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Amistad ist das Wort für Freundschaft

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von Fabian Saavedra Lara
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© Gustavo Toro Romero und María Elena Saavedra Lara, Festival Kemnade International 1985, aus dem Amistad-Archiv von Uli Herbst
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Musik, Freundschaft und Exil: Im Rahmen der Ausstellung ‚Die Verhältnisse zum Tanzen bringen‘ des Kunstmuseums Bochum zu 50 Jahre Festival Kemnade International schrieb Fabian Saavedra Lara einen Text über die Musikgruppe seiner Eltern, Amistad.

September 2023. Seit einigen Jahren versucht mein Bruder Mauricio, die Geschichte unserer Familie in Deutschland zu rekonstruieren. Er digitalisiert unermüdlich alte Fotos und bringt sie in eine Ordnung – vielleicht, um seinen Töchtern davon erzählen zu können, wer wir waren und wer wir sind. Ein Gruppenporträt mit allen Mitgliedern unserer weitverzweigten Familie sucht man vergeblich. Unsere Geschichte zerfällt in zahllose Einzelbilder, verteilt auf unterschiedliche Zeitzonen, Länder und Sprachen. Manchmal gibt es statt eines Bildes nur das knisternde, hauchdünne Luftpostpapier, das eng beschrieben von Hoffnungen, Enttäuschungen und dem mühsamen Leben unter einer Diktatur oder im Exil erzählt. Manchmal auch nur das Rauschen der Ferngespräche in meiner Erinnerung oder das Echo von alten Liedern, die einige von uns pflegen, auch Mauro und seine Tochter Puritama. Und so empfängt mich mein Bruder an einem Septembertag in seiner Wohnung in Köln. Im Gepäck habe ich die Einladung des Kunstmuseums Bochum, einen persönlichen Blick auf die Geschichte der Musik- und Tanzgruppe Amistad zu werfen, die von unserem Vater und meiner Mutter in den frühen 80er Jahren in Dortmund gegründet wurde und 1985 einen Auftritt bei Kemnade International hatte. Und tatsächlich finden wir in seinen Fotos Spuren von Amistad: Wir sehen uns selbst – ihn als jungen Mann, mich als Kleinkind – umgeben von Menschen in chilenischen Trachten, die damals jünger waren als wir es heute sind. Wir sehen Momentaufnahmen von ausgelassenen Festen und eine Art der Gemeinschaft, die manchmal vielleicht mehr bedeuten kann als zufällige direkte Verwandtschaft. Mauro berichtet mir von seiner Ankunft in Deutschland 1984, mit 18 Jahren. Er konnte endlich den repressiven Polizeistaat, der Chile damals war, verlassen, und das Erste, was er nach der langen Reise sah, war ein Auftritt von Amistad im Ruhrgebiet. Ihm kam die Szenerie vor wie eine utopische Hippiekommune, die ihm einen überschwänglichen Empfang bereitete, lateinamerikanische Traditionen feierte und politisch war. Er fühlte sich fast wie im Paradies. „Deine Mutter hat mir hier das Gitarrespielen und meine ersten Lieder beigebracht“, höre ich und schaue ihn ungläubig an – fast bestürzt darüber, wie wenig ich über unsere eigene Familiengeschichte weiß. (Ein Gefühl, das sich in den nächsten Monaten noch einige Male wiederholen wird.) Und so mache ich mich auf den Weg, um einige Menschen neu kennenzulernen, die mich schon mein ganzes Leben lang begleiten.

November 2023. Meine Mutter Maria Elena und ich sind zu Besuch bei meinen Pateneltern Sigrid und Uli, um über die Gruppe Amistad und ihre Rollen darin zu sprechen. Es gibt Quiche und Suppe, der Kamin wärmt eine behagliche Doppelhaushälfte in Brambauer. Nach dem Essen überrascht Uli mich mit einem schweren Aktenordner voller Fotos, Schreibmaschinentexte und Zeichnungen. Er enthält das Archiv von Amistad, dessen Existenz mir völlig unbekannt war. Ich versinke in den Bildern des Ruhrgebiets der 80er Jahre und denke an die damals allgegenwärtige Sozialdemokratie, die Friedensbewegung, die frühen Grünen, die alternative Szene. Ich ermahne mich, die Vergangenheit nicht zu verklären, meine eigenen Utopien von Solidarität und kollektiver Kulturarbeit nicht dorthin zu projizieren, sondern mich auch an den alltäglichen Rassismus und die Amtswillkür zu erinnern. (Das Wort „Ausländerbehörde“ wird in meiner Familie für immer angstbesetzt sein.) Ich lese Anmoderationen und Erklärtexte für ein deutschsprachiges Publikum: „Aus einer Gruppe junger Studenten, die Folkloretänze aus verschiedenen Ländern tanzte, entstand die Folkloretanzgruppe AMISTAD, die sich seit November 1981 ausschließlich mit der Folklore Lateinamerikas beschäftigt. […] Ein besonderer Schwerpunkt sind hierbei Tänze aus den verschiedenen Regionen Chiles. Seit November 1983 tritt AMISTAD mit einer Musikgruppe auf, die mit zwei Gitarren, Akkordeon, Flöte, Trommel und Gesang die Tänze begleitet. Die 20 Mitglieder der Gruppe wohnen in Dortmund und Umgebung, einige sind in Deutschland lebende Chilenen. Es sind Studenten, Lehrer, Arbeiter, Hausfrauen und Beamte.“ Ich staune über die aus der Zeit gefallene Sprache, und doch spüre ich, dass sich eine Gruppe unterschiedlicher Menschen hier mehrere Jahre lang einen Raum schaffen konnte, der die Enge der damaligen Verhältnisse für alle Beteiligten ausdehnte: die scheinbar vorgezeichneten kleinbürgerlichen Lebenswege in der alten BRD, die sich nach der Welt sehnten. „Wir Deutschen haben damals immer einen kleinen Kosmos gehabt“, kommentiert Uli meine Frage nach seinem Interesse am kulturellen Erbe eines anderen Kontinents. „Amistad war eine Möglichkeit, Freundschaften zu schließen, Diskussionen zu führen und sich ein anderes Leben vorzustellen. Wir waren damals 32.“ „Und wir sind eine Familie geworden“, sage ich. Aus den Nachbar*innen, die auf derselben Etage wie meine Eltern wohnten, sind erst Mitglieder von Amistad geworden – Sigrid tanzte, Uli spielte Gitarre, bis ihm der Morbus Menière das Gehör nahm – und schließlich meine Pateneltern. Ich weine fast, als Uli, der im Laufe der Jahre der Chronist unserer Familie geworden ist, mit ruhiger Stimme hinzufügt: „Offene Ohren, offene Augen, offene Herzen – all das hat uns Amistad ermöglicht.“ Bis 1988 wird Amistad bei einer Vielzahl linksbewegter Veranstaltungen in Nordrhein-WestfalenNRW und darüber hinaus auftreten; bei Gewerkschaftsfesten, Friedensmärschen und bei Amnesty International. Die Gruppe entschied sich dafür, keine Gagen, sondern nur Aufwandsentschädigungen anzunehmen, von denen einmal im Jahr ein großes Essen für die Mitglieder und ihre Familien bezahlt wurde. Doch wie kam es zu alldem?

Februar 2024. Meine Eltern sind in den 70er Jahren auf der Flucht vor der Diktatur Pinochets aus Chile nach Deutschland gekommen. Als Mitglied der Partei Mapu, Obrero, Campesino („Die Erde, die Arbeiter, die Bauern“), die das Regierungsbündnis Salvador Allendes und der Unidad Popular mittrug, konnte mein Vater Gustavo seinen Anspruch auf Asyl geltend machen. Er ist der Bruder eines der sogenannten „Verschwundenen“ – jener Opfer der Militärdiktatur, deren Ermordung nie bestätigt oder aufgeklärt worden ist – und musste sich jahrelang verstecken. Meine Mutter folgte ihm einige Monate später nach Deutschland. Was sie zurückließ: iIhre Familie, ihre Kultur, ihre Wurzeln. Was sie mitbrachte: iIhre Gitarre, ihr Talent und ihre Liebe zu den traditionellen und neuen Liedern aus Chile, zu Violeta Parra und Víctor Jara. Und so landet mein Vater 1977 im europäischen Winter und findet sich statt im chilenischen Kulturministerium auf dem Bau wieder, meine Mutter ist nicht mehr die gefeierte Sängerin der Peñas und Folkloreveranstaltungen in Santiago, sondern jetzt Reinigungskraft und Hauswirtschaftshilfe im Ruhrgebiet. Und dennoch ist es ihnen ein Anliegen, mit dem kulturellen Erbe Chiles und mit ihrer Kunst hier sichtbar zu sein. Während unseres Gesprächs erzählt Uli die Anfänge so: „Dein Papa hat eine Art gehabt, die Leute zu begeistern. Er fing 1981 an, im Studentenheim an der Lindemannstraße chilenische Tänze zu unterrichten.” Später werde ich während eines Abendessens über ihn sagen: „Sobald er einen Raum betrat, wollte jede*r sein Freund sein.“ Hinter seinem großen Charisma verbargen sich ein unruhiger, schöpferischer Geist und ein traumatisierter Körper, der zu großer Zärtlichkeit ebenso fähig war wie zu unvorhersehbaren Wutausbrüchen. Er ist die große Leerstelle in dieser Geschichte, denn er starb 2007 im Exil. Die Musik jedoch begleitete ihn bis zum Ende: An seinem Sterbebett spielten wir ihm die Lieder vor, die wir Zeit unseres Lebens in Chile und in Deutschland bewahrt und weitergegeben haben. Siebzehn Jahre später bringt meine Mutter am Tag unseres Interviews zur Gruppe Amistad ihre Gitarre mit. Ich höre ihr zu und nehme alles auf, um mich für immer daran zu erinnern. Nach dem Lied „Ausencia“ („Abwesenheit“) kommen ihr die Tränen: Ya no sé, amigo, vivir alegre / Como en un tiempo que ya se fue. („Ich weiß nicht mehr, mein Freund, wie ich fröhlich leben soll – so wie damals, in einer Zeit, die längst vergangen ist.“) Wir umarmen uns fest, und sie sagt: „Unsere Lieder leben in den Menschen weiter, denen wir hier begegnet sind. Amistad nunca terminó. Nada se quedó en el olvido.“ („Unsere Freundschaft ist in Wirklichkeit nie zu Ende gegangen. Nichts davon ist in Vergessenheit geraten.“) Eine Freundschaft, die zur Familie geworden ist. Eine Familie, die Sprachen und Landesgrenzen verwischt. Ein Band, das die Mitglieder von Amistad vor langer Zeit geknüpft haben: Sohrab Afschar, Detlev Albat, Heidi Bender, Anita Berendsen, Mustafa Egilmez, Karin Hedderich, Sigrid Herbst, Uli Herbst, Heidi Hirsch, Thomas Kleine, Helga Lehmann, Sara Lemke, Lucia Mendelberg, Renate Mittag, Rudi Nowald, Luis Ojeda, Maria Elena Saavedra Lara, Alfred Seppe, Monika Sterzing, Gisela Suckert, Gustavo Toro Romero.

Fabian Saavedra Laraist ein Kurator im Kontext Medienkunst, digitale Kulturen und postmigrantische Gesellschaft. Seit 2013 Leiter des medienwerk.nrw – ein Netzwerk für Medienkunst in Nordrhein-Westfalen. 2016-2021 Co-Leitung des Programms Interkultur Ruhr des Regionalverbands Ruhr (Essen).