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Räume der "Zweiten Generation"

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von Urmila Goel

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mir mein Vater im ersten Schuljahr anhand unserer Familie die Mengenlehre erläuterte. Er fragte, wenn drei Inder_innen (gegendert hat er den Begriff allerdings nicht) und drei Deutsche an einem Tisch säßen, wie viele Personen das seien. Im Fall unserer Familie lautete die Antwort: vier – Mutter Deutsche, Vater Inder und die beiden Kinder sowohl Inder_innen als auch Deutsche (und damit Teil einer Schnittmenge). Meiner natio-ethno-kulturellen (Mehrfach-)Zugehörigkeit muss ich mir also schon früh bewusst gewesen sein. Was ich nicht mehr weiß, ist, ab wann ich den Begriff "Zweite Generation Inder_innen" (ich gendere die Begriffe in diesem Text, auch wenn ich es damals nicht getan habe) als Identitätskategorie kennengelernt und angenommen habe. Irgendwann aber gehörte er selbstverständlich zu mir, und auch heute noch – wo ich mich von ihm theoretisch abgewandt habe – fühle ich mich ihm verbunden.

Inder_innen der Zweiten Generation

Meine Auseinandersetzung mit der Identitätskategorie "Zweite Generation Inder_innen" fand vor allem bei den zwischen 1994 und 2003 abgehaltenen Jugendseminaren in Bad Boll statt. Diese Seminare wurden von der Deutsch-Indischen Gesellschaft für die Zweite Generation organisiert und waren für viele von uns Teilnehmenden die erste Gelegenheit, mit anderen aus der Zweiten Generation in einem Raum zu sitzen. Es zeigte sich, dass diese gemeinsame Kategorisierung mit gemeinsamen Erfahrungen und einem Bedarf an Austausch einherging. Die Bad Boller Jugendseminare, aber auch "indische" Party-Veranstaltungen sowie das Internetportal Indernet boten als "Räume der Zweiten Generation" Orte der gemeinsamen Erfahrung, der Abwesenheit von Erklärungsdruck und damit der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit – Orte, an denen sich die "Zweite Generation Inder_innen" in Bezug auf die unscharfen Konzepte "Nation", "Ethnie" und/oder "Kultur" als (fraglos) zugehörig empfinden können. In diesen physischen und virtuellen Räumen (die Bad Boller Jugendseminare, die indischen Partys und das Indernet gibt es mittlerweile nicht mehr als Orte des Austauschs, andere "Räume der Zweiten Generation" mögen sich indes gebildet haben) erfolgte auch eine Aushandlung dessen, was "Zweite Generation Inder_innen"-Sein bedeutet.

Insbesondere in Bad Boll fanden explizite Begriffsdiskussionen statt. So versuchte ich zum Beispiel, in Anlehnung an den Begriff "Afro-Deutsche" die Selbstbezeichnung "Indo-Deutsche" einzuführen, scheiterte aber damit. Zu den selbst genutzten Begriffen (überwiegend ungegendert) gehörten neben "Zweite Generation Inder_innen" auch "Inder_innen", "Deutsch-Inder_innen", "Halb-Inder_innen", "Indogerman_innen", auf Indernet und den Partys war auch von Desis die Rede. Die Selbstbezeichnungen stellten allesamt einen Bezug zu Indien her, aber nur zum Teil auch einen zu Deutschland.

Symbolische Gemeinschaften

Für mich bedeutete der Begriff "Zweite Generation Inder_in" zunächst, dass die so bezeichnete Person zumindest einen Elternteil aus Indien hatte und in Deutschland aufgewachsen war. In den "Räumen der Zweiten Generation" und bei Interviews für mein Forschungsprojekt zum Indernet (2004–2006) stellte ich jedoch bald die Unschärfe des Begriffs fest. Verbindend für die Nutzer_innen war zwar die gefühlte Zugehörigkeit zu den beschriebenen "Räumen der Zweiten Generation" – was sie aber jeweils unter dem Begriff "Zweite Generation" verstanden, war durchaus unterschiedlich und teilweise auch mit Ausgrenzungen verbunden: Für mich reichte es aus, nur einen aus Indien migrierten Elternteil zu haben, um mich der "Zweiten Generation" zugehörig zu fühlen. Einige andere, deren beider Elternteile aus Indien kommen, sahen das hingegen nicht so. Für mich gehörte die Anwesenheit des migrierten Elternteils im eigenen Leben dazu. Es gab aber auch Personen, die sich "indisch" fühlten, obwohl sie keinen Kontakt zum indischen Elternteil hatten. Auch Adoptierte, die zur Gänze in Familien der Dominanzgesellschaft aufgewachsen waren, fühlten sich den "Räumen der Zweiten Generation" verbunden.

Für die Zugehörigkeit zu Indien musste zudem nicht immer eine direkte biografische Verbindung zu Indien vorhanden sein. Für einige, zum Beispiel einen Sohn von Sikhs aus Afghanistan, war das Gefühl der Zugehörigkeit zu Indien entscheidend. Für manche, wie etwa eine Tochter von Pakistanis, war die Zuschreibung zu Indien ausschlaggebend. Für andere wiederum war dieser erweiterte Indienbezug untragbar.

In den "Räumen der Zweiten Generation" habe ich Menschen aus all diesen Kategorien getroffen, die das Gefühl hatten, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Diese symbolische Gemeinschaft funktioniert, solange sie unscharf und individuell interpretierbar bleibt und Ausgrenzungen nicht thematisiert werden, da sich alle zugehörig fühlen und sich mit den anderen als gleich imaginieren können. Allerdings gibt es auch bei funktionierender Imagination immer auch Menschen, die sich in den "Räumen der Zweiten Generation" als nicht zugehörig empfinden, weil sie sich beispielsweise nicht primär natio-ethno-kulturell definieren wollen, ihnen die politische Ausrichtung der Räume nicht zusagt oder sie sich von der Heteronormativität abgeschreckt fühlen.

Ein Ergebnis meiner Interviews und Beobachtungen war, dass die Gemeinsamkeit zwar über Indien definiert wird, das Gemeinsame aber nicht das Land selbst, sondern das Auf-Indien-verwiesen-Werden in Deutschland (bzw. den deutschsprachigen Ländern) ist. Dies gilt sowohl für die Person, die mit zwei indischen Elternteilen in Deutschland aufgewachsen ist und in Indien gelebt hat, als auch für jene, die aus Sri Lanka von einer Familie der Dominanzgesellschaft nach Deutschland adoptiert wurde und keinen Kontakt zu Südasien hat. Ihr jeweils individueller Bezug zu Indien könnte unterschiedlicher kaum sein, doch sie beide werden in Deutschland als "Inder_innen" wahrgenommen und auf Indien verwiesen.

Bezeichnungspraxen

Nicht nur weil der Begriff "Zweite Generation Inder_innen" ein so unscharfer ist, sondern auch weil ich ihn theoretisch für problematisch halte, habe ich mich in meinem Schreiben zunehmend von ihm abgewandt. Problematisch finde ich ihn, da er den Bezug zu Indien hervorhebt und festschreibt (und damit essenzialisierend wirkt). Zudem impliziert das Generationen-Motiv, dass natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit eine biologische Tatsache ist, die von einer Altersklasse zur nächsten weitergegeben wird. Es unterstellt des Weiteren die heteronormative Familie als Tatsache, in der die biologischen Eltern auch die sozialen sind und ihre Kinder als Mitglieder ihres natio-ethno-kulturellen Herkunftskontextes erziehen. Darüber hinaus wird damit nahegelegt, dass sich die so Kategorisierten in erster Linie als Kinder von Migrant_innen erfahren. Auf diese Weise wird das Anderssein nicht nur am Aussehen festgemacht, sondern auch in die Gene gelegt und so biologistisch determiniert.

Weiterhin ungeklärt bleibt, was genau die Erste und die Zweite Generation sind: Wann fängt die Generationenzählung an, wann hört sie auf? Wer wird als der gleichen Generation zugehörig konstruiert, und welche gemeinsamen Erfahrungen werden dadurch betont? Gehören Adoptierte zur Ersten oder zur Zweiten Generation? Gibt es auch eine Dritte Generation, und wenn ja, was macht diese aus? (Bei den Bad Boller Jugendseminaren nahmen u.a. auch zwei Enkel_innen eines indischen Migranten teil, die sich den anderen Teilnehmenden zugehörig fühlten und auch so angenommen wurden.)

Der Begriff "Zweite Generation Inder_innen" unterstellt, dass die eine Gemeinsamkeit Indien ist. Wie ich vorhin ausgeführt habe, gilt diese Gemeinsamkeit jedoch nicht hinsichtlich eines gemeinsamen biografischen Bezugs zu Indien, sondern nur aufgrund des kollektiv erfahrenen Verweises auf Indien. Die Gemeinsamkeit ist somit viel weniger Indien als Deutschland – der Ort, von dem aus dieser Verweis erfolgt und an dem Indien imaginiert wird.

Theoretisch lassen sich diese Beobachtungen mit dem Konzept der "Anderen Deutschen" von Paul Mecheril fassen. Mit dieser Analysekategorie fokussiert Mecheril auf die Gleichzeitigkeit des Zugehörigkeitsgefühls zu und des Anders-Gemacht-Werdens in Deutschland. Diesen Begriff habe ich eine Zeit lang benutzt, auch mein Blog greift ihn in seinem Titel auf.

Problematisch ist am Begriff allerdings, dass er Deutschland (anstatt Indien) fokussiert und damit einen methodologischen Nationalismus nahelegt. Es unterstellt, dass der wichtigste natio-ethno-kulturelle Bezugspunkt für die Betreffenden Deutschland ist und homogenisiert derart die Vielfalt der so Kategorisierten auf unzulässige Weise.

In den "Räumen der Zweiten Generation" waren mir sowohl Menschen begegnet, die in einem anderen deutschsprachigen Land leben und sich in keinster Weise als Deutsche verstehen, wie auch Menschen, die neben Deutschland auch in anderen Ländern gelebt haben oder leben und zu denen sie ebenfalls eine Zugehörigkeit empfinden. Auch jene, die primär in Deutschland gelebt haben, haben zum Teil eine enge Zugehörigkeit zu anderen natio-ethno-kulturellen Kontexten, insbesondere Indien, ausgedrückt. Die Zuschreibung "deutsch" für all diese Menschen verdeckt diese transnationalen Verbindungen und die natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten.

Aus diesen Überlegungen heraus verwende ich mittlerweile den Begriff der "Anderen Deutschen" nicht mehr in meiner Forschungsarbeit. Da ich mich insbesondere für eine rassismuskritische Analyse des Lebens in Deutschland interessiere, konzentriere ich mich in meiner derzeitigen Bezeichnungspraxis auf den Prozess der Rassifizierung bzw. des Als-Andere-Hergestellt-Werdens. Mich interessiert, welche Erfahrungen Menschen machen, die in Deutschland (oder in deutschsprachigen Ländern) als Inder_innen wahrgenommen oder konstruiert werden, und wie sie mit diesen Erfahrungen umgehen. Meine Aufmerksamkeit gilt vor allem den Erfahrungen jener, die wie ich in Deutschland (oder in deutschsprachigen Ländern) aufgewachsen sind. Um diese Kategorie zu beschreiben, verwende ich Formulierungen wie "in Deutschland (oder in deutschsprachigen Ländern) aufgewachsen und dort als Inder_innen wahrgenommen", um so den Zuschreibungsprozess in den Vordergrund zu rücken. Diese Analysekategorie nutze ich unabhängig davon, wie sich die von mir Kategorisierten selbst definieren, ob sie sich Deutschland, Indien und/oder einem anderen Land zugehörig fühlen.
Doch auch mit meinem eigenen Fokus auf Deutschland besteht weiterhin die Gefahr des methodologischen Nationalismus: Ich betone damit die Bedeutung der Konstruktion "Deutschland" für die Analyse und beteilige mich damit an der Herstellung dieser Bedeutung.

Keine richtigen Begriffe

Mein Forschungsansatz fokussiert das Machtverhältnis Rassismus und seine Relevanz für das Zugehörigkeitsgefühl von in Deutschland (oder in deutschsprachigen Ländern) Aufgewachsenen. Damit blende ich andere Einflussfaktoren wie familiäre Verbindungen, transnationale Mobilität oder kulturelle Prägungen aus. Ich mache das, da in meinen Beobachtungen der Faktor der Zuschreibung der einzige war, der alle Beobachteten miteinander verbunden hat, und weil ich durch mein Schreiben rassistische Strukturen beschreiben, analysieren und skandalisieren will. Allerdings ist der Fokus auf Rassismus nicht frei von Einengungen und wird auch von vielen als ein marginalisierender wahrgenommen: Er produziert mitunter die Vorstellung, dass die Rassifizierten ausschließlich "Opfer" sind und keine eigene Akteur_innen-Rolle innehaben.

Vor allem aber handelt es sich bei Begriffen wie "Andere Deutsche" oder "als Inder_innen Wahrgenommene" in den seltensten Fällen um (Selbst-)Bezeichnungen von Menschen, sondern um analytische Konzepte. Ihr Ziel ist es, präzise Erklärungen zu liefern, nicht aber eine Gruppenzugehörigkeit festzulegen. Zugehörigkeitsgefühle und politische Kämpfe werden mit den unterschiedlichsten Selbstbezeichnungen ausgedrückt bzw. durchgeführt. Dabei sind die gewählten Bezeichnungen häufig durch dominante Diskurse geprägt, die das Anderssein – und nicht das Deutschsein – betonen. Sie geben auch Hinweise auf die politischen Verortungen: So deuten Selbstbezeichnungen wie "Deutsch-Inder_innen", "Zweite Generation Inder_innen" und "Halb-Inder_innen" darauf hin, dass die Zuordnungen "Deutsch" und "Indisch" grundsätzlich anerkannt werden und innerhalb dieser Logik ein Platz gesucht wird. In meinen Interviews bin ich selten auf Selbstbezeichnungen gestoßen, die diese Logik hinterfragen. Eine Interviewte bezeichnete sich als "Schwarzkopf" und verortete sich dadurch jenseits üblicher natio-ethno-kultureller Zuschreibungen auf rassismuskritische Weise. Selten waren auch (Selbst-)Verortungen, die andere Machtverhältnisse wie Heteronormativität miteinbezogen.

Bei einem Interview in der Schweiz stieß ich 2004 zum ersten Mal auf die Bezeichnung "Secondos"/"Secondas". Meine Interviewpartnerin erklärte ihren Bezug zum Indernet wie folgt:

Bei mir ist es so, ich treffe noch so viele Inder, aber ich habe nichts mit denen gemein. Also sehe ich nicht, warum ich mit denen irgendwie was machen sollte. Ich denke, bei mir ist es dann eher so, dass es darauf ankommt, hat jemand die gleichen Interessen wie ich. Bei vielen Leuten beim Indernet muss ich ehrlich sagen, die sind viel jünger als ich und haben andere Interessen. Ich bin sehr kulturinteressiert, auch business-interessiert und da habe ich kaum jemanden auf dem Indernet gefunden, der das Interesse teilt. Mit jemanden etwas abzumachen, weil er indischen Ursprungs ist, ist für mich nicht Argument genug. Ich meine, ich bin jetzt hier in der Schweiz engagiert bei den Secondos, das ist so eine Vereinigung für Ausländer der zweiten Generation. Das richtet sich an alle Secondos, sei es jetzt Serbo-Kroaten, sei es jetzt Türken, Deutsche in der Schweiz zweiter Generation. Also, es sind wirklich alles Secondos, egal von wo.

Ein solch umfassendes Konzept der Zweiten Generation gibt es in Deutschland, soweit ich das beobachten konnte, bisher nicht. Hier bezieht sich der Begriff immer auf einen bestimmten natio-ethno-kulturellen Kontext wie Inder_innen, Türk_innen oder Italiener_innen der Zweiten Generation. Zudem findet unter dieser Bezeichnung keine größere politische Mobilisierung statt.

Zum Abschluss dieses Artikels möchte ich nicht für eine bestimmte Bezeichnungspraxis plädieren. Es gibt keine richtigen Begriffe, aber alle Begriffe sind produktiv. Begriffe produzieren bestimmte Bilder, und deshalb ist es wichtig, dass wir sie achtsam auswählen, damit wir die Bilder aufrufen, die wir aufrufen wollen. Ich muss entscheiden, was ich bezeichnen will, was ich damit erreichen will und welche Ausgrenzungen ich dafür in Kauf nehme. In meinem Schreiben habe ich mich zurzeit für eine Beschreibung des Zuschreibungsprozesses entschieden, fühle mich aber trotzdem auch weiterhin als Teil der Zweiten Generation von Inder_innen.


Anmerkung: Bibliografische Hinweise in den Links und auf den verlinkten Seiten.

Urmila Goel ist freiberufliche Wissenschaftlerin und Trainerin in Berlin mit den Schwerpunkten Migration, Rassismus, Heteronormativität und Intersektionalität. Mehr Informationen auf www.urmila.de und im Blog http://andersdeutsch.blogger.de.