Wo das Herz ist
In den frühen 1970er Jahren war ich sieben Jahre alt, als meine Familie von England nach Neuseeland einwanderte, wir waren "£10 Poms"1. Die Einreise war Teil eines Programms, das weiße britische Arbeiter*innen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nach Australien und Neuseeland brachte. Zuvor war meine Welt eine engmaschige Großfamilie gewesen, in der meine Mutter und ihre beiden Schwestern, Familien mit Kindern im gleichen Alter wie ich, ein paar Häuser weiter in derselben Straße wohnten. Der Rest unserer Großfamilie war nicht viel weiter entfernt. Sonntags versammelte sich die ganze Familie im Hause meiner Urgroßmutter, um zu essen, lachen und Lieder am Klavier zu singen.
Die Einwanderung bedeutete, dass "Zuhause" plötzlich zwei Orte war, die 13.000 Meilen voneinander entfernt waren.
Damals gab es noch kein Internet, Ferngespräche waren teuer, Telefonate nach "Hause" waren ein gelegentlicher Luxus. Es gab eine Minute Zeit, um Hallo zu sagen, wir sprachen schnell inmitten von ebenso eiligen Gesprächen mit Erwachsenen, und jede Sekunde verging wie eine Summe auf der steigenden Telefonrechnung. Da die Post teuer war, schrieb meine Mutter Aerogramme: speziell entworfene, leichte Einzelbriefe, die sich in sich selbst falten ließen, um Brief und Umschlag zugleich zu bilden.
Die Entfernung bedeutete Sehnsucht und eine Depression, die ich als Kind weder artikulieren noch verstehen konnte. Ich dachte ständig an eine Rückkehr nach Hause", was im Laufe der Jahre zu einem abstrakten Konzept wurde. In der kleinen Familie, zu der ich gehörte, lief nie alles glatt, ich hatte ein Talent dafür, mich nicht einzufügen. Ich wuchs queer, neurodivergent und rebellisch auf, erlebte Jahre der Sucht und entfernte mich immer weiter von meiner Familie. Zuerst in einen abgelegenen Teil desselben Landes, dann nach Australien und schließlich zurück nach England.
Ich hatte mir zwar vorgestellt, ich könnte zu der Großfamilie zurückkehren, die ich als Kind verlassen hatte, doch in Wirklichkeit erwies sich die Entfernung von dreißig Jahren als eine schwer zu überbrückende Spanne.
Trotz der Entfernung zu meiner leiblichen Familie fand ich bei den SM-Dykes und der 12-Schritte-Community eine Art von Vertrautheit und Familie. Es handelt sich um eine Art Familie, die Zuneigung und Unterstützung als Basis hat, nicht Blut oder Abstammung. Mit queeren Partner*innen oder Ex-Partner*innen, Freund*innen, Liebhaber*innen von Liebhaber*innen bin ich Beziehungen eingegangen, die sich im Laufe der Jahre gewandelt haben und eine Formbarkeit und Ausdauer haben, innerhalb derer unsere Rollen sich ändern dürfen. In der 12-Schritte-Genesung kann Intimität mit Menschen entstehen, die ich seit 30 Jahren kenne, oder mit denen, die ich erst kürzlich kennengelernt habe, eine Gemeinschaft entsteht indem wir einander zuhören und gegenseitig unser Innenleben und Kämpfe mehrmals pro Woche bezeugen. Beide Kulturen der intimen Verbindung beinhalten das Wissen und die Akzeptanz, dass wir in Zeiten der Distanz leben. Wir finden Wege, um Konstellationen der Fürsorge aufrechtzuerhalten, die nicht immer von bestimmten Personen abhängig sind. Eine Intimität, die trotz und manchmal gerade wegen ihrer fragmentierten Natur überleben kann.
Viele meiner "nahen" Menschen sind physisch weit entfernt in einem losen Netzwerk, das Teil einer breiteren SM-Dyke-Szene ist, die sich seit mehr als 20 Jahren jährlich in Berlin trifft. Es handelt sich dabei um eine kinky queere Gemeinschaft von Leuten, die sich in ihrer besten Fetischkleidung aus Gummi, Leder und Spitze zu Partys in den Kerkern der Stadt treffen und dabei oft neue Freund*innen und Liebschaften kennenlernen. Fernbeziehungen sind oft eher ein Merkmal als eine Ausnahmeerscheinung in unseren Beziehungen.
Einige meiner Beziehungen haben sich in der erzwungenen Distanz der Pandemie vertieft, durch die Bemühungen, die wir unternommen haben, um unsere Fürsorge zu zeigen. Tägliche Updates oder längere Online-"Verabredungen", "Guten Morgen" und "Gute Nacht", nachfragen, wie es mir geht, mich wissen lassen, wer sie ärgert, worüber sie sich aufregen, Selfies und Bilder von ihren Haustieren schicken. Wir lesen uns gegenseitig laut vor, erzählen uns Geschichten über queeres Werden, Trans-Entdeckungen, Kink-Reisen, Science-Fiction-Fantasien über abweichende Lebensweisen. Wir nehmen uns Zeit, Papierpost zu schreiben. Ich schicke Care-Pakete, Badezusätze, Make-up, Schokolade, Süßigkeiten, Socken, Strümpfe, Haarspangen, Samen für den Garten, Kekse und Gebäck.
Mit einigen treffe ich mich online und besuche gemeinsam 12-Schritte-Treffen, spezielle Interessengruppen für Queers, Trans*Personen oder Sexarbeiter*Innen. In einem virtuellen Raum nehmen wir "anonym" teil und sprechen die Dinge aus, die wir am sichersten vor einem Raum mit relativ fremden Menschen sagen können.
Fünfzehn Menschen aus meiner verstreuten SM-Dyke-Community treffen sich mit mir zu einem Online-Verkleidungs-Date, einer Geschichtenstunde in einer virtuellen Deckenfestung. Ich verbringe Stunden mit den Vorbereitungen, verkleide mich als gruseliger Drag-Clown-Ding und baue eine mit Lichterketten beleuchtete Deckenfestung in meinem Zimmer. Als die Leute in meinen Zoom-Raum kommen, sehe ich, dass andere sich Mühe gegeben haben, sich zu schmücken und sich in niedliche Pyjamakostüme zu kleiden, mit ihren Kuscheltieren, bereit für eine spielerische Version der Märchenstunde für Erwachsene, die in sanft beleuchteten Räumen mit ihrem inneren Kind in Kontakt tritt. Während ich aus Derek Jarmans "Garden Diaries", Dorothy Allisons "Skin" und Jonathan Fishers "Six part lust story" über das Cruisen in Bars lese, sind wir über das digitale Netz miteinander verbunden.
Nach langen Jahren der Krankheit liegt ein Mitglied der Poly-Familie im Sterben. Wir haben uns nur gelegentlich persönlich gesehen, aber über 15 Jahre hinweg haben wir in diesen Momenten der Verbundenheit Sorgen und Freuden geteilt; das Band ist echt. Einer ihrer langjährigen Partner, einer meiner engsten Vertrauten, schickt mir aktuelle Informationen, während der Sterbeprozess beginnt. Die Entfernung von Meilen, Städten und Ländern fühlt sich an wie zärtliche Minuten, in denen ich hoffe, sie zu unterstützen, in denen ich mich aber auch einbezogen und nahe fühle. Ich bin dankbar, wenn ich höre und spüre, wie gut diese besondere Person auf ihrem letzten Weg umsorgt wird.
Während der Pandemie habe ich eine stabile Wohnung gefunden, nachdem ich jahrelang in einer beschissenen, billigen Unterkunft gewohnt habe. Nach meinem Einzug erhalte ich ein Paket mit der Post. Es enthält eine Packung Brotmehl, ein Päckchen Hefe, ein kleines Glas Salz und eine Kupfermünze. Dem Paket liegt ein Brief bei, in dem die Anweisungen auf dem Paket mit der Brotmischung ins Englische übersetzt sind und in dem die deutsche Tradition beschrieben wird, Brot, Salz und Münze an die Tür einer neuen Wohnung zu stellen - Symbole für Überfluss und ein schmackhaftes Leben. Eine nette Geste, die mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Da ich zum ersten Mal in meinem Leben eine feste Wohnung habe, bereite ich die Brotmischung in meiner neuen Küche zu und warte, bis der Duft von gebackenem Brot das Haus erfüllt. Sobald es gebacken und abgekühlt ist, schneide ich den Laib an, drücke die Münze hinein und stelle ihn zusammen mit dem Salz neben meine Haustür. Endlich bin ich zu Hause.
Fußnoten
1. £10 Poms bezieht sich auf den Spitznamen, der Menschen gegeben wurde, die an diesem Einwanderungsprogramm teilnahmen: £10, da dies die nominale Gebühr für die Passage war, und "Pom" oder "Pommy" ist ein Slangwort, das in Australien und Neuseeland möglicherweise abwertend verwendet wird, um eine Person zu bezeichnen, die ursprünglich aus England stammt. Der Begriff hat viele mögliche Ursprünge, unter anderem ist er ein gereimter Slang für "Einwanderer" in Australien. Das kann der wahre Ursprung sein, muss es aber nicht. Mehr unter https://en.wikipedia.org/wiki/Ten_Pound_Poms
Übersetzung: Sam Osborn