemeinschaft aufzeigt. Dabei wirke die Blutspende in zwei Richtungen: Sie impliziere ein Geben, durch das sich das gebende Individuum wiederum neu erschafft. Ähnlich formuliert es der britische Sozialwissenschaftler Richard Titmuss [8], der von einem "kreativen Altruismus" spricht: Blutspender_innen würden meist als fürsorglicher, mitfühlender und großzügiger als andere Menschen gesehen.
Die Blutspende verweist somit auf soziale Verantwortung und Vertrauen gegenüber der Gesellschaft, sie ermöglicht und bestätigt die Mitgliedschaft in einem Kollektiv. Mit Sprüchen wie "Leben retten liegt mir im Blut" oder "Aus Liebe zum Menschen" bedient sich nicht zuletzt das Rote Kreuz dieses altruistischen Diskurses.
Ausschluss ist immer politisch
Wer nicht an diesem Akt der Nächstenliebe teilhaben darf, muss mit Stigmatisierung rechnen. Die Sperre vom Blutspenden (re-)produziert und bestärkt gesellschaftliche Stereotype sowie homophobe und rassistische Bilder und ist somit immer auch ein politischer Akt. Wie die australische Sozialwissenschaftlerin Kylie Valentine schreibt: "Exclusion from public practices is a political act for those forced to struggle for rights and public recognition, regardless of the reasons for that exclusion." [9] Denn was heißt es, in einem Land mit einer 46-jährigen Geschichte der Apartheid die Schwarze Bevölkerung von der Blutspende auszuschließen? Was bedeutet es, in heteronormativen Kontexten schwule Männer auszuschließen und ihnen per se Promiskuität und Verantwortungslosigkeit zu unterstellen? Und was heißt es, (muslimische) Migrant_innen in einem Land auszuschließen, das sich bis heute nicht als Einwander_innenland versteht und in dem rund ein Drittel der Bevölkerung eine Partei wählt, die mit Sprüchen wie "Daham statt Islam" in den Wahlkampf geht?
Vor diesen Hintergründen muss die Frage nach den Ausschlüssen von der Blutspende neu gedacht werden. Diese richtet sich insbesondere an Institutionen, die sich in ihrem Selbstverständnis als humanitär und karitativ definieren, jedoch nicht reflektieren, wie ihre Praktiken bestehende gesellschaftliche Ein- und Ausschlussmechanismen verfestigen.
Die Autorin bedankt sich herzlich bei Maria Pichler für den inhaltlichen Austausch.
Beitrag aus migrazine.at, Ausgabe 2014/1.
Fußnoten
[1] Islamische Religionsgemeinschaft Linz: Rotes Kreuz: "Kein Blut von 'TürkInnen' und 'Muslimen'". Stellungnahme vom 10.2.2014.
[2] Rotes Kreuz: "Rotes Kreuz stellt klar: Kein Ausschluss von Migrantinnen und Migranten beim Blutspenden". OTS-Pressemitteilung vom 12.2.2014.
[3] Die Presse: "Blutspende abgewiesen: Muslime verärgert", 11.2.2014.
[4] daStandard.at: "Wir wollen nicht verlogen sein". Interview mit Christian Gabriel vom 12.2.2014.
[5] Vgl. Catherine Waldby/Robert Mitchell (2006): Tissue Economics. Blood, Organs, and Cell Lines in Late Capitalism. Durham/London: Duke UP.
[6] Vgl. Douglas Starr (1998): Blood: An Epic History of Medicine and Commerce. New York: Knopf.
[7] Vgl. Waldby/Mitchell 2006.
[8] Richard Titmuss (1971): The Gift Relationship: From Human Blood to Social Policy. New York: Pantheon Books.
[9] Kylie Valentine (2005): Citizenship, Identity, Blood Donation. In: Body & Society, 11. Jg., Nr. 2, S. 113-128.