"Der Markt braucht Labels"
Das Label "Migrationsliteratur" oder "MigrantInnen-Literatur" stellt einerseits Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit her, für Autor_innen, die sonst selten im Mittelpunkt stehen. Andererseits nivelliert das Etikett die unterschiedlichen literarischen Herangehensweisen, indem die scheinbare Gemeinsamkeit der "Migrationserfahrung" in den Vordergrund gerückt wird. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?
Julya Rabinowich: Diese kurze Aufmerksamkeit lohnt den Schaden nicht, den dieses Label der Literatur insgesamt antut. Wenn jemand ein/e große/r SchriftstellerIn ist, dann wird man niemals als MigrationsliteratIn bezeichnet – das sagt eigentlich genug aus.
Lässt sich dieser Widerspruch überhaupt auflösen? Seher Çakir etwa kritisiert in Bezug auf AutorInnen, die unter dem Etikett "Migrationsliteratur" gehandelt werden, einen "biografischen Voyeurismus". Ist Literatur ohne zusätzliches Etikett – siehe Bezeichnungen wie "MigrantInnen-Literatur", "Frauenliteratur" etc. – demnach ein Privileg?
Der biografische Voyeurismus ist für mich in fast allen Bereichen der Kunst spürbar, man will ja nicht nur das Produkt besitzen, sondern mit dessen Erwerb auch den/die Produzenten/Produzentin, das gilt allerdings für alle … wenn nicht zugewandert, dann halt magersüchtig, drogenabhängig oder depressiv – der Markt braucht Labels, und die Medien liefern sie. Aber natürlich ist eine Unterteilung z.B. in Frauenliteratur eine Herabwertung. "Herrenliteratur" ist ja auch was anderes, oder? Ein schönes Beispiel für den Alltagsrassismus des Kulturbetriebes: Wenn ein Nigerianer über Deutschland schreibt, so ist das Migrantenliteratur. Wenn ein Deutscher über Nigeria schreibt, ist das ein Roman.
Sie selbst waren 2003 Preisträgerin, 2010 dann auch Jurorin beim Wettbewerb "schreiben zwischen den kulturen", der von der edition exil ausgeschrieben wird und "Autorinnen mit Migrationshintergrund und Angehörige ethnischer Minderheiten" fördern will. Inwiefern unterscheiden sich Ihre Erfahrungen als Teilnehmerin und als Jury-Mitglied voneinander?
Als ich eingereicht hatte, hatte ich überhaupt keine Ahnung von jeglichem Betrieb, weder politischem Betrieb noch Literaturbetrieb, und von den dazugehörigen Gepflogenheiten und Gesetzen. Ich hatte einfach geschrieben und eingereicht, ohne viel dabei zu denken, der Text musste raus, ich war jung und brauchte das Geld. :)
Als ich später Jurorin wurde, war das etwas völlig anderes. Ich hatte auf einmal eine Menge Verantwortung in der Hand, eine Art Kurzzeitfortunadasein, mit Füllhorn und allem drum und dran und mit harter Entscheidung, mit der Möglichkeit, etwas, das wichtig sein könnte, weitergeben zu dürfen. Und natürlich mit der Möglichkeit, am Bewerb selbst etwas gestalten zu können, durch die neue Definition, durch angeregte Zielsetzungen.
Was wird Ihrer Meinung nach unter der Bezeichnung "Migrationshintergrund" im Literaturkontext eigentlich verhandelt? Geht es hierbei um die Erfahrung der "Bewegung" und ihre politischen Bedingungen? Oder eher um die Erfahrung von Multilingualität?
Ich denke, dass es im wissenschaftlichen Bereich um beides geht, um die Multilingualität oder um soziale Hintergründe der Bewegung, je nachdem, in welche Schachtel der Wissenschaft die Literatur geordnet werden soll, da sind die Grenzen fließend. Für Machtspielchen ist die Bezeichnung "Migrationsliteratur" hingegen eine billige Möglichkeit, nicht ganz zufriedenstellende Texte aufzuwerten bzw. qualitativ hochwertige zu verniedlichen. Es gibt ja auch durchaus die Tendenz, das Autobiografische der Qualität vorzureihen, womit weder dem Leser noch dem Schreiber wirklich geholfen ist – es ist im Endeffekt ein Betrug an beiden.
Sie schreiben Prosa-Texte, aber auch für das Theater – gibt es hier unterschiedliche Freiräume, was die Verhandlung von Identität und Differenz angeht?
Ich habe bewusst niemals zwischen Theater und Prosa unterschieden, ich unterscheide maximal zwischen Malerei und Schreiben, aber selbst da sind die Grenzen fließend … Die Fragestellung ist mit jedem Werk eine neue für mich, auch wenn die Antworten manchmal ähnlich ausfallen. Mit Theater lässt sich das Gegenüber unmittelbarer überfallen, mit Prosa langsam infizieren – also gleiche Krankheit, unterschiedlicher Verlauf.
Interview: Vina Yun