F.A.Q. "Zweite Generation"
"Ich hab 'nen grünen Pass mit 'nem goldenen Adler drauf / Doch keiner fragt danach, wenn ich in die falsche Straße lauf […] / Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land / Kein Ausländer und doch ein Fremder", rappte die Heidelberger HipHop-Crew Advanced Chemistry Anfang der 1990er, als deutschsprachiger Rap noch nicht "nordisch by nature" war und inbesondere von sogenannten Migrant_innen der "Zweiten Generation" repräsentiert wurde. Das Stück "Fremd im eigenen Land" ist nur eines von mehreren Beispielen aus der Anfangszeit von HipHop made in Germany, in dem zum einen Rassismus skandalisiert und zum anderen eine "alternative deutsche Identität" entworfen wird, "die nicht auf ethnischen Kriterien beruht, es aber gleichzeitig erlaubt, die gemeinsame Erfahrung ethnisierender Ausgrenzung zu benennen". [1]
Es ist kein Zufall, dass People of Color, die der sogenannten "Zweiten Generation" angehören, von "Einheimischen" immer wieder mit bestimmten Fragen nach ihrer Herkunft konfrontiert und damit als "Andere" markiert werden. Dabei stellen diese "nicht nur die Zugehörigkeit der Angesprochenen infrage – sie reproduzieren auch das ungleiche Machtverhältnis der Fremd- und Selbstbestimmungen". [2]
"Gebrochene" Biografien
Ich gehöre zu den Ältesten der in Österreich geborenen Kinder südkoreanischer Einwander_innen, die ab den 1970er Jahren hierher migrierten. Meiner Erinnerung nach hörte ich die Bezeichnung "Zweite Generation" – ein Begriff, der ursprünglich im Kontext der frühen Debatten über "Integration" in den 1970ern auftauchte und schon damals auf die vermeintlichen Bildungsdefizite, die höhere Kriminalitätsrate sowie eine allgemein fehlende kulturelle Anpassung unter den Nachkommen der "Gastarbeiter_innen" fokussierte [3] – zum ersten Mal am Gymnasium, aus dem Mund einer Lehrerin, die (natürlich nur in "bester" Absicht) meinen angeblichen "Identitätskonflikt" in Worte zu fassen versuchte.
Ich selbst konnte mit dem Etikett zunächst nicht viel anfangen – es bot nichts, womit ich mich hätte identifizieren können. Vor allem benannte der Begriff für mich nicht den permanenten Deklarationszwang, durch den meine Biografie überhaupt erst zum "Problem" wurde: Im Alltag plagten mich die ständigen Fragen meiner österreichischen Mitschüler_innen und deren Eltern über meine "Wurzeln" und wo ich denn nun hingehörte. In diesem Diskurs, in dem nationale Gemeinschaften als ethnisch und kulturell homogen fantasiert werden, waren "grenzüberschreitende" Lebensgeschichten wie die meine höchstens in freudlosen Bildern des "Dazwischenseins" fassbar.
Also hieß es immer wieder: Österreicherin oder Koreanerin? Lieber die Alpen oder den Paekdusan in der Nationalhymne besingen? (Fand ich beides blöd.) Beim Anblick meiner Pässe (mit etwa zwölf Jahren erhielt ich die österreichische Staatsbürgerschaft) regte sich schon als Kind eher die Ästhetikerin denn die Patriotin in mir (alpenländisches Giftgrün plus Adler vs. südkoreanisches Kackdunkelbraun mit Blumensymbol am Deckel des Passes – Fazit: unentschieden). All das führte aber erst zur "Krise", als ich immer öfter aufgefordert wurde, mich zu "entscheiden":
Ursprungsmythen
Doch zurück zum eingangs erwähnten Fragenkatalog an "sichtbare" Angehörige der "Zweiten Generation". Meine persönlichen Top Five in der Hitparade der "Frequently Asked Questions":
"Wo kommst du her? Nein, ich meine, wo kommst du wirklich her?"
"Du sprichst aber gut Deutsch!"
"Willst du später mal wieder zurück in deine Heimat?"
"Wie gefällt es dir hier in Österreich?"
"Und wie denkst du über den Nord-Südkorea-Konflikt?"
Es sind übrigens immer Fremde, die mich unfreiwilligerweise in solche Herkunftsdialoge verwickeln, im Laden, beim Arzt oder im Taxi. Mark Terkessidis, der am Beispiel der "Zweiten Generation" die Bedeutungen und Wirkungen des "banalen Alltagsrassismus" untersucht, nennt diesen Prozess "Verweisung", der den Betroffenen deutlich macht, dass sie dem Land, in dem sie leben, nicht zugeordnet sind – sie folglich also an einen anderen Ort verweist. Diese Verweisung ist gleichzeitig verbunden mit "Entantwortung", der bestimmte (z.B. ethnische) Zuschreibungen in den Vordergrund rückt: Demnach handle ich nicht als individuelles Subjekt, sondern aufgrund meiner Herkunft von vornherein als "Koreanerin".
Eine Antwort auf obige Fragen zu verweigern bedeutet, verständnislose Blicke zu ernten (die übersetzt so viel bedeuten wie: "Man wird ja wohl noch fragen dürfen?"), zudem gilt man dann als "überempfindlich". Und "entspricht die Antwort nicht der normativen Erwartung, löst sie keineswegs Irritation aus, die zumindest zu einer Reflexion der Fragenden führen würde, sondern wird einfach ignoriert, ausgeschaltet oder fragmentiert", wie etwa auch Autorin Isabelle My Hanh Derungs zu berichten weiß. [4]
Trotzdem - anstatt jedes Mal fluchend davonzustapfen, habe ich mir ein Repertoire an Standardantworten zurechtgelegt und starte in regelmäßigen Abständen die Charme-Offensive:
"Meine Eltern kommen aus Südkorea. Und woher stammen Sie?"
"Nein, mein Deutsch ist sogar ausgezeichnet."
"Wohin, in den 15. Bezirk, nach Rudolfsheim-Fünfhaus?"
"Äh, ich hab's ganz eilig, kann ich bitte zahlen?"
"Gar nicht."
Alles Banane?
Angesichts dieses Drucks von außen ist es äußerst schwierig, sich nicht eindeutig zu positionieren (oder es nicht zu wollen). In der Volksschule stritt ich einmal lautstark mit einem Klassenkollegen, weil er mein Statement "Ich habe keine Heimat" partout nicht akzeptieren wollte: "So ein Blödsinn! Jeder Mensch hat eine Heimat!".
"Wenn es aber keinen Begriff gibt, so ist das ein Anzeichen dafür, dass das zu Bezeichnende aus der Norm fällt, dass es nicht bezeichnet werden soll. Es ist nicht so einfach, die Norm bewusst in Frage zu stellen. Einfacher ist es, sich selbst durch die Norm in Frage stellen zu lassen. Daher übernehmen auch viele 'InderInnen der zweiten Generation' für sich selbst Bilder des Zwischen-den-Stühlen-Sitzens, des Minderwertigen, des Halben, des Unvollständigen", beschreibt Urmila Goel einen Ausweg aus dem Zustand des Nicht-Definiert-Seins am Beispiel von "Deutsch-Inder_innen". [5]
Vor diesem Hintergrund stellt die häufig anzutreffende "Selbstethnisierung" bzw. Aneignung einer ethnisierten Identität von "Zweite Generation"-Angehörigen ein strategisches Moment und eine Reaktion dar, um sich Prozessen der Fremddefinition zu widersetzen. [6]
Besonders unangenehm wird es, wenn mich Unbekannte unverhofft zur "Expertin" adeln und mein Wissen zu Korea abrufen wollen (was meist dazu dient, ihre eigene "Weltoffenheit" zur Schau zu stellen) – allen Beteuerungen, dass mein Info-Stand zu koreanischer Politik niedrig und meine Koreanisch-Kenntnisse vernachlässigbar sind, zum Trotz. Sich nicht an der Rolle der kulturellen Dolmetscherin zu erfreuen, wird mit Mitleid oder Verachtung bestraft. Parallel zum "Othering", das mit solchen Forderungen einhergeht – also das Zur-Anderen-gemacht-werden –, führt dies "auch immer wieder zu Beschämungen, da […] viele der Fragen nach dem Herkunftsland nicht beantwortet [werden] können." [7]
Einen solchen Beschämungs- und Definitionsdruck übt übrigens auch die "Heimatseite" aus, wenngleich dieser aufgrund der räumlichen Distanz vergleichsweise schwächer ausfällt. "Außen gelb, innen weiß", diesen Satz haben wohl schon einige asiatische "Bananenkinder" von Eltern und Verwandten gehört. Den Vorwurf, ich sei als "Gyopo", also als Auslandskoreaner_in, total "verwestlicht", habe ich dabei nicht nur einmal schlucken müssen.
Repräsentationsbilder
Was die "Zweite" (und spätere) von der "Ersten Generation" unterscheidet, ist demnach die unmittelbare Erfahrung eines "doppelten Andersseins". Das "Nicht-Ausweisen-müssen, das Sich-Nicht-Erklären-Müssen, das gegenseitige Verstehen der jeweiligen natio-ethno-kulturellen (Mehrfach-)Zugehörigkeit" beschreibt Urmila Goel daher auch als das Spezifische an den "Räumen der Zweiten Generation", in denen das Gefühl, unter "Gleichen" zu sein und selbst die Norm definieren zu können (anstatt durch das Anderssein definiert zu werden), vorherrscht. [8]
Andernfalls sind für Angehörige der "Zweiten Generation" im Wesentlichen zwei Repräsentationsfiguren vorgesehen: Zum einen wäre da das zerrissene Wesen, das angesichts der "kulturellen Inkompatibiltäten" und des Gefangenseins im Dazwischen leidet (repressive Familienwerte versus persönliche Freiheit! Fremde Traditionen gegen westliche Moderne!). Zum anderen gibt es noch das Erfolgsmodell "Kulturbotschafter_in". So löst beispielsweise meine Herkunft bei vielen (und dazu gehören auch kritische Geister, die ein antirassistisches Selbstverständnis pflegen) romantische Gefühle aus: "Toll, da kannst du dir das Beste aus beiden Kulturen rausholen", erklären sie mir, oder "Wow, dann sprichst du ja ganz viele Sprachen!", und kriegen angesichts ihrer eigenen, öden mitteleuropäischen Single-Kultur fast feuchte Augen.
Und dennoch, der Rassismus, den so viele "Zweite Generation"-Angehörige aus ihrem persönlichen Alltag kennen, lässt sich nur bedingt mit den Ausschlüssen anderer Migrant_innen vergleichen, denn sie genießen in vielen Fällen auch Privilegien, wie etwa den Besitz der Staatsbürgerschaft des Landes, in dem sie sich aufhalten. In einem Interview mit der Schweizer Wochenzeitung "WoZ" erklärte die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak einmal: "Die meisten von uns gutsituierten Migrantinnen und Migranten, die aussehen, als kämen sie von anderswo, aber dennoch völlig in die westliche Gesellschaft integriert sind, werden für diese Rolle als sogenannte Kulturvermittelnde belohnt. […] Gutsituierte Frauen in der Diaspora achten nicht auf die ökonomischen Aspekte, weil sie selbst eurozentristisch orientierte, ökonomische Migrantinnen sind." [9]
Auch wenn ich mich hier immer wieder mit den kulturellen Zuschreibungen als "Asiatin" herumschlagen muss und ich mich in Situationen wiederfinde, in denen ich mich selbst mit den Augen meiner Betrachter_innen sehe, spreche ich nicht einfach aus einer "gemeinsamen" Position des Ausschlusses heraus. Ich spreche nicht, um es mit Spivak zu formulieren, für Migrantinnen, sondern beziehe mich vielmehr auf sie.
Belonging – and beyond
Erstaunlich ist, dass die "Zweite Generation" (mittlerweile kann man bereits von der "Dritten" und "Vierten Generation" sprechen) bislang noch kaum theoretisch erfasst wurde. In den recht überschaubaren Auseinandersetzungen zum Phänomen "Zweite Generation" im deutschsprachigen Raum taucht immer öfter der Begriff "postmigrantisch" auf, der den angloamerikanischen Literaturwissenschaften entliehen ist. Postmigrantisch, "das sind die Geschichten derer, die Migration selbst nicht erlebt haben, aber in deren Leben der Perspektivwechsel eine Rolle spielt", wie die deutsch-türkische Theaterintendantin Shermin Langhoff in einem Zeitungsinterview erläutert.
Tatsächlich scheint die Generation der "Postmigration" durch ein Selbstverständnis charakterisiert, das herkömmliche, ethnisch-national definierte Identitätsentwürfe infrage stellt und stattdessen ein neues Vokabular von Zugehörigkeit entwickelt – was mancherorts beinahe euphorisch diskutiert wird: "'Das Leben zwischen Welten', das bisher als Problem wahrgenommen wurde, wird zur passenden Metapher für kosmopolitisch performative, ja sogar subversive. In diesem Sinne stellen postmigrantische Lebensentwürfe Grenzbiographien dar. Grenzen die nicht als Barrieren, sondern Schwellen, Orte des Übergangs, der Bewegung verstanden werden." [10]
In diesem Zusammenhang zielt die Frage nach einem Raum, den Angehörige der "Zweiten Generation" miteinander teilen, weniger auf eine faktische denn auf imaginierte Gleichheit ab, wie Urmila Goel treffend beschreibt. Erwähnenswert erscheint mir an dieser Stelle auch das Konzept des "Belonging", wie es von Sabine Strasser im Kontext transnationaler Praktiken von Migrant_innen formuliert wurde und das sich auch auf die Situation von "Zweite Generation"-Angehörigen umlegen lässt: "Belonging betont soziale und emotionale Verbindungen zwischen Menschen, ohne Identitäten anrufen zu müssen. Es ermöglicht, sich auf Prozesse des Verhandelns zu konzentrieren, die manchmal identitäre Positionen heranziehen, und andere Male strategische Zugehörigkeit für ein bestimmtes Ziel ohne gemeinsame Positioniertheit nützen. Prozesse von Identitäten können dabei zentral werden, müssen aber nicht die Grundlage für den Tausch von Wissen, Informationen oder für gemeinsame Strategien bilden. Differenzen werden in diesem Kontext als Forderung nach Gleichheit oder Kritik an der Ungleichheit verstanden, nicht als Kehrseite von fixierten oder fixierenden Identitäten. Belonging zielt in diesem Sinne auf die durch Interaktionen verbundenen Personen." [11]
Auch wenn das Label "Zweite Generation" eigentlich einem Problemdiskurs entstammt und nicht zuletzt aufgrund der Heterogenität seiner Repräsentant_innen recht vage ist, macht seine Aneignung durchaus Sinn, denn für die derart Angesprochenen bedeutet das Neu-Besetzen auch Subjektivierung und damit die Möglichkeit einer positiven Selbstdefinition. Allerdings scheint die Bezeichnung noch ein Stück weit davon entfernt, auch als politische Identität zu funktionieren, wie sie in Bezug auf den Begriff "Migrant_in" teilweise diskutiert wurde. Wie dies möglich oder überhaupt wünschenswert ist, könnte Gegenstand weiterer Auseinandersetzungen werden.
Fußnoten:
[1] Fatima El-Tayeb: "Medien, Machos und Mädchenrap: 'Tic Tac Toe'", Online-Dossier "Afrikanische Diaspora in Deutschland" der Bundeszentrale für politische Bildung, 30. Juli 2004.
[2] Isabelle My Hanh Derungs: "Die Zweite Generation". In: Olympe – Feministische Arbeitshefte zur Politik, "Secondas: Sichtbar vielfältig", Heft Nr. 22, Dezember 2005. S. 6–13.
[3] Siehe: Mark Terkessidis: Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. Bielefeld: Transcript 2004.
[4] Hanh Derungs 2005
[5] Urmila Goel: (Frei)Räume der zweiten Generation: Wege und Formen von Repräsentation. In: Anne Broden/Paul Mecheril (Hg.Innen): Re-Präsentationen: Dynamiken der Migrationsgesellschaft. Düsseldorf: IDA-NRW 2007. S. 203–227. Online: http://www.urmila.de/UDG/Forschung/texte/GoelFreiraeume.pdf
[6] Vgl. Encarnación Gutiérrez Rodríguez: Intellektuelle Migrantinnen – Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung. Opladen: Leske-Budrich 1999.
[9] Ursula Biemann/Yvonne Volkart: "Gender ist das grosse Ding", Interview mit Gayatri Chakravorty Spivak, WoZ, 14.5.1998.
[10] Erol Yildiz: "Die Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe". In: SWS Rundschau, Wien: Sozialwissenschaftliche Studiengesellschaft 3/2010. S. 318–339. Online: www.uni-klu.ac.at/frieden/downloads/yildiz-artikel-postmigrantisch.pdf
[11] Sabine Strasser: Beyond Belonging. Kulturelle Dynamiken und transnationale Praktiken in der Migrationspolitik "von unten". Universität Wien: Habilitationsschrift 2003.