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Das Kemnade International Festival (1974-2009) - Feiern, Widerstand und interkulturelle Solidarität

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von Dîlan Şirin Çelik
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Kemnade International Festival © Stadt Bochum Bildarchiv
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Kemnade International Festival, Juni 1975 © Stadt Bochum Bildarchiv
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Kemnade International in Haus Kemnade Veranstaltung ©Stadt Bochum Bildarchiv
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Kemnade International Festival © Stadt Bochum Bildarchiv
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Kemnade International 26 Juni 1977 © Stadt Bochum Bildarchiv
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Wie kann ich nachts sorgenlos tanzen, wenn ich weiß, dass meine Eltern gerade schlafen, damit sie am nächsten Morgen rechtzeitig wach sind, um unseren Einzelhandel aufzuschließen? Wie kann ich mich betrinken und Spaß haben, ohne mir darüber Sorgen zu machen, ob dieser Akt nicht mit Scham behaftet sei? Ist es erlaubt, dass eine Frau, die so aussieht wie ich und solche Wurzeln wie ich schlägt, nachts mit ihren Freund*innen unbefangen feiert – und denken sich die, die mich beim Feiern beobachten, nicht dasselbe?

Etwas zu zelebrieren, war für mich oft mit meiner migrantischen Identität nicht vereinbar und es dauerte lange, bis ich erkannte, dass meine Identität – die durchaus politisch ist – und der Akt des Feierns in einer sehr bedeutungsvollen Wechselwirkung zueinander stehen können: es gibt Festivals, die queere und migrantische Identitäten feiern, Panels, die politische Diskussionen mit After Partys und middle eastern DJ-Sets verbinden und Awareness-Teams, die auf jeder Party für eine gute Stimmung für alle sorgen.

Wie jede*r Gen-Z ging ich natürlich davon aus, dass ich das Rad neu erfunden habe, als ich die Erkenntnis gewann, dass Feiern durchaus politisch aufgeladen sein kann.
Ein Blick in die Archive des Kunstmuseum Bochums zeigte mir jedoch schnell, dass bereits in den 70ern, bei den Kemnade International Festivals in Bochum (Deutschland), Feiern durch und durch als politische Praxis gelebt wurde – und das alles, was wir heute an Festivals haben, dem wahrscheinlich nicht annähernd das Wasser reichen können!

Das Kemnade 2 International Festival war ein Musik- und Kulturfestival, das von 1974 bis 2009 auf der Wasserburg Kemnade in Hattingen immer an Sommer-Wochenenden, von Freitag bis Sonntag, stattfand und vom Kunstmuseum Bochum ins Leben gerufen wurde. In seinen Anfängen fand das Festival an der Burg Kemnade statt, wechselte dann aber 2012 den Standort und findet bis heute unter dem Namen “Ruhr International” in der Jahrhunderthalle in Bochum statt.

Kemnade International war eines der ersten Festivals in Deutschland, welches nicht nur für, sondern auch mit “Ausländern” organisiert worden ist. Von verschiedenen lokalen Zeitschriften, die Kemnade International als „Ausländerfestival“ oder „Kontaktfestival“ 3  bezeichnet haben, sollte man sich nicht beirren lassen – Kemnade International war nämlich viel mehr als nur irgendein Festival. Es war ein lebendiger Ausdruck von Freude, Widerstand und interkultureller Solidarität.

In Zeiten, in denen globale Krisen und soziale Ungerechtigkeiten die Schlagzeilen Deutschlands dominierten, bot das Festival eine dringend nötige Oase der Erleichterung, Erholung und des Zusammenseins.

Neben authentischen Essensständen, die nicht darauf fokussiert waren, so viel Geld wie möglich zu machen, sondern sich als Ziel gesetzt haben, alle Menschen satt zu machen und verschiedene Küchen und Gerichte aus aller Welt vorzustellen, zeichneten sich die Kemnade International Festivals vor allem dadurch aus, dass sie auch ein politisches Programm hatten. Politische Informationsstände, beispielsweise von Arbeiter*innenbewegungen und anderen Selbstorganisationen, Diskussionsrunden und die Hilfe lokaler politischer Organisationen bei der Gestaltung des Festivals, sorgten für einen Spirit auf Kemnade International, welcher nicht von kommerzieller Gier geprägt war, sondern eher für einen offenen und herzlichen Austausch verschiedener Kulturen gesorgt hat.

Bricht man das Festival auf seine kleinsten Anteile herunter, ist nicht ein Aspekt des Festivals auffindbar, der das Feiern nicht mit einem aktiven, politischen Widerstand verknüpfte: die Musik Acts auf den Festivals lebten teilweise im Exil in Deutschland und machten allein dadurch, dass sie auf den Bühnen von Kemnade International in ihrer Muttersprache sangen, ein politisches Statement. Riesen-Stars, wie Cem Karaca oder Şivan Perwer, sorgten mit ihren Songs, die sich mit politischen Themen wie Verfolgung, Exil und der Situation der „Migrant*innen“ in Deutschland auseinandersetzten, dafür, dass auch jede*r  Einzelne auf dem Festival versteht, wie wichtig ihr politischer Kampf ist und dass dieser nicht von ihrer Musik zu trennen ist. Auch künstlerische Bildwerke, die auf den Festivals ausgestellt wurden, dokumentieren verschiedene politische Anliegen innerhalb Deutschlands, wie beispielsweise die Kunst des Fotografen Mehmet Ünal, welcher 1981 während des siebten Kemnade International Festivals 41 Schwarz-Weiß Fotografien ausstellte, die die Lebensbedingung türkischer Familien in Bochum zeigten. Mit dem Kinderprogramm auf dem Festival wurde sich ebenfalls bemüht, den Anspruch an Diversität und Vielfalt 4 auch bei den jüngeren Generationen durchzusetzen: Egal ob mehrsprachige Puppenspiele oder Zaubertricks – das Programm war für alle zugänglich und beschränkte sich nicht nur auf die deutsche Sprache, sondern bot auch Programme in italienisch, türkisch oder spanisch an.

Auf dem Kemnade International vereinte sich alles, von dem ein interkultureller Themenpark a la Phantasialand heute nur träumen kann: zwischen einer großen Menschenmenge konnte man auf der einen Bühne armenischen Volkstänzen zuschauen, während man von der anderen Bühne aus türkischer Musik lauschen konnte und sich in die eine freie Hand, die gerade keine hausgemachte Empanada hält, einen Info-Flyer der kurdischen Arbeiter*innenbewegung geben lassen konnte.

Die Strukturen um das Festival herum bemühten sich stets darum, dass Kemnade International aus mehr als nur Musik und Kultur bestand: immer wieder fragte das Kunstmuseum Bochum in der hauseigenen Zeitschrift BOKULT seine Leser*innen, wie sie das Festival finden und welche Verbesserungsvorschläge sie dafür haben. So spiegelte sich in einer Ausgabe der BOKULT in 1979 wider, dass das Publikum von Kemnade International eine sehr gespaltene Meinung zur Natur des Festivals hatte: der eine Teil der Leser*innen war der Meinung, dass das Festival viel zu politisch aufgeladen sei und das Feiern zu kurz kommt, während der andere Teil der Leser*innen sich mehr Diskurs und weniger Musik bei den Festivals wünschte. Die Antwort des Museums auf dieses Stimmungsbild versuchte darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig die Symbiose des Feierns und des Widerstandes vor allem für migrantische Bürger*innen innerhalb Deutschlands sei: “Beide Teile der Veranstaltung, der folkloristische so wie der wissenschaftlich-politische ergänzen sich gegenseitig. Sie sind Teil einer Einheit. (…) Unsere ausländischen Mitbürger haben eine festere und lebendigere Bindung an die eigene Tradition als wir Deutschen. (..) Sie haben sich dadurch ein stärkeres Identitätsbewusstsein bewahrt als die Völker, die durch die einseitige, technisch-zivilisatorische Entwicklung ihre Bindung verloren haben und immer mehr verlieren. (…) Als Ausländer, als Menschen, die in einem fremden Land leben und arbeiten, die ihr Land und ihre Kultur verlassen mussten, gewinnt diese starke Bindung an die eigene Tradition eine neue, aktuelle Bedeutung: Sie wird zur notwendigen, ja außer der Sprache, zur einzigen Möglichkeit, die eigene Identität zu bewahren."(BOKULT, 1979, Nr.14/15). Des weiteren schrieb das Museum ebenfalls, dass alleine die Ausübung und die Bewahrung der eigenen kulturellen Tradition in einem fremden Land als „Ausländer“ schon von Grund auf ein politischer Akt seien: “[Die Ausübung der eigenen Tradition] verschafft denen, die in unserer Gesellschaft leider immer noch nur geduldet werden, eine Möglichkeit, sich als Gruppe in ihr nicht nur zu behaupten (…), sondern ist die Basis für alle Anstrengungen, eine gerechtere Stellung in dieser Gesellschaft zu erreichen.“ (BOKULT, 1979, Nr.14/15).

Dieses Zitat verdeutlicht jedoch noch eine weitere wichtige Sache: Auch wenn das Festival gute Intentionen hatte und das Organisationskomitee durchgehend versucht hat, Personen mit Migrationsgeschichte nicht nur ein Festival anzubieten, sondern diese auch in den Prozess der Planung des Festivals mit einzubeziehen, reproduzierte es trotzdem kulturelle Stereotypen.

Trotz guter Vorhaben, welche vor allem durch ein “Uplifting” der Migrationsgesellschaft in Deutschland motiviert waren, war ein Sprachbewusstsein, welches keine Reproduktion kultureller Stereotypen verursacht, damals nicht existent. Vergleicht man das Sprachbewusstsein von damals mit dem von heute, könnte ein Festival mit diesem Sprachgebrauch nicht stattfinden – sondern wahrscheinlich sogar gecancelt werden.

Die Titel der Festivals führten dieses Augenmerk auf Politik fort: sei es das erste Festival in 1974, welches unter dem Motto “Wir sind Menschen, Sie auch?“ stattfand, das achte Festival in 1983, welches den Namen “Gemeinsam weiter – für Frieden, Völkerverständigung, gegen Diskriminierung, Rassismus“ trug oder das 14. Festival in 1993, mit dem Titel “Die Würde des Menschen ist unantastbar – Erinnere Dich!“. Jedes dieser Mottos kündigte schon vor einem Besuch des Festivals an, dass es sich hier um eine Veranstaltung handelt, die von verschiedenen politischen Widerständen durchzogen ist – und das kam gut an! Zu seinen Höhepunkten hatte das Festival Berichten aus dem Archiv des Kunstmuseum Bochums zu folge, ca. 130.000 Besucher*innen im Jahr 1989, die am Festival teilnahmen5.

Das Kemnade International Festival zeigte eindrucksvoll, wie Feiern als Form des Widerstands und der Freude funktionieren kann und stellte ein lebendiges Mosaik aus Musik, Tanz, Kunst, Kultur, Politisierung und Aufklärung dar.

Durch die Geschichte des Festivals wird klar, dass Feiern nicht nur ein Moment des Vergnügens ist, sondern auch eine tief verwurzelte Praxis des Überlebens und des Widerstandes sein kann.  Um das Festival und dessen Zusammenspiel von Feiern und Widerstand in den Worten von Pedro Crovetto Farias [1] zusammenzufassen: “Damals war es nichts Normales wie heute, einen Döner in der Stadt zu essen!(…) Kemnade International war eine Plattform, um den kulturellen Austausch in einer sehr plastischen Form durch Musik, Ausstellungen, Diskussionen und so weiter (…) zu organisieren!“ (Crovetto Farias, 2023).

 

Fußnoten

1 Ein chilenischer Künstler und Aktivist, der mit dem Kunstmuseum Bochum inner- und außerhalb der Kemnade International Festivals zusammengearbeitet hat.
2 “Kemnade” bezieht sich auf den Kemnader See in Bochum, bei dem das Festival in seinen Anfängen stattgefunden hat.
Zeitungsausschnitte aus dem Spielmann Archiv im Kunstmuseum Bochum. Der damalige Museumsdirektor Peter Spielmann sammelte lokale Zeitungsartikel, die über das Kemnade International Festival berichteten, und klebte sie in eine Mappe ein.
4 Hierbei ist anzumerken, dass die Begriffe „Diversität“ und „Vielfalt“ heutzutage oft verwendet werden, insbesondere in linken Kreisen, bei der Planung von Festivals oder der Gestaltung universitärer Seminare – manchmal ernst gemeint, manchmal nur als Floskel. In meiner Recherche konnte ich jedoch keine direkte Erwähnung dieser Begriffe in den Organisationsprotokollen des Festivals finden, die darauf hinweisen, dass explizit Diversität und Vielfalt als feste Ansätze fürs Festival galten. Dennoch lässt sich sagen, dass Diversität und Vielfalt eine zentrale Rolle bei der Organisation des Festivals spielten. Das Festival war von Anfang an als ein Event konzipiert, das sich insbesondere an ausländische Bürger*innen in Deutschland richtete. Für die Organisatorinnen bedeutete dies beispielsweise, dass ein Kinderprogramm natürlich mehrsprachig gestaltet wird und für verschiedene Kulturen und Menschen zugänglich sein muss.
5 Informationen aus der Dokumentation über das Kemnade International Festival 1989, welche ebenfalls von Peter Spielmann im Spielmann Archiv im Kunstmuseum Bochum gesammelt wurden.

Quellen

“BOKULT Nr.14/15“ BOKULT - Informationsblatt des Museum Bochum, S.1, Ausgabe 14/15 (Juni 1979). 

Crovetto Farias, Pedro. „Was kann man tun, um irgendwie Chile und Deutschland in Verbindung zu bringen …?“ Videoporträt von Pedro Crovetto Farias. YouTube Video,  00:17:03. Hochgeladen von Bochum | Stadt der Vielen, 12.06.2023. https://www.youtube.com/watch?v=YaQgmpAuJFg&feature=youtu.be.

Dîlan Şirin Çelikgeboren 2001, ist Journalistin und Studentin in Bochum. Sowohl in ihrer Arbeit als Journalistin, als auch in ihrem Studium der Medienwissenschaft und Anglistik befasst sie sich mit der Bedeutung von Archiven und Erinnerungskultur in Bezug auf Migration in Deutschland. Im Rahmen einer Ausstellung im Kunstmuseum Bochum zum Kemnade International Festival recherchierte sie im Archiv des Museums zu den Ursprüngen und dem politischen Rahmen des Festivals.