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"Frauenpolitik kann erzkonservativ sein"

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Interview mit María do Mar Castro Varela

migrazine.at: Der 8. März ist ein Datum, das unterschiedliche Geschichtsschreibungen und Bedeutungen in sich vereint: In den 1970er Jahren wurde er von den Vereinten Nationen als Tag für die Rechte der Frauen und den Weltfrieden ausgerufen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts gingen sozialistische und liberale Frauen im März gemeinsam auf die Straße, um für das Frauenwahlrecht zu kämpfen. Welche politischen Kämpfe verleihen dem 8. März aktuell seine Bedeutung?

María do Mar Castro Varela: Nun ja, das ist keine einfache Frage. Eigentlich finde ich, dass der 8. März stark an politischer Ausstrahlungskraft verloren hat. Heute melden sich an diesem Tag vermehrt Unternehmerinnen und konservative Politikerinnen zu Wort. Was ist davon zu halten? Vielleicht, dass Frauenpolitik - heute ist das klarer als in der Vergangenheit - nicht mit linker Politik und kritisch-gesellschaftlicher Intervention gleichgesetzt werden kann. Frauenpolitik kann erzkonservativ sein, weswegen eine gute Portion Skepsis geboten scheint.

Ich sehe die Bedeutung des 8. März vor allem in einer Art Erinnerungspolitik. Es ist doch so, dass privilegierte Frauen in Europa heute ihren Status quo für selbstverständlich erachten, während die Kämpfe, die dafür geführt wurden, klein geredet werden oder gar in Vergessenheit geraten sind, etwa der Kampf um das Wahlrecht, das Recht auf Bildung und freie Berufswahl etc. Eine kleine Chance sehe ich deswegen in einer möglichen Resignifizierung des symbolischen Tages als den Tag, der uns an Kämpfe für mehr soziale Gerechtigkeit erinnert. Dann müssten sich privilegierte Frauen allerdings aktiv mit ihrer Rolle in der Zementierung sozialer Ungerechtigkeit auseinandersetzen und den politischen Einsatz nicht nur dann führen, wenn dabei bessere Konditionen für sie selbst rausspringen. Irgendwie nervt es, dass in Europa mit Frauenpolitik nur noch "Karriere" und die "Vereinbarung von Familie und Beruf" verstanden wird. Als sei Emanzipation nur über Familie und Karriere zu haben.

Wie hat deiner Meinung nach die Auseinandersetzung mit Migration und (Anti-)Rassismus die feministischen Debatten verändert bzw. feministische Politiken beeinflusst?

Bekanntlich haben diese Kämpfe die feministischen Debatten erheblich bestimmt. Vielleicht könnte überspitzt gesagt werden, dass über Feminismus überhaupt nur noch geredet wird, weil es diese Kämpfe im Inneren der feministischen Bewegung gegeben hat. Die Einflüsse waren allerdings eher komplexerer Art: Nicht nur haben die Kämpfe von Migrantinnen und Schwarzen Frauen die feministischen Debatten geprägt, die Auseinandersetzungen im Feld des politischen Antirassismus sind ohne feministische Theorie- und Strategiebildung ebenfalls nicht denkbar. Postkoloniale Theorie beispielsweise wurde und wird stark von feministischen Denkerinnen bestimmt, und Judith Butler hat ganz sicherlich nicht nur die inner-feministischen Diskussionen beeinflusst. Migrantinnen und Women of Color wiederum haben die Texte von Frantz Fanon, Edward Said, Stuart Hall oder Paul Gilroy einer feministischen Lesart unterzogen.

Das Denken ist mit der Aufgabe der unverrückbaren, universalen Vorstellung von 'Frau' komplexer geworden - das Politisieren allerdings auch komplizierter. Im Gegensatz zu nicht wenigen Feministinnen habe ich die antiessenzialistische Wendung nie als depolitisierend empfunden, sondern viel eher als eine Neo-Politisierung, die Selbstkritik im "inner circle" nicht ausschließt.

© migrantas© migrantas

Heute sind Women of Color und Migrantinnen in den deutschsprachigen Hochschulen keine Exotinnen mehr, eine Minderheit sind sie dennoch. Und wir haben es vermehrt mit Dissidentinnen zu tun, die konservative Politik betreiben - etwa Necla Kelek. Zudem hat die Bewegung - wenn von einer solchen überhaupt noch gesprochen werden kann - meines Erachtens bisher keine eigene politische Sprache jenseits eines gewaltvollen Essenzialismus gefunden.

In dieser Hinsicht gibt es noch viel zu tun: Wie können wir politische Solidarität artikulieren, ohne vereinnahmt zu werden? Wie können wir jungen Frauen darlegen, dass nach wie vor patriarchale Strukturen vorherrschend sind, ohne sie zu viktimisieren? Können wir eine antirassistisch-feministische Politik denken, die ohne Zensur und Denunziation auskommt? Die Texte von Butler, Spivak und vielen anderen kritischen Denkerinnen bringen die politischen grauen Zellen in Schwung, aber wie artikulieren wir den Widerstand, der durch das Verstehen dieser Texte zwingend wird? Ich bleibe hier optimistisch und werde sagen: Es ist eine spannende Zeit.

Einige Forderungen der Zweiten Frauenbewegung scheinen auch in der konservativen Tagespolitik angekommen zu sein - Stichwort Gender Mainstreaming, Frauenquoten, Gender Budgeting usw. Steht da eine linke Politik, die Feminismus und Antirassismus konsequent miteinander verknüpft, heute überhaupt noch zur Diskussion?

Dies ist, wie ich bereits angedeutet habe, eines der großen Probleme von Frauenpolitik aus heutiger Sicht. Ich denke, dass es wichtig ist, sich auf der theoretischen Ebene die grundsätzlichen Prämissen einer feministischen Politik anzusehen: Was beispielsweise bedeutet Emanzipation? Wer wird wie im Diskurs um Emanzipation repräsentiert? Die Migrantin, als Muslimin neu codiert, soll sich von ihrem Mann, ihrer Familie und der Religion befreien: Ist das Emanzipation? Während die Europäerin sich als emanzipiert erweist, wenn sie Karriere macht - was immer das heißen mag.

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Interessant hierbei bleibt, dass die Erkennungsmerkmale einer emanzipierten Frau stark von anderen Diskursen beeinflusst werden. In den 1970er Jahren etwa stellten rauchende Frauen mit kurzen Haaren, die keine BHs trugen und erst spät - wenn überhaupt - heirateten, den Prototyp der Feministin dar. Heute haben sich die Merkmale verschoben, wirken mit Abstand gesehen geradezu skurril. Dennoch bleiben äußere Merkmale bestimmend. Kopftuch tragende Feministin bleibt für viele ein Widerspruch in sich. Das Kopftuch erscheint vielen im Gegenteil als das Unterdrückungssymbol per se. Auch wenn wir in der Studie von 2006 der konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung lesen können, dass "(a)uch Kopftuch tragende Frauen (...) nicht auf ihre berufliche Entwicklung verzichten (wollen)". Die Mehrheit will nicht glauben, dass Kopftuch bzw. Religion und Emanzipation kommensurabel sind. Das ist ein Erbe der Aufklärung, mit dem wir uns wohl auseinandersetzen müssen.

Die Interventionen von Aktivistinnen of Color in die feministischen Debatten der vergangenen dreißig Jahren setzten wichtige Impulse, sich verstärkt mit "Klasse" und "Whiteness" auseinanderzusetzen. Ist diese Kritik innerhalb feministischer Zusammenhänge aus deiner Sicht aufgegangen?

Die Kritik der Aktivistinnen of Color setzte meiner Meinung nach ein - und ich spreche hier explizit vom deutschsprachigen Raum -, als die feministische Bewegung ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte. Die Akademisierung und Etablierung feministischer Theoriebildung in Form z.B. der Einrichtung von Gender Studies an allen großen Universitäten hat u. a. die Folge gezeitigt, dass Feminismus heute auch ein abstraktes Spiel mit Worten sein kann - wohlgemerkt nicht muss, aber kann!

Für meine eigene intellektuelle Entwicklung waren die Schriften von Audre Lorde, Gloria E. Anzaldúa, Chandra Talpade Mohanty etc. sehr wichtig. Sie haben mir auch postkoloniale Perspektiven eröffnet, lang bevor es hip war, sich über die Konsequenzen von Kolonialismus und Imperialismus Gedanken zu machen. Heute werden sie nicht mehr allzu häufig gelesen - ihre Schriften wirken zuweilen seltsam untheoretisiert. Warum eigentlich? Nun geht es mir nicht um eine Wiederentdeckung dieser Autorinnen, sondern eher darum zu sehen, warum zu welchen Zeiten welche Bücher gelesen werden. Wie sie den Artikulations- und Protestraum rahmen, der die Themen des Widerstands und der politischen Intervention bestimmen. Wo ihr, wie in eurer Frage angesprochen, eine verstärkte Auseinandersetzung mit "Klasse" ausmacht, weiß ich nicht. Ich sehe zwar ein neues Interesse an (neo-)marxistischer Theorie, aber hier tut sich wieder ein genderfreier Raum auf.

Die Frage ist mithin nicht so einfach zu beantworten. Einerseits wurde auf die notwendigen kritischen Interventionen reagiert. Anderseits ist es erschreckend, wie normal Rassismus auch heute noch in feministischen Kreisen ist.

Welche Konflikte innerhalb der deutschsprachigen Frauenbewegung haben sich denn deiner Meinung nach positiv niedergeschlagen?

Ich würde sagen, dass die Auseinandersetzung in den 1980er und 1990er Jahren um einen bewegungsinternen Rassismus und Antisemitismus sehr wichtig waren. Sie haben die Bewegung im besten aller Sinne erschüttert. Ohne diese Erschütterung wäre bald nichts mehr übriggeblieben, für das es sich gelohnt hätte, weiter Einsatz zu zeigen. Die queeren Interventionen der 1990er haben sich an diese Debatten angeschmiegt und gemeinsam mit den Auseinandersetzungen um Intersektionalität einen Ausweg aus dem Dilemma gewiesen - vielleicht ist es ja doch möglich, mit den komplexen Ungerechtigkeitsstrukturen umzugehen?

Nikita Dhawan und ich haben jedoch mehrfach darauf hingewiesen, dass gerade das Konzept der Intersektionalität sehr oft dafür instrumentalisiert wird, alles beim Alten zu belassen und wieder ungerührt einem eurozentrischen Universalismus zu frönen. Anstatt sich die Widersprüche des politischen Aktivismus anzuschauen, wird dann häufig mechanisch sloganisiert: "Das muss intersektionell betrachtet werden!" Es erinnert dabei an das katholische Ritual der Beichte: Erst wird homogenisiert und nur von der Mehrheit gesprochen, und dann wird hinterhergeschoben, dass alles doch komplexer ist. Die feministische postkoloniale Theorie erscheint mir da fruchtbarer. Eine persistente Kritik à la Spivak ist bei weitem herausfordernder als ein ständiges Runterbeten von Intersektionalität.

Beobachtest du noch unausgeschöpfte Potenziale hinsichtlich der Bündnisarbeit zwischen queeren, antirassistischen und feministischen Aktivistinnen?

Ich hoffe, dass da noch Potenzial ist! Die spannendsten Vertreter_innen sind allerdings die, die in allen drei Bereichen gleichzeitig arbeiten. Vielleicht ist das ja der Weg: Keine Bündnisse suchen, sondern Räume etablieren, die komplexe Denkstrukturen zulassen und Luft machen, um neue politische Strategien zu entwerfen. Und Bündnisse suche ich eher auf internationaler Ebene, um die internationale Arbeitsteilung anzugreifen, und im Bereich der Wissenschaft und Kunst. Hier scheinen mir in der Tat noch viele Potenziale zu liegen.


Beitrag aus migrazine.at, Ausgabe 2011/1.


María do Mar Castro Varela ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Sie ist Tochter von "Gastarbeiter_ innen", die in den 1960er Jahren nach Deutschland migriert sind, um dem faschistischen Spanien und der Armut zu entfliehen. Die Diplompsychologin, Diplompädagogin und promovierte Politikwissenschaftlerin beschäftigte sich insbesondere mit Fragen von Postkolonialer Gerechtigkeit.