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Abschiebungen "managen"

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von Carla Küffner

Die Geschichte der Abschiebung [1] und der damit verbundene Wunsch nach nationalstaatlicher Souveränität reicht lange zurück. Für das Verständnis ihrer Funktion und Effekte sind historische und gegenwärtige Bruchstellen besonders interessant. An ihnen lässt sich zeigen, welche Ziele, aber auch welche Widerstände mit dieser Zwangsmaßnahme verknüpft waren und sind.

Die Geburt der Staatsbürger_innenschaft

Die Erfindung der Staatsbürger_innenschaft auf Grundlage von Nationalität ist essenziell für die Herausbildung moderner Staatlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert. Bestimmend für das Konzept nationalstaatlicher Zugehörigkeit ist die Differenzierung zwischen "Staatsbürger_in" und "Fremdem_r". Bis dahin hatte sich die Zugehörigkeit auf Personenverbände (zum Beispiel zwischen Lehnsherren und Vasallen) gegründet. Gleichzeitig waren diese Zugehörigkeiten in vielen Fällen nicht klar zuordenbar, vor allem bei Berufen mit regelmäßigen Reisenden bzw. Wandernden wie etwa Handwerker_innen, Händler_innen, Gelehrte oder Söldner.

Mit der Etablierung einer Staatsbürger_innenschaft ging eine Regulierung der Mobilität einher, indem zwischen legitimer und illegitimer Bewegung unterschieden wurde. Dafür spielte das Instrument der Abschiebung eine wichtige Rolle. Unter Abschiebung wurden Maßnahmen verstanden, die Personen unter Androhung von Zwang bzw. Anwendung von Gewalt an ihren Herkunftsort brachten. Derart bildeten die Selektionsmechanismen von Abschiebungen eine Grundlage für die Differenzierung zwischen einem nationalstaatlichen "Innen" und einem "Außen". Sie stellten ein Mittel dar, um diese Unterscheidung mitzuentwickeln und zu etablieren [2].
Die allmähliche Verschiebung bei den Zielgruppen der Ausweisung - weg von der gesamten Bevölkerung in der Vormoderne hin zu ausschließlich Nicht-Staatsbürger_innen in der Gegenwart - zeigt die flexible Anpassung an die jeweiligen politischen Rahmenbedingungen. So wird Abschiebung heute als Werkzeug zur Verwaltung von "Fremden" verstanden, während sie auf eigene Staatsbürger_innen in der Regel nicht angewendet wird.

Soziale Ausschlüsse

Mit Abschiebungen gingen und gehen also kontrollpolitische Wünsche einher - mit dem konkreten Ziel, die Mobilität von Personen zu steuern. Die Frage ist: Verlor sich durch die dargestellten Veränderungen der kontrollpolitische Charakter auch im Hinblick auf Staatsbürger_innen?

Tatsächlich hatte die Fokussierung des souveränen Ausweisungsrechts auf Nicht-Staatsbürger_innen weitreichende Folgen. Zum einen wurden Staatsbürger_innen im Prozess der Konstruktion nationaler Zugehörigkeit eine Reihe von Rechten und Partizipationsmöglichkeiten eröffnet - wie etwa das allgemeine Wahlrecht (wenn auch nicht gleichzeitig für alle Bevölkerungsgruppen) oder der Schutz vor Abschiebung aus dem nationalen Territorium. Demgegenüber standen zum anderen die weitreichenden Spielräume zur Ausweisung von Nicht-Staatsbürger_innen. Wie weit das Ermessen zum Ausschluss ging, zeigt das folgende Zitat: "Eine Ausweisung wegen 'Lästigkeit' kraft Landesrecht war (...) das wichtigste Mittel zur Steuerung des Ausländeraufenthaltes." [3] "Lästigkeit" als Ausweisungsgrund musste nicht weiter begründet werden und eröffnete damit eine faktische staatliche Verfügungsgewalt über alle Nicht-Staatsbürger_innen.

Um jedoch auch weiterhin innerstaatliche Ausweisungen gegenüber Staatsbürger_innen zu legitimieren, wurden soziale Selektionskriterien herangezogen. Neben der Nationalisierung von Ausweisungen entwickelte sich innerhalb der Staatsgrenzen auch eine soziale Schichtung von Ausschlüssen. Die Definition hierfür war ausgesprochen vage gehalten und bot einen deutlichen Ermessensspielraum für die Behörden. So heißt es beispielsweise in einem Gesetz aus der Habsburgermonarchie, die polizeiliche Ausweisung richte sich "insbesondere gegen Vagabunden, Bettler und Müßiggänger, gegen Zigeuner, Prostituierte, Juden, Paß- und Ausweislose, aus der Haft tretende Sträflinge, aber auch gegen andere unerwünschte Fremde" [4]. Die innerstaatliche Bewegungsfreiheit galt demnach nicht für alle Personen, die auf dem Territorium präsent waren - für spezifische Gruppen von Staatsbürger_innen führte die Kriminalisierung ihrer Lebensweise zu Verbot und Ahndung ihrer Mobilität.

Abschiebung als Disziplinierung

Wie sich diese beschriebene Entwicklung praktisch auswirkte, zeigt das Beispiel von Josef Weibel [5], der 1822 von Perchtoldsdorf bei Wien in seinen Geburtsort Riegl am Bodensee abgeschoben wurde. Weibel wurde "Betteln ohne Ausweisung" vorgeworfen. In seinem Schubpass ist vermerkt: "Die Personenbeschreibung zeichnet einen 75-jährigen katholischen, ledigen Zimmergesell von mittlerer Statur und rundem Gesicht, mit grauem Haar und grauen Augen, stumpfer Nase und mittlerem Mund".

Am 8. Juli 1822 begann die Abschiebung von Perchtoldsdorf durch Nieder- und Oberösterreich, am 26. Juli kam Weibel an der bayerischen Grenze an. "Da das Heimathrecht und die persönliche Aufnahme des Josef Weibel in seinem angeblichen Geburtsort Riegl in großherzoglichem Baaden nicht hergestellt sind, so ist derselbe zur Übergabe an das k. k. Grenzgericht Simbach nicht geeignet, er wird daher an seine Aufgreifungsbehörde Herrschaft Perchtoldsdorf wieder zurückgeschickt. Braunau den 26. Juli 1822". So kam es, dass sich Josef Weibel am 10. August 1822 zurück in Perchtoldsdorf befand. In seinem Schubpass heißt es: "Ist entlassen worden weilen derselbe an der Gränz zur Hinausschiebung nicht angenommen worden, sondern wiederum anhero geschoben worden." Die Abschiebung blieb ohne den gewünschten Effekt: Am 10. August 1822 wurde Weibel, unter Abnahme des Versprechens, sich Arbeit zu suchen, aus der Schubhaft entlassen.

Die soziale Stratifizierung der Gesellschaft in erwünschte Arbeitende mit festem Wohnsitz und unerwünschte Wander_innen ohne festen Wohnsitz tritt hier deutlich zutage. Die Abschiebung war somit (auch innerhalb der Staatsgrenzen) ein zentrales Mittel zur Disziplinierung der mobilen Staatsbürger_innen, indem diese zum Beispiel im Falle von Mittellosigkeit in ihre Heimatgemeinden zurückgeführt wurden.

Subversive Reversion

Die bis heute erhaltenen Schublisten dieser Periode belegen zahlreiche durchgeführte Abschiebungen und zeigen die fortgeschrittene "Kontrolltiefe" des erwünschten "Disziplinarraums", dessen Entwicklung Michel Foucault in "Überwachen und Strafen" beschrieben hat [6]. Allerdings gab es durchwegs Praktiken, die die Kontrolle der legitimen Mobilität herausforderten, ignorierten und durchkreuzten. Eine davon war die sogenannte Reversion - die Wiederkehr nach einer erfolgten Abschiebung. Sie stellte eine der größten Schwierigkeiten im nachhaltigen Abschiebevollzug dar. Behördliche Zahlen legen den Schluss nahe, dass etwa ein Viertel der Abgeschobenen bereits zwei Mal oder öfter abgeschoben wurde - man kann daher davon ausgehen, dass eine noch größere Personengruppe nach erfolgter Abschiebung zurückkehrte, ohne aufgegriffen zu werden.

Die Reversion zeigt, dass Mobilität durch den Schub nicht immer verhindert, sondern teilweise angeregt wurde. Der Wunsch der Steuerung und Verwaltung traf so auf Praktiken der Subversion, die die Kontrolle der Mobilität unterliefen oder sich ihr entgegenstellten.

Staatsbürger_innen identifizieren

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einem deutlichen Anstieg von Identifizierungstechniken, die als zentraler Bestandteil des Entstehens und Funktionierens moderner Staatlichkeit betrachtet werden können. Damals wie heute wurde der Ausbau von staatlichen Datensammlungen, Identifizierungstechniken und Überwachungsmaßnahmen über Sicherheitsdiskurse legitimiert: Ein Mehr an Überwachung würde ein Mehr an Ordnung für das Gemeinwohl bedeuten. Um Staatsbürger_innen von "Fremden" unterscheiden zu können, bedurfte es einerseits Technologien der Überwachung, die diese Kategorien entsprechend überprüfbar machten. Andererseits setze dies eine eindeutig feststellbare Identität voraus.

Die Geschichte kennt zahlreiche Beispiele von Verwechslungen oder Doppelgänger_innen, die "falsche" Identitäten angaben. Dies lässt sich auch in der Verordnung des böhmischen Landespräsidiums von 1809 herauslesen. Sie besagt, dass "[z]ur Vorbeugung alles [sic] Mißbrauches (...) künftig in einen jeden Paß (...) die genaue Personenbeschreibung des Paßwerbers aufzunehmen" [7] sei. Die Grenzbeamten standen vor der Herausforderung, die Echtheit des Dokuments zu prüfen. Dafür war es nötig, den Pass und seine_n Träger_in zu einer Einheit zusammenzuführen - oder eben nicht.

Vom Schriftstück zum biometrischen Pass

Um diese Identifizierung zu vollziehen, wurde der Fokus auf den Körper gelenkt. Nunmehr wurden körperliche Merkmale für Authentifizierungspraktiken herangezogen. Beschrieben wurden etwa die Farbe der Augen, Haare und Augenbrauen, die Beschaffenheit von Augen, Nase, Mund, Bart, Kinnart, Gesichtsform, der Charakter der Haut usw. Wenig überraschend ließen diese Merkmale Raum für individuelle Interpretationen, weshalb ein Pass mit entsprechend übereinstimmenden Merkmalen leicht an eine andere Person weitergegeben werden konnte. Bis heute führt die Notwendigkeit der eindeutigen Identifizierung zu Hindernissen bei Abschiebungen - eine Praxis, die Politologin Antje Ellermann etwa am Beispiel undokumentierter Migrant_innen erörtert, die ihre Dokumenten vernichten [8]. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Entwicklung von Identifikationsdokumenten über die Jahrhunderte - vom mit einem Siegel versehenen Schriftstück im Mittelalter über ein Dokument mit einem Foto Ende des 19. Jahrhunderts bis hin zum modernen Ausweis mit Fingerabdrücken - als Reaktion auf die Irritationen lesen, die Eindeutigkeit von Identitätsnachweisen durch widerständige Praktiken infrage zu stellen.

Auf die behördliche Anstrengungen, Identitätsnachweise zunehmend individueller zu gestalten, wird insofern reagiert, als dass sich auch die Strategien des Widerstands vom Papier hin zum Körper wenden. Um die Identitätsfeststellung zu verunmöglichen, umfassen die individuellen Praktiken beispielsweise Entstellungen oder Abtrennen der Fingerkuppen. Eine kollektive Reaktion auf die Fingerabdrücke war folgende Forderung der Refugees im Wiener Flüchtlingsprotest von 2012: "Wenn ihr unsere Forderungen nicht erfüllen wollt, dann löscht zumindest unsere Fingerabdrücke aus euren Datenbanken und lasst uns weiterziehen. Wir haben ein Recht auf unsere Zukunft." [9] Tatsächlich wird diese Forderung derzeit teilweise von staatlichen Akteur_innen in der EU umgesetzt, die bei einigen ankommenden Geflüchteten auf die Fingerabdrücke bzw. die Registrierung verzichten (müssen), sodass eine Identifizierung im Rahmen der Dublin-III-Verordnung nicht möglich ist.

Managen und kontrollieren

In den letzten Monaten wurde - einmal mehr - hierzulande die Intensivierung von Abschiebungen angekündigt. Abschiebungen sind, wie aus einer historischen Perspektive deutlich wird, mit dem Wunsch nach Disziplinierung verknüpft. Dieser Effekt wird teilweise schon durch die bloße Androhung erreicht. Viele Widerstände gegen die tatsächliche Durchführung von Abschiebungen sind jedoch nach wie vor vorhanden. Dazu zählt der Wechsel von Identitäten, die Ausstellung von Reisedokumenten, sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen und nicht zuletzt, als ein neueres Merkmal, menschenrechtliche Verpflichtungen wie beispielsweise das Refoulement-Verbot [10].

Dennoch spielt das Instrument der Abschiebung auch und gerade im derzeitigen Diskurs über Migrationsmanagement eine zentrale Rolle. Das Konzept des Migrationsmanagements basiert auf der Vorstellung, dass sich Grenzen "managen" lassen, unter anderem durch Abschiebungen. Das drückte sich auch jüngst im Aktionsplan der EU zur Fluchtroute über den Westbalkan aus. Darin heißt es: "We commit to immediately increase our efforts to manage and regain control of our borders and increase the coordination of our actions relating to border management." [11] Trotz der Barrieren, trotz des finanziellen Aufwands und der sozialen Kosten ist mit Abschiebungen weiterhin der Wunsch verknüpft, souverän darüber entscheiden zu wollen, wer sich im Staat aufhält. Der Sommer der Migrationen 2015 hat diese Vorstellung - wieder einmal - herausgefordert, und die folgenden Monate haben gezeigt, wie sehr an ihr festgehalten wird.



Fußnoten

[1] Mit Ausweisungen bzw. Ausschlüssen spreche ich den Verwaltungsakt an, mit Abschiebungen hingegen die tatsächliche Zwangsmaßnahme.

[2] Vgl. Tobias Schwarz (2010): Bedrohung, Gastrecht, Integrationspflicht. Differenzkonstruktionen im deutschen Ausweisungsdiskurs. Bielefeld: transcript Verlag. S. 49ff.

[3] Wilhelm Bittermann (1912): S. 554, zitiert in Schwarz (2010), S. 60.

[4] Ilse Reiter-Zatloukal (2000): Ausgewiesen, abgeschoben. Eine Geschichte des Ausweisungsrechts in Österreich vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert, S. 783, zitiert in Schwarz (2010), S. 52.

[5] Der Fall sowie die Zitate sind entnommen aus: Harald Wendelin (2000): Schub und Heimatrecht. In: Waltraud Heindl/Edith Saurer (Hg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750-1867. Wien: Böhlau. S. 173-343. S. 279f.

[6] Michel Foucault (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[7] Verordnung des böhmischen Landespräsidiums vom 3. April 1809. In: Národní archiv, Prag, Policejní reditelství Praha 1769-1855, Kt. 41, Fasz. 5. In: Stephan Gruber (2013): Ununterbrochene Evidenz. K.K. Polizeibehörden und die Dokumentation von Identitäten, 1782-1867. Dissertation, Universität Wien. S. 140f.

[8] Antje Ellermann (2010): Undocumented migrants and resistance in the liberal state. In: Politics & Society, 38. S. 408-429.

[9] Forderungen der Flüchtlinge, die in der Votivkirche Schutz gesucht haben, siehe: http://no-racism.net/upload/946668718.pdf

[10] Beim Refoulement-Verbot oder Grundsatz der Nichtzurückweisung wird die Abschiebung in Staaten untersagt, in denen Folter oder unmenschliche Behandlung drohen.

[11] http://ec.europa.eu/news/2015/docs/leader_statement_final.pdf

Carla Küffnerhat Internationale Entwicklung an der Universität Wien studiert. Sie ist Mitglied von "borderline-europe - Menschenrechte ohne Grenzen" und promoviert zum Thema Verhandlungen über Abschiebungen. Derzeit verbringt sie mit einem Stipendium des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz einen Forschungsaufenthalt an der École Haute des Sciences Sociales in Paris.