Amistad ist das Wort für Freundschaft
Musik, Freundschaft und Exil: Im Rahmen der Ausstellung ‚Die Verhältnisse zum Tanzen bringen‘ des Kunstmuseums Bochum zu 50 Jahre Festival Kemnade International schrieb Fabian Saavedra Lara einen Text über die Musikgruppe seiner Eltern, Amistad.
September 2023. Seit einigen Jahren versucht mein Bruder Mauricio, die Geschichte unserer Familie in Deutschland zu rekonstruieren. Er digitalisiert unermüdlich alte Fotos und bringt sie in eine Ordnung – vielleicht, um seinen Töchtern davon erzählen zu können, wer wir waren und wer wir sind. Ein Gruppenporträt mit allen Mitgliedern unserer weitverzweigten Familie sucht man vergeblich. Unsere Geschichte zerfällt in zahllose Einzelbilder, verteilt auf unterschiedliche Zeitzonen, Länder und Sprachen. Manchmal gibt es statt eines Bildes nur das knisternde, hauchdünne Luftpostpapier, das eng beschrieben von Hoffnungen, Enttäuschungen und dem mühsamen Leben unter einer Diktatur oder im Exil erzählt. Manchmal auch nur das Rauschen der Ferngespräche in meiner Erinnerung oder das Echo von alten Liedern, die einige von uns pflegen, auch Mauro und seine Tochter Puritama. Und so empfängt mich mein Bruder an einem Septembertag in seiner Wohnung in Köln. Im Gepäck habe ich die Einladung des Kunstmuseums Bochum, einen persönlichen Blick auf die Geschichte der Musik- und Tanzgruppe Amistad zu werfen, die von unserem Vater und meiner Mutter in den frühen 80er Jahren in Dortmund gegründet wurde und 1985 einen Auftritt bei Kemnade International hatte. Und tatsächlich finden wir in seinen Fotos Spuren von Amistad: Wir sehen uns selbst – ihn als jungen Mann, mich als Kleinkind – umgeben von Menschen in chilenischen Trachten, die damals jünger waren als wir es heute sind. Wir sehen Momentaufnahmen von ausgelassenen Festen und eine Art der Gemeinschaft, die manchmal vielleicht mehr bedeuten kann als zufällige direkte Verwand
November 2023. Meine Mutter Maria Elena und ich sind zu Besuch bei meinen Pateneltern Sigrid und Uli, um über die Gruppe Amistad und ihre Rollen darin zu sprechen. Es gibt Quiche und Suppe, der Kamin wärmt eine behagliche Doppelhaushälfte in Brambauer. Nach dem Essen überrascht Uli mich mit einem schweren Aktenordner voller Fotos, Schreibmaschinentexte und Zeichnungen. Er enthält das Archiv von Amistad, dessen Existenz mir völlig unbekannt war. Ich versinke in den Bildern des Ruhrgebiets der 80er Jahre und denke an die damals allgegenwärtige Sozialdemokratie, die Friedensbewegung, die frühen Grünen, die alternative Szene. Ich ermahne mich, die Vergangenheit nicht zu verklären, meine eigenen Utopien von Solidarität und kollektiver Kulturarbeit nicht dorthin zu projizieren, sondern mich auch an den alltäglichen Rassismus und die Amtswillkür zu erinnern. (Das Wort „Ausländerbehörde“ wird in meiner Familie für immer angstbesetzt sein.) Ich lese Anmoderationen und Erklärtexte für ein deutschsprachiges Publikum: „Aus einer Gruppe junger Studenten, die Folkloretänze aus verschiedenen Ländern tanzte, entstand die Folkloretanzgruppe AMISTAD, die sich seit November 1981 ausschließlich mit der Folklore Lateinamerikas beschäftigt. […] Ein besonderer Schwerpunkt sind hierbei Tänze aus den verschiedenen Regionen Chiles. Seit November 1983 tritt AMISTAD mit einer Musikgruppe auf, die mit zwei Gitarren, Akkordeon, Flöte, Trommel und Gesang die Tänze begleitet. Die 20 Mitglieder der Gruppe wohnen in Dortmund und Umgebung, einige sind in Deutschland lebende Chilenen. Es sind Studenten, Lehrer, Arbeiter, Hausfrauen und Beamte.“ Ich staune über die aus der Zeit gefallene Sprache, und doch spüre ich, dass sich eine Gruppe unterschiedlicher Menschen hier mehrere Jahre lang einen Raum schaffen konnte, der die Enge der damaligen Verhältnisse für alle Beteiligten ausdehnte: die scheinbar vorgezeichneten kleinbürgerlichen Lebenswege in der alten BRD, die sich nach der Welt sehnten. „Wir Deutschen haben damals immer einen kleinen Kosmos gehabt“, kommentiert Uli meine Frage nach seinem Interesse am kulturellen Erbe eines anderen Kontinents. „Amistad war eine Möglichkeit, Freundschaften zu schließen, Diskussionen zu führen und sich ein anderes Leben vorzustellen. Wir waren damals 32.“ „Und wir sind eine Familie geworden“, sage ich. Aus den Nachbar*innen, die auf derselben Etage wie meine Eltern wohnten, sind erst Mitglieder von Amistad geworden – Sigrid tanzte, Uli spielte Gitarre, bis ihm der Morbus Menière das Gehör nahm – und schließlich meine Pateneltern. Ich weine fast, als Uli, der im Laufe der Jahre der Chronist unserer Familie geworden ist, mit ruhiger Stimme hinzufügt: „Offene Ohren, offene Augen, offene Herzen – all das hat uns Amistad ermöglicht.“ Bis 1988 wird Amistad bei einer Vielzahl linksbewegter Veranstaltungen in
Februar 2024. Meine Eltern sind in den 70er Jahren auf der Flucht vor der Diktatur Pinochets aus Chile nach Deutschland gekommen. Als Mitglied der Partei Mapu, Obrero, Campesino („Die Erde, die Arbeiter, die Bauern“), die das Regierungsbündnis Salvador Allendes und der Unidad Popular mittrug, konnte mein Vater Gustavo seinen Anspruch auf Asyl geltend machen. Er ist der Bruder eines der sogenannten „Verschwundenen“ – jener Opfer der Militärdiktatur, deren Ermordung nie bestätigt oder aufgeklärt worden ist – und musste sich jahrelang verstecken. Meine Mutter folgte ihm einige Monate später nach Deutschland. Was sie zurückließ: