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Solidarität in Opfer- und Gedenkgesellschaften? Allianzen im Kampf um gleichwertige Opferpositionen

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von Erika Thurner

Roma und Sinti [1] wurde in der Zweiten Republik lange Zeit der Status als NS-Opfer verweigert. Desinteresse, Ignoranz und nahezu kontinuitätslosen Vorurteilen ausgesetzt, gab es für die wenigen Überlebenden aus dieser Verfolgtengruppe weder Scham noch Mitgefühl, geschweige denn Unterstützung. Die österreichischen Behörden verweigerten ihnen materielle Hilfestellungen (die sogenannten Opferfürsorgegelder). Stattdessen gab es Aufrufe zur "Außerlandschaffung von Zigeunern" und Versuche, überlebende Roma, Sinti und Lovara als "KZ-Schwindler" zu belangen. So sahen sich NS-Überlebende österreichische Roma - das waren zehn bis fünfzehn Prozent der Roma-Vorkriegsbevölkerung (1.500 bis 2.000 Personen) - bald nach der Befreiung einer neuen Verfolgung durch die österreichische Exekutive ausgesetzt.

Die Zweite Republik machte es in ihren Anfängen aber allen NS-Verfolgten schwer. Die durch die Moskauer Deklaration (Herbst 1943) gebotene Chance, als Opfer- und nicht als Täterland anerkannt zu werden, wurde nicht nur angenommen, sondern extrem ausgereizt. Österreich als ein von der NS-Wehrmacht im März 1938 überfallenes, besetztes Land - dieses Narrativ wurde von Politikern und Meinungsmachern immer wieder genährt. So konnte dieser Mythos bis in die 1980er Jahre als dominante Gesellschaftsmeinung aufrechterhalten werden. (Mit-)Täterschaft und (willfährige) Zustimmung von ÖsterreicherInnen blieben allzu lange ausgeblendet. Dies, obwohl bereits differenziertes historisches Wissen vorlag, das die erschütternden Erzählungen und biografischen Schilderungen von KZ- und Folter-Opfern bestätigte.

Das offizielle Österreich profitierte nach Kriegsende von dieser Einstufung; im Ausland bekam der Ruf als Musik- und Kulturstätte kaum Kratzer. Gegenüber Ansprüchen von NS-Verfolgungsopfern hielt man sich zugeknöpft, d. h. zu Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen nicht verpflichtet. So sah das 1945 geschaffene Opferfürsorgegesetz materielle Leistungen nur für Widerstandskämpfer vor – für NS-Gegner, die Österreich von Anfang an "mit der Waffe in der Hand" gegen den Nationalsozialismus verteidigt hatten, aber auch für jene, die knapp vor dem Ende, im Frühjahr 1945, gegen "Verbrannte-Erde-Befehle" des bereits "Toten im Bunker" (Adolf Hitler, Anm. d. Verf.) auftraten, um weiteres Töten zu verhindern oder auch, um günstige Verhandlungspositionen mit den Alliierten herzustellen.

Kaum in Verwendung, musste das Opferfürsorgegesetz bereits 1947 reformiert werden – und es sollte sich in den folgenden Jahrzehnten zum meistreformierten österreichischen Gesetz entwickeln. Denn nach und nach "mussten", trotz enormer Abwehrstrategien, mehr und mehr KZ-Überlebende und Verfolgungsopfer in bescheidene Wohlfahrtsleistungen einbezogen werden. So standen Ansprüche und Bitten von "rassischen Feinden der Nazis" zur Diskussion, oder von Menschen, die aufgrund religiöser, ethnisch-kultureller oder anderer Merkmale in die Vertreibungs- und Todesmaschinerie geworfen worden waren.

Ein einigendes Band in der Nachkriegszeit: Alle Verfolgtengruppen mussten um ihre Rechte kämpfen - um Grundversorgung, KZ-Renten, entgangene Schul- und Ausbildung, um enteignetes Vermögen. Sie benötigten zudem Fürsprecher und unterstützende Akteure. Für die einen machten die Alliierten oder andere Staaten - aus unterschiedlichen Interessen - Druck. Schwache Gruppen ohne "Lobby" blieben vorerst chancenlos.

Die Unterstützung von Überlebenden und Hinterbliebenen wurde so zur vorrangigen Aufgabe für die im Frühjahr 1945 gegründeten KZ- und Lagergemeinschaften. Diese entwickelten sich entlang politischer Parteien- und Lagergrenzen, andere - überparteiliche - vertraten Überlebende der jeweiligen Konzentrationslager. Sie wirkten, entsprechend der multinationalen Zusammensetzung ihrer ehemaligen Häftlingsgesellschaft, als internationale oder nationale Verbände. Deren führende Funktionäre sprachen nicht immer mit einer Stimme, partei- und geopolitische Ausrichtungen (die West-Integration, der beginnende "Kalte Krieg", Vertreibungen von "Deutschen" aus Ostgebieten, u.a.m.) begrenzten ein gleichgerichtetes Engagement und den Einsatz für alle Opfer. Dennoch gelangen Solidaritätsaktionen und die Bildung von Allianzen, um wichtige Forderungen durchzubringen und auch schwächere Gruppen zu unterstützen.

1949 war es endlich so weit, dass "rassisch Verfolgte" in den Kreis der Berechtigten nach dem Opferfürsorgegesetz einbezogen werden sollten. Doch als rassisch verfolgt galten zunächst "nur" jüdische Holocaust-Opfer. Den Roma (Burgenland-Roma, Sinti, Lovara, aber auch anderen als "Zigeuner" Verfolgten) blieb der Status als "NS-Opfer aufgrund ihrer Rasse" verweigert. Mit Argumenten aus der NS-Rassenideologie und -biologie wurde deren Verfolgung gerechtfertigt, die Einweisung in Lager als "vorbeugende Maßnahme" akzeptiert. Die perfide NS-Politik gegenüber den Roma - die Verdoppelung und argumentative Verschränkung des Verfolgungsmotivs als "Fremdrasse" und als "Asoziale" (potenzielle Kriminelle) - beeinflusste lange die österreichische Opferfürsorge- und Spruchpraxis. Abschmetternde Urteile orientierten sich zudem stark an negativen bundesdeutschen Entscheidungen.

Ablehnung und Skepsis gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe dominierten in Politik und Gesellschaft. Auch ehemalige Mithäftlinge konnten alte und durch die NS-Propaganda vertiefte Vorurteile gegenüber den sogenannten "Zigeunern" nicht (ganz) ablegen. Zudem hatten die in den KZs geltenden Häftlingshierarchien den beabsichtigten Zweck erreicht und die Solidarität unter den Häftlingen geringgehalten. Jene auf den untersten Plätzen - Juden, Polen, Zigeuner - hatten schlechteste Überlebenschancen; sie waren den grausamsten, auch willkürlichen Bestrafungsaktionen durch KZ-Wächter ausgesetzt. An diesen Häftlingen konnten sich KZ-Ärzte nach Belieben "austoben", d. h. inhumane und auch unsinnige, weil für die Forschung wertlose, medizinische Versuche erproben.

Jene, die dennoch überlebten, begegneten großem Misstrauen; ihre Erlebnisschilderungen wurden vor Gericht und Behörden angezweifelt. Einige politische Funktionäre ließen sich aber von dieser Stimmung nicht "anstecken". Sie hatten die prekäre Lage von Roma-Häftlingen in den Lagern mit eigenen Augen gesehen. So wurden ab den 1950er Jahren die Lagergemeinschaft Auschwitz - rund um Hermann Langbein, Franz Danimann, Josef Meisel, Ella Lingens, Toni Lehr u.a. - und der burgenländische KZ-Verband zu Anlaufstellen auch für Roma. Ab 1963 begann Selma Steinmetz im Wiener Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes ihre Tätigkeit. Die Sozialdemokratin und kommunistische Widerstandskämpferin setzte den Auftakt zur historischen Erforschung des "NS-Zigeuner-Holocaust", und sie kämpfte mit anderen Mitstreitern um materielle und ideelle Anerkennung der Roma. Für einige ehemalige "Lackenbacher", Überlebende des burgenländischen NS-Anhalte- und Zwangsarbeitslagers, konnten schon damals bescheidene Entschädigungsgelder erstritten werden. Auch die Bemühungen um ein Roma-Mahnmal in Lackenbach reichen in diese Jahre zurück.

Die Zeit war allerdings noch nicht reif für größere Reformen und Zugeständnisse. Es bedurfte des Generationenwechsels in Politik und Behörden sowie umfassender historischer Forschung, um einen Stimmungswandel in der Gesellschaft einzuleiten. Die Bemühungen der "alten Auschwitzer" und anderer KZ-Kameraden wurden ab den 1980er Jahren durch engagierte, jüngere EinzelkämpferInnen verstärkt. So gelang es rund um das 1984 realisierte Roma-Mahnmal in Lackenbach, die Forderung nach der noch immer nicht erfolgten offiziellen ideellen und materiellen Opferanerkennung erneut aufzugreifen. 1988 waren die Verhandlungen mit den zuständigen Ministerien (Soziales: Alfred Dallinger/Finanzen: Ferdinand Lacina, beide SPÖ) beinahe abgesegnet. Roma, die zwischen 1938 und 1945 nicht in den großen KZs und Vernichtungslagern waren, sondern "nur" in Zigeuner-Zwangsarbeitslagern schuften und leiden mussten, sollten als NS-Opfer anerkannt und zumindest ins Rentensystem integriert werden.

Doch knapp vor der Umsetzung durchkreuzte eine gut gemeinte symbolische Geste der Republik zum Gedenkjahr 1988 dieses Vorhaben. Als "Ehrengabe" war eine einmalige Zahlung an alle NS-Opfer vorgesehen, und dafür wurden die für die Roma-Entschädigung bereits budgetierten Gelder (insgesamt 50 Millionen Schilling) benötigt. Dass die geplante Aktion auf einen "Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Verbände und Widerstandskämpfer zurückging", so die Erklärung des damaligen Sozialministers Dallinger, empfand Hermann Langbein, Sprecher der "Auschwitzer", als besonders empörend, wurden doch ein weiteres Mal - ebenfalls mit Zustimmung dieser Arbeitsgemeinschaft - die NS-Opfer in Kategorien eingeteilt und unterschiedlich bewertet. Für die bis dahin übergangenen Überlebenden, so auch ehemalige Lackenbacher Roma, war die niedrigste Ehrengabe vorgesehen (2.500 ATS, ca. 180 Euro; andere sollten 3.000, 4.000 bzw. 5.000 ATS erhalten). Hermann Langbein protestierte und startete eine Solidaritätsaktion, der sich zahlreiche WiderstandskämpferInnen anschlossen. Sie verzichteten auf ihre "Ehrengaben" und sendeten dieses Geld an Bedürftige weiter. Das Begleitschreiben sollten sie, so Langbein, auch an das Sozialministerium schicken, "mit dem Vermerk, dass Du hier einspringst, weil das Ministerium untätig geblieben ist"[2].

So erforderte die gleichwertige Anerkennung der Roma als Opfer nationalsozialistischer Verfolgungs- und Ausrottungspolitik noch einige Jahre zäher Bemühungen. Die diversen Solidar- und Unterstützungsaktionen bewirkten aber, dass Roma Vertrauen zu einzelnen gesellschaftlichen Gruppen aufbauen konnten. Die ersten traten aus der Anonymität heraus, erhoben nach und nach ihre Stimme, um ab 1989 die Gründung von Eigenorganisationen zu wagen.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Stimme. Zeitschrift der Initiative Minderheiten, 100/Herbst 2016.




Fußnoten

[1] Die Eigenbezeichnung "Roma" wird heute in fast allen Ländern als Sammelbegriff für diese sehr heterogene Minderheit verwendet. Dennoch legen einige Gruppen besonderen Wert auf ihren spezifischen Eigennamen, vor allem (deutsche) Sinti.

[2] Alle Dokumente und Gesprächsprotokolle im Besitz der Verfasserin, die ab 1984 an Eingaben und Verhandlungen mit Behörden und Ministerien beteiligt war.

Erika Thurner ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck.