"Sich an die eigene Nase zu fassen, ist schwierig"
migrazine.at: "Im Land der Frühaufsteher" ist entstanden, nachdem du ein halbes Jahr lang mehrere Flüchtlingsheime in Sachsen-Anhalt besucht und intensive Gespräche mit Refugees geführt hast. Hattest du von Anfang an geplant, eine Graphic Novel über den Alltag von Flüchtlingen zu gestalten?
Paula Bulling: Nein, einen Comic zu machen hatte ich nicht geplant. Ich hatte vor "Im Land der Frühaufsteher" überhaupt noch keine Comics gezeichnet. Während meines zweiten Semesters in der Illustrationsklasse musste ich ein freies Projekt einreichen. Damals lernte ich bei einer Veranstaltung von The VOICE Refugee Forum und bei den Protesten rund um den ersten Oury-Jalloh-Prozess einige Asylsuchende kennen. Ich fing an, Porträts zu zeichnen und auch ein paar Fotos zu machen. Diese Bilder waren bei näherer Betrachtung etwas zusammenhangslos, ich musste sie irgendwie "zum Sprechen" bringen. So fing das langsam, aber sicher mit dem Comic an und hat sich dann über die nächsten zwei Jahre hingezogen.
Überall in Europa organisieren sich Flüchtlinge und protestieren gegen Ausschluss und Repressionen. Auch in deinem Comic ist Widerstand gegen die EU-Asylpolitik und gegen Rassismus Thema. Wie haben die Flüchtlinge/Aktivist_innen, mit denen du in Kontakt warst, auf deinen Comic reagiert?
Ich finde, innerhalb der Flüchtlings-Protestbewegung sind die Haltungen zu künstlerischen Formen als Kommunikationsstrategie ganz unterschiedlich. Manche halten es für sinnlos und dekadent, andere begrüßen es, wenn auf ungewöhnlichen Wegen über das Thema kommuniziert wird. Im Großen und Ganzen sind die Reaktionen auf das Buch aber sehr positiv. Mit den Leuten, die darin die Hauptrollen spielen, bin ich sowieso befreundet, sie haben an der Entstehung mitgewirkt und kannten das Buch schon lange vor der Veröffentlichung. Schwierig war eher die Konzentration auf meine Person in der öffentlichen Rezeption des Buches.
Um daran anzuschließen: In "Im Land der Frühaufsteher" thematisierst du deine eigene Position als weiße Autorin und damit verbundene Privilegien, für andere nicht-weiße Personen sprechen zu können. Gleichzeitig bist du mit dem Comic selbst in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit gerückt. Wie ist es möglich, mit diesem Widerspruch umzugehen?
Das ist eine schwierige Frage. Ich kann darauf nicht abschließend antworten, weil dieser Prozess und auch mein Nachdenken darüber noch immer andauern. Mit dem Medieninteresse an "Im Land der Frühaufsteher" hatte erst mal niemand gerechnet, am allerwenigsten ich selbst. Anfangs war ich einfach überrumpelt und musste mich erst mal orientieren. Einerseits wollte ich die Gelegenheit nutzen,
das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen, andererseits hatte ich bald das Gefühl, in genau jene Falle getappt zu sein, die ich versuche im Buch zu thematisieren. Etwa als mich eine Radiomoderatorin fragte: "Und, wie geht es den Menschen in den Flüchtlingsheimen?" Man braucht die Geistesgegenwart, immer wieder zu sagen: "Warum fragen Sie mich das, warum laden Sie nicht einfach jemanden ein, der das selber erlebt?" Es blieb ein schales Gefühl, dass ich als nettes, weißes Mädchen gut herzuzeigen bin. Und natürlich habe ich auch selber davon profitiert und bin mit dem Buch ein bisschen bekannt geworden.
Danach habe ich versucht, so viel wie möglich von den öffentlichen Sachen zusammen mit den Leuten zu machen, die in dem Buch vorkommen: Interviews mit Noel Kaboré, der Teile der Texte geschrieben hat, und Lesungen mit Maman Salissou Oumarou, der auch Vorbild für eine der Figuren ist und mir viel geholfen hat. Interessant finde ich, dass viele Medien an diesem Konflikt um das Weißsein interessiert sind, dann aber in ihren Kommunikationsformen und Sendungen genau die alten rassistischen Muster wiederholen. Sich an die eigene Nase zu fassen, ist eben schwierig.
Du greifst in deinen Arbeiten immer wieder politisch-aktivistische Themen auf. Unter anderem hast du den Schauplatz der Occupy-Bewegung in der Wall Street oder ein Protestcamp von Flüchtlingen auf dem Berliner Oranienplatz gezeichnet. Ist es dir ein Anliegen, mit deinen Comics politisierend zu wirken?
Ja. Für mich ist die Herausforderung an meiner Arbeit, das Zeichnen und meine politischen Interessen miteinander zu verbinden. Irgendwie ist das unumgänglich, aber auch nicht einfach. Nach dem Erscheinen von "Im Land der Frühaufsteher" habe ich erst mal ziemlich lange nach einer neuen Herangehensweise an das Sprecherinnen-Problem gesucht, und ich denke immer noch darüber nach.
In New York war ich zum Beispiel mit meiner Freundin und Kollegin Tashy Endres unterwegs, die während der gesamten Besetzung Teil von Occupy Wall Street war. Wir haben mit einer Menge Aktivist_innen lange Gespräche geführt und überlegen jetzt, wie man die sehr unterschiedlichen Positionen und Erfahrungen in einer Comic-Erzählung zusammenführen kann. Ob es überhaupt möglich ist, einen kollektiven Prozess in den formalen Grenzen, wie sie ein Buch vorgibt, abzubilden, und wie man als zwei Einzelpersonen mit der Vielheit der Stimmen sorgfältig umgehen kann. Ob und wie wirkmächtig so ein Comic dann ist, in welche Debatte man damit interveniert, wie man es benutzen will – all das, denke ich, ist von Fall zu Fall verschieden und macht auch einen großen Teil des Politischen an einer solchen Arbeit aus.
Beim Protestcamp am Oranienplatz habe ich für das dänische Magazin-Projekt "visAvis" gezeichnet. "VisAvis" wird gemeinsam von Menschen mit und ohne Papiere organisiert und bietet eine Plattform sowohl für persönliche Erfahrungsberichte als auch für einen theoretischen Diskurs rund um Asyl, Migration und das europäische Grenzregime. Die Zeichnungen sind Illustrationen für das Cover und für zwei Texte, die Leute aus dem Camp geschrieben haben. In diesem Fall ist das Zeichnen für mich eher eine Form der Unterstützerinnenarbeit, und ich freue mich, wenn es die Möglichkeit dazu gibt.
Nebenbei mache ich noch ganz andere Sachen, die nicht oder nicht vordergründig politisch sind. Ich mache auch nicht-narrative, ganz für sich existierende Zeichnungen. Beides ist mir wichtig.
Gibt es Comics bzw. Comic-Autor_innen, von denen du dich inspirieren lässt?
Ja! Gerade schaue ich mir Sachen von Zeichner_innen aus dem arabischen Raum an. Ich mag zum Beispiel sehr die Arbeiten von Barrack Rima oder von Nawel Louerrad. Dann gibt es Comic-Bücher, die ich immer wieder lese, wie Manu Larcenets "Der alltägliche Kampf" oder "Aya" von Marguerite Abouet. Dann wieder lese ich wochenlang überhaupt keine Comics.
Während des letzten Jahrzehnts sind Comic-Reportagen, die sich auf journalistische Weise politischen Ereignissen zuwenden, zunehmend populär geworden. Kannst du für dich mit der Bezeichnung "Comic-Reporterin" etwas anfangen?
Ich würde mich nicht als Reporterin bezeichnen, weil meine Vorgehensweise dafür nicht schnell und nicht faktenorientiert genug ist. Ich würde eher sagen, ich arbeite dokumentarisch. Allerdings glaube ich nicht wirklich an die Trennung von Dokumentarischem und Fiktivem ... gerade im Comic, wo es kein ursprüngliches Material gibt. Im Moment könnte ich gar nicht sagen, dass ich dieses oder jenes bin. Ich probiere Verschiedenes aus, und vielleicht kommt dabei langsam, aber sicher eine Art Identität heraus. Mit Überzeugung kann ich nur sagen, dass ich Zeichnerin bin.
Interview: Vina Yun
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Homepage von Paula Bulling
Leseprobe "Im Land der Frühaufsteher"
Rezension zu "Im Land der Frühaufsteher" auf diestandard.at