"Es geht darum, die Welt zu verändern"
migrazine.at: maiz gibt es 2014 seit zwanzig Jahren. Wie kam es zur Gründung des Vereins, was hat euch damals bewegt?
Luzenir Caixeta: Was uns - Tania Araujo, Rubia und mich - damals stark bewegt hat, war die Unzufriedenheit mit dem Neoliberalismus sowie die Suche nach Alternativen. Wir waren inspiriert von den Widerstandsbewegungen an anderen Orten, wie etwa von den Zapatistas in Chiapas in Mexiko. In diesem Kontext starteten wir den Versuch, hier als Migrantinnen gemeinsam mit anderen Migrantinnen etwas zu gestalten. Da war ein gewisses Begehren, etwas Eigenes zu schaffen, das unseren Bedürfnissen entgegenkommt.
Rubia Salgado: Von den drei maiz-Gründerinnen bin ich am frühesten nach Linz gekommen. Ich habe lange versucht, hier Kontakte herzustellen, mich zu engagieren. Ich war in unterschiedlichen Zusammenhängen aktiv und konnte nicht verstehen, wie hier Politik gemacht wird. Zum Beispiel war es damals noch viel selbstverständlicher, dass andere für Migrantinnen sprechen. Es gab kein oder nur ein geringes Angebot an Deutschkursen für Frauen. Ich und ein paar Kolleginnen haben dann die ersten frauenspezifischen Deutschkurse organisiert. Sonst gab es in Linz keine Frauenräume für Migrantinnen.
Dafür waren die Gewerkschaften und Sozialdemokraten sehr bestimmend. Es war ein sehr männerdominierter Kontext, absolut heteronormativ und stark karitativ geprägt. Es gab keinen Ort für radikale Positionen. In den letzten zwanzig Jahren hat sich zwar nicht allzu viel verändert - aber es ist schon zu merken, dass andere Räume entstanden sind, nicht nur in Linz. Es haben sich alternative Räume konstituiert, die versuchen, sich außerhalb der paternalistischen Logik des "Für die anderen Sprechens" zu entfalten.
Mittlerweile hat maiz ein sehr großes Arbeitsfeld, angefangen von Beratung bis zu Bildung, Forschung und Kultur. Wie haben eure Aktivitäten zu Beginn ausgesehen?
Salgado: Wir bemerkten schon früh die Anwesenheit von Frauen aus der Karibik in Linz und wussten, dass viele von ihnen in der Sexarbeit tätig waren. Wir begannen, die Frauen anzusprechen und sie einzuladen. Die Gruppe, die sich ursprünglich getroffen hat, war aber dagegen, dass die Sexarbeiterinnen - damals wurde der Begriff "Huren" benutzt - zu den Treffen kommen. Wir haben dann gesagt: Gut, wenn ihr euch nicht mit den Huren treffen wollt, dann könnt ihr nicht kommen. Die Sexarbeiterinnen waren dann immer öfter bei den Treffen dabei, und bald kam die Frage auf: Was wollen wir? Was ist wichtig? Für die meisten waren es Deutschkurse. Und das war dann die erste strukturell organisierte, regelmäßige Aktivität von maiz. Sie war eine sehr wichtige Erfahrung für uns alle, und es kamen enorm viele Frauen.
Caixeta: Die Deutschkurse sind schnell größer geworden, und immer mehr Frauen sind in der Pause mit Fragen gekommen. Die Lehrerinnen waren schon bald ziemlich überfordert mit den vielen Fragen. Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, als Rubia sagte: "Eine von euch muss in der Pause da sein, ansonsten kann ich nicht einmal eine Zigarette rauchen." Wir haben es dann geschafft, einen Raum zu bekommen, in dem wir einmal in der Woche unsere Beratung machen konnten.
Am Anfang waren Bildung und Beratung unsere hauptsächlichen Arbeitsbereiche. Von den Mehrheitsösterreicher_innen wurden uns bald viele Fragen gestellt. Es gab ein großes Interesse und wir überlegten, was wir vermitteln wollen. So ist die sogenannte politische Kulturarbeit bei maiz entstanden. Das erste Mal, dass wir damit in der Öffentlichkeit aufgetreten sind, war 1996 mit der "Peepshow einmal anders", die Frauenmigration, Sexarbeit und Sextourismus thematisierte. Es war ein Experiment und zeigte uns, dass es wichtig ist, andere Formate jenseits der klassischen Formen der Öffentlichkeitsarbeit zu schaffen.
Salgado: Ich war damals stark involviert in die Organisation der "Begegnungstage", die von der Stadt Linz veranstaltet wurden. Bei einem Treffen mit einer österreichischen Vereinsfrau, die mit Migrantinnen arbeitete, sagte sie: "Nein, Sexarbeit ist kein Thema für diese Veranstaltung." Wir argumentierten, dass Frauen, Migration und Sexarbeit eine wichtige Fragestellung ist, bei der wir nicht wegschauen sollten. Der Verein wollte das aber nicht, und wir sagten: Okay, dann machen wir die "Peepshow einmal anders". Das war eine interaktive Performance, für die wir eine Peepshow-Kabine aufbauten. Wir wollten damit stören, herausfordern und Irritation erzeugen. Und haben das auch geschafft.
Es gibt vieles, das wir nie gemacht haben, das aber andere Migrantinnen vielleicht gerne gemacht hätten - zum Beispiel "interkulturelle Begegnung" oder Folklore, also die Selbstexotisierung von Migrantinnen. Wir stellen die Legitimität dafür nicht infrage, für viele kann die Pflege der Traditionen wichtig sein, aber maiz ist nicht der Raum dafür. Wir haben das von Anfang an problematisiert, auch in der Bildungs- und Beratungsarbeit. Uns geht es nicht bloß um eine affirmative Begegnung im Sinne von "das, was die Frauen, mit denen wir arbeiten, sagen, ist das, was wir zu machen haben". Es ist ein dialogisches und auch hinterfragendes Miteinander. Sonst wäre es letztendlich eine paternalistische und opportune Geschichte.
Caixeta: Die Ethnisierung wäre auch ein falscher Schritt, weil wir seit 1998 unsere Zielgruppen stark erweitert haben. Diese Entscheidung, Frauen aus unterschiedlichen Ländern und Tätigkeitsfeldern bei maiz einzubinden, wurde stark von den (lateinamerikanischen) Sexarbeiterinnen getragen. Sie nahmen zum Beispiel Kolleginnen mit, die nicht aus Lateinamerika waren, und sagten: "Sie ist auch Migrantin und braucht eine Beratung." Sie haben auch Freundinnen und Familienmitglieder mitgebracht, die nicht in der Sexarbeit tätig waren. Die Entfaltung von maiz wurde also stark von den Sexarbeiterinnen gefördert.
Salgado: Es gab Frauen, die die Kurse verlassen haben, weil sie nicht als Sexarbeiterinnen wahrgenommen werden wollten. Wir haben immer versucht, die unterschiedlichen Perspektiven zu hören und uns mit diesen auseinanderzusetzen.
Caixeta: Genau, nicht den Konflikt zu vermeiden, sondern das zu thematisieren und Raum zu geben, in dem die Frauen das diskutieren können. Das sind immer wieder auch sehr schmerzhafte Diskussionen.
Ein wichtiges Konzept, das maiz von Beginn an begleitet, ist die Anthropophagie oder der strategische Kannibalismus. Kann das "Einverleiben" einer hegemonialen Kultur auch als Gegenstrategie zu den Vereinnahmungsversuchen, die ihr erwähnt habt, gesehen werden?
Salgado: Das ist ein Thema, dass bei uns gerade sehr heftig diskutiert wird. Es gibt dazu unterschiedliche Meinungen. Die Anthropophagie war eine künstlerische Bewegung in den 1920er Jahren in Brasilien, die für die gesamte brasilianische kulturelle Produktion bedeutsam war. Bis dahin war die Kulturproduktion in Brasilien und überhaupt in Lateinamerika immer nach dem Muster europäischer Traditionen gestrickt - insofern war es sehr wichtig, aus der kolonialisierten Realität heraus einen Gegenentwurf zu schaffen. Mit dem Modernismus und der anthropophagischen Bewegung gab es einen Schnitt. Es wurde gesagt: "Wir gehen in die Offensive, wir fressen euch und machen was anderes daraus."
Einer der Kritikpunkte an diesem Konzept ist, dass damit eine Dichotomie erzeugt wird. Also die Vorstellung einer bestimmten brasilianischen kulturellen Identität gegenüber einer bestimmten europäischen kulturellen Entfaltung und Produktionsweise. Diese Homogenisierung problematisieren wir. Wenn wir das Konzept der Anthropophagie übernehmen, stellt sich die Frage: Wie können wir hier ein "Wir" bilden? Was ist dieses "Wir Migrantinnen, wir fressen ..."? Aber auch: Was ist Europa? Welche Kultur fressen wir? Wen fressen wir?
Im anthropophagischen Konzept wird auch das Begehren der Kolonialisierten nach dem kolonialen Lebensstil, nach dem Lebenszusammenhang, letztlich nach dem Kolonisator nicht hinterfragt. Das Begehren der Nachahmung, das Gleich-Werden mit dem Kolonisator wird nicht thematisiert. Das ist eine Leerstelle in der Anthropophagie. Es wird gesagt, dass uns etwas aufgesetzt wird, aber über sich selbst wird zu wenig nachgedacht.
Wenn wir das übersetzen auf die Situation der Migration, ist das ebenso der Fall. Ich finde es gefährlich, dass das Begehren der minoritären, diskriminierten Position nach dem Unterdrücker nicht benannt wird. Ich denke da immer an die berühmte Frage von Gayatri C. Spivak: "Was ist denn das, was ich nicht nicht wollen kann?" Sie stellt diese Frage aus der Perspektive einer Person in einer privilegierten Position, im Zusammenhang mit der politischen Arbeit an der Transformation ungleicher Verhältnisse. Wenn wir über die Anthropophagie sprechen, sollten wir uns also fragen: Was ist dieses "Wir"? Und was ist das, was wir nicht nicht wollen können in diesem Sprechen?
Im Rahmen der "Anthropophagischen Woche" wird von maiz die "Universität der Ignorant_innen" eröffnet. Warum habt ihr euch entschieden, den Raum, in dem gegenhegemoniales Wissen produziert werden soll, "Universität" zu nennen? Die Universität gilt ja als die Institution der hegemonialen Wissensproduktion schlechthin.
Caixeta: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer ist, dass es schon viele Erfahrungen gibt mit alternativen Universitäten, in verschiedenen Kontinenten und mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die sehr spannend sind. Wir wollten an diese Tradition anknüpfen und aus diesen Erfahrungen lernen. Ein anderer Grund ist, dass wir dem, was bei uns sowieso ständig passiert, also diesem großen Labor, wo Wissen produziert und hinterfragt, neu gedacht und entfaltet wird, einen Rahmen geben wollen - mit einem Titel, der sehr imposant daherkommt. Auch das ist eine bewusst gewählte Strategie. Und wir sehen an den Reaktionen, dass es anscheinend funktioniert. Die Leute reagieren überrascht. Zum Beispiel war die Bildungsministerin ganz erstaunt: "Aha, eine Universität!?"
Salgado: Es geht auch darum, den Begriff "Universität" zu besetzen und zu resignifizieren, ihn mit einer anderen Bedeutung zu versehen. Was ich hier gerne erwähnen möchte, ist der Prozess, der sich schon seit einigen Jahren sehr intensiv bei maiz vollzieht. Es gibt diese Spannung zwischen dem Dasein als Verein, der öffentliche Subventionen bekommt und angestellte Mitarbeiterinnen hat, Projekte und Verwaltung durchführt, und dem gleichzeitigen Dasein als politisches Kollektiv. Diese Spannung nicht verschwinden zu lassen, sondern in ihr weiterhin zu arbeiten und sie produktiv zu machen, ist äußerst wichtig. Die Idee der Universität ist in Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung entstanden.
Wir wollten einen Raum außerhalb der Projektarbeit, außerhalb der ökonomischen Verwertung schaffen und die Praxis des unbezahlten Engagements, der politischen Arbeit, die außerhalb der bezahlten Projektarbeit stattfindet, intensivieren. Wir wollen damit auch Leute, die über öffentliche Anerkennung verfügen, dazu bewegen, ihre Privilegien zur Verfügung zu stellen. Das Konzept der "Universität der Ignorant_innen" sieht vor, dass alle Teilnehmer_innen unbezahlt mitmachen und es keine Wissenshierarchien gibt, also keine Unterscheidung zwischen den Teilnehmer_innen in Referent_innen und Hörer_innen ...
Caixeta: Niemand ist eine Tabula rasa. Die geladenen Referent_innen wissen, dass sie nicht als die Wissenden eingeladen sind. Alle, die dabei sind, verfügen über Wissen. So soll ein Dialog entstehen ...
Salgado: ... im Bewusstsein über die Unmöglichkeit dieses Dialogs, und trotzdem mit dem Wunsch, ihn zu versuchen und zu gestalten.
Caixeta: Oder zumindest die Distanz zu verkürzen. Es geht nicht um eine Romantisierung, dass in diesem Raum alle gleich sind. Sondern vor allem darum zu versuchen, die anderen zu hören und das Wissen in einer Sprache zu vermitteln, die die anderen auch verstehen können. Wir haben lauter Akademiker_innen eingeladen, die auch mehr oder weniger politische Aktivist_innen sind, die auch interessiert sind zu lernen und sich selbst zu hinterfragen.
Salgado: Es geht um eine Haltung der Wechselseitigkeit. Nicht nur ich weiß, sondern auch die anderen wissen. Was hat das Wissen der anderen mit der Konstitution und Legitimierung meines Wissens zu tun? Welches Wissen wird aberkannt? Was hat die Legitimierung meines Wissens mit der Aberkennung anderer Wissensbestände und Traditionen zu tun?
Wieso habt ihr euch für den Begriff "Ignorant_innen" entschieden?
Salgado:: Wir meinen mit Ignorant_innen Akademiker_innen, die bestimmte Wissensbestände, Wissenstraditionen und Kontexte der Wissensproduktion an bestimmten Orten - also nicht nur geografisch, sondern auch klassenbedingt - ignorieren. Dieses Ignorieren ist machtvoll, weil es die eigene Position verfestigt. Es geht aber auch um das Ignorieren des hegemonialen Systems der Wissensproduktion und die gesellschaftliche Bedeutung dessen. Neben den Akademiker_innen meinen wir aber auch die "anderen", die eben nicht in einer machtvollen, sondern in einer unterdrückten, depriviligierten, subalternen Position sind. Was hier wesentlich ist, ist die Wechselseitigkeit: der_die Lehrer_in als Lernende_r und der_die Lernende als Lehrer_in. All das im Bewusstsein der Unmöglichkeit - da steckt also auch dieses utopische Element mit drinnen.
Caixeta: Ebenfalls wichtig ist in diesem Kontext der Begriff des "Verlernens", betreffend diejenigen, die als wissend anerkannt werden von der hegemonialen Gesellschaft. Dabei geht es um die Notwendigkeit eines Reflexionsprozesses und die Notwendigkeit zu verlernen - denn ohne dem kann man das Wissen der "anderen" nicht anerkennen.
Salgado: Das Ganze ist kein Selbstzweck. Praxis und Reflexion miteinander zu verknüpfen, muss garantiert sein, sonst macht das keinen Sinn. Es geht darum, die Welt zu verändern und unser Dasein hier, darum, unsere politische Arbeit im Kontext der internationalen Arbeitsteilung zu denken. Ich bin gerade eben aus Brasilien zurückgekommen, dort war das für mich sehr präsent. Wir dürfen diese Praxisebene nie vergessen.
Beitrag aus migrazine.at, Ausgabe 2014/2.
Links
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