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Wessen Kulturerbe? - Einführende Überlegungen zu den Ausgrabungen im Nahen Osten unter französischem Mandat

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von Ezgi Erol

103 Jahre sind seit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages vergangen, in dem der künftige Frieden im Nahen Osten befürwortet und rechtlich geregelt wurde. Die Überlegungen zu einem Dekolonialisierungsprozess nach dem Ersten Weltkrieg wurden ­– wenn auch nicht explizit – im Völkerrecht unter „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ festgehalten. Unabhängig vom Friedensvertrag teilten die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich die Territorien des Osmanischen Reiches auf. Die Selbstverwaltung wurde in die Idee des Völkerbundes integriert. Libanon und Syrien fielen an Frankreich, Palästina (das heutige Israel, Jordanien sowie das Westjordanland) an Großbritannien. Zum Völkerbund gehörten sog. „Treuhandgebiete“: Als ‚rückständig’ erachtete Völker sollten von ‚fortgeschrittenen‘ Ländern vertreten werden, bis sie die westlichen Zivilisationsstandards erreicht hatten.

In dieser Phase waren die Gebiete des Nahen Ostens Kriegsbeute für die Kolonialmächte. Neben anderen Formen der Ausbeutung wurden sie auch archäologisch ausgebeutet1. Dabei ging es nicht nur um den allgemein bekannten Zweck, die Vergangenheiten des Nahen Ostens als Ursprung der westlichen Zivilisation zu rekonstruieren2, sondern ebenso um die Aufrechterhaltung historischer Machtverhältnisse. Es ist kein Geheimnis, dass die Archäologie als Fachdisziplin Hand in Hand mit einer Wissensproduktion geht, die Geschichte schreiben möchte. Wer gräbt, über die Funde spricht, Aussagen über sie macht, sie in Museen und akademischen Einrichtungen verschifft, kontextualisiert und archiviert, periodisiert die Geschichte von Gesellschaften als Teil einer universalistischen historischen Erzählung und schafft die Grundlage für das historische Gedächtnis. Daran arbeitet auch die Kunstgeschichte mit.
Mit den ersten Ausgrabungen in Syrien und im Libanon begann das sogenannte Antiquitäten Service Frankreichs. Es bestand von 1920 bis 1946 und richtete in Syrien und im Libanon drei Kunst- und Archäologiemuseen dort ein. Ein Teil der ausgegrabenen Funde wurde in diesen Museen ausgestellt, ein beträchtlicher Teil aber auch zu westlichen Museen verschifft3.

Ein entscheidendes Scharnier des Mandatssystems ist die Region Alexandrette, die heutige türkische Provinz Hatay an der türkischen-syrischen Grenze, die die Häfen von Alexandrette (tr. Iskenderun) und Antiochia (tr. Antakya) umfasst - und als Teil vom Staat Syrien an die französische Regierung übertragen wurde. Alexandrette verbindet Mesopotamien, den Irak und Ägypten mit dem Mittelmeer und ist von strategischer Bedeutung für die Kontinuität der Ost-West-Handelsbeziehungen. Wenn die Türkei hoffte, Alexandrette zurückzubekommen, als die Republik im Rahmen des Vertrags von Lausanne 1923 gegründet wurde, war das eine vergebliche Hoffnung. Die Region war mehrheitlich von Araber:innen bewohnt (bis zum türkischen Völkermord an den Armenier:innen 1915 auch von armenischen Menschen).

Darüber hinaus war Antiochia neben Alexandria, Konstantinopel und Rom eine der wichtigsten Kunstmetropolen der antiken Welt. Im Jahr 1932 begannen unter dem französischen Mandatssystem die ersten Ausgrabungen. Die Princeton University wurde eingeladen, die Ausgrabungen durchzuführen, Projektleiter waren die Musées Nationaux de France, finanziert wurde das Projekt durch das Worcester Art Museum und das Baltimore Museum of Art. Es wurden zahlreiche Funde und 300 Mosaike geborgen und ein Archäologiemuseum gebaut. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden die Ausgrabungen 1939 eingestellt. Die Region Alexandrette wurde 1938 zunächst als autonome Republik unter dem türkisierten Namen Hatay anerkannt. Ein Jahr später wurde sie der Türkei unter der Bedingung angegliedert, dass die Türkei im kommenden Krieg mit NS-Deutschland kein Bündnis eingehen, sondern neutral bleiben würde. Mehr als die Hälfte der Mosaike und Funde wurden in die USA und in den Louvre gebracht. Allein in den USA wurden die Mosaike auf 29 Museen und akademische Einrichtungen aufgeteilt4.

Eines der Argumente für die Verschiffung archäologischer Artefakte ist, dass ‚westliches‘ Kulturerbe in den Regionen des Nahen Ostens in Gefahr sei5 und der Westen daher berechtigten Anspruch darauf erhebe. Bei den Ausgrabungen in Antiochia wurden die Mosaike von den beschriebenen Ausgrabungsinstitutionen jedoch nicht ordnungsgemäß geborgen und restauriert. Einer der wesentlichen Missstände ist ihre Zerstückelung6. So wurden beispielsweise fünfzehn Bodenmosaike aus einem ausgegrabenen Haus auf drei Länder und bis zu fünf Institutionen aufgeteilt. Sie wurden aus ihrem architektonischen und kunsthistorischen Kontext gerissen. Ihre zerstückelte und verstreute Existenz veranschaulicht die verschiedenen Besatzungen in der Region, die Plünderungen und unrechtmäßige Aneignung im Rahmen kolonialer Machtverhältnisse.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Restitutionsdebatten stellt sich die Frage nach der Zugehörigkeit der Mosaike. Wenn die Türkei die Mosaike nach Hatay zurückfordert, ist dies eine legitime Forderung. Neben der Grundannahme, dass Antiochia ihre ursprüngliche Heimat ist, sollte auch berücksichtigt werden, dass zahlreiche Einheimische an den Ausgrabungen gearbeitet haben. Würden jedoch Fragen nach dem geopolitischen und ideologischen Rahmen ihrer Aneignung in der Kontextualisierung offen gelassen, blieben auch die Formen unsichtbar, in denen koloniale und imperiale Politiken bis heute fortbestehen. Die Aufarbeitung des geopolitischen und ideologischen Rahmens der Aneignung hingegen könnte ein Beitrag sein, die gegenwärtige Geopolitik der Türkei und des Westens im Nahen Osten zu überdenken.

                                                                                          Fortsetzung in der nächsten Ausgabe …

Bibliographie

1 Vgl. Tahan, Lina G., „New Museological Ways of Seeing the World: Decolonizing Archaeology in Lebanese Museums“, in: Handbook of Postcolonial Archaeology, Jane Lydon and Uzma Z. Rizvi (eds.) , New York: Routledge, 2012, p. 297.

2 Pollock, Susan & Reinhard Bernbeck (eds.), “Introduction”, in: Archaeologies of the Middle East: Critical Perspectives, Oxford: Blackwell, 2005, p. 6.

3 Vgl. Tahan, 2012, p. 299.

4 Vgl. Barsanti, Claudia „The Fate of the Antioch Mosaic Pavements: Some Reflections“, in: Journal of Mosaic Research, Volume (5), 2012, pp. 25-26.

5 Vgl. Liverani, Mario, “Imperialism”, in: Archaeologies of the Middle East: Critical Perspectives, Susan Pollock S. & Reinhard Bernbeck (eds.), Oxford: Blackwell, 2005.

6 Brands, Gunnar, Antiochia in der Spätantike. Prolegomena zu einer archäologischen Stadtgeschichte, Berlin: de Gruyter, 2016, S. 64.

 

Ezgi Erolforscht in ihrer Dissertation zu den Mosaiken, die im Zuge der französisch-amerikanischen Ausgrabungen 1932-1939 in Antiochia gefunden wurden und ihrer Rezeption in der westlichen Kunstgeschichte. Sie ist Redaktionsmitglied bei Migrazine.