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Migrantinnen im Cyberspace: Welche Mobilität zu welchem Preis?

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von Waltraud Ernst

Irina Aristarkhova zufolge gibt es für Frauen genügend Gründe, das ihr (von der patriarchalen Ideologie) zugewiesene Heim, in dem sie zwar Gastfreundschaft repräsentieren, aber allzu oft nicht selbst Gastgeberinnen sind, zu verlassen und in der Bewegung ein (mobiles) Zuhause in sich selbst zu finden. Der Cyberspace ist demnach – nicht nur auf der symbolischen Ebene – prädestiniert als ein Ort, an dem Weiblichkeit nicht bloß mit Hospitalität verknüpft ist, sondern an dem Frauen in ihren vielfältigen Realitäten vorkommen und als unabhängige ethische Subjekte handeln.

In der Problematisierung der klassischen Unterscheidung zwischen Privat und Öffentlich, mittels derer Frauen in der bürgerlichen Moderne Europas der Zugang zum öffentlichen Raum verwehrt oder zumindest erschwert wurde, sieht Aristarkhova eine Chance für ein gleichberechtigtes Miteinander von Personen unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlicher Herkunft: "Cyberspace and the net-communities that arise therein interestingly problematize the classical distinctions between private and public. As such, they could provide the basis for a radical re-thinking of the relationship between feminity and space." [1]

Der Cyberspace bietet also nicht nur die Chance, Weiblichkeit mobil zu denken, sondern auch mobilen Frauen die Möglichkeit, einen gemeinschaftlichen Raum und einen mehr oder weniger privaten Freiraum zu (er-)leben.

Fortführung von Care-Arbeit in der Migration

Dies ist nicht nur eine cyberfeministische Vision, sondern für viele Frauen soziale Realität. So weist Elisabeth Tuider in ihrer Studie "'Feminisierung der Migration'. Migrantinnen zwischen Ausbeutung und Empowerment" am Beispiel von Migrantinnen im Grenzland von Nord-Mexiko auf die Möglichkeiten hin, familiäre Beziehungen durch die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) fortzuführen: "Die technischen Errungenschaften von Telefon, Internet und Webcams werden nun dazu eingesetzt, soziale Familienbeziehungen über weite Distanzen und Zeiträume aufrechtzuerhalten. Entscheidungen des Haushalts, Erziehungsfragen oder regelmäßige Abendessen werden unabhängig von geographischen Lokalisierungen gemeinsam gestaltet und so Verbindlichkeit und Verantwortung, Sorge und 'care' gelebt." [2]

Das heißt, Migrantinnen nutzen IKT in eigenständiger Weise, nicht nur um sich am neuen Ort zurechtzufinden, sondern auch, um – wenngleich technologisch vermittelt – in ihrem bestehenden sozialen Netzwerk weiterzuleben.

Gender Gaps

Sind Migrantinnen also die Protagonistinnen des Cyberfeminismus, die Heldinnen der Informations- und Kommunikationstechnologien? Obwohl ein Blick in die Technikgeschichte Mathematikerinnen als die Programmiererinnen des ersten Computers ausweist [3], zeigen aktuelle Untersuchungen zur Nutzung und Entwicklung von IKT einen Gender Gap und eine deutliche Dominanz von Männern.

In einer umfassenden Studie über die Geschlechterungleichheit in den IKT untersuchten 23 Forscher_innen aus Irland, Italien, den Niederlanden, Norwegen und Großbritannien zwischen 2003 und 2005 Strategien, wie Frauen stärker einbezogen werden können und wie bei der Entwicklung und Nutzung von IKT Gleichberechtigung herstellbar ist. [4] Hierbei zeigten sich deutliche Unterschiede im Erreichen dieses Ziels: Die Untersuchung von Websites speziell für Frauen machte deutlich, dass interaktive Features wie Foren sehr gut zum gemeinsamen Lernen und zur gegenseitigen Ermächtigung und damit zur Veränderung des Geschlechterverhältnisses im Internet beigetragen haben.

Darüber hinaus wurden dadurch auch Inhalt und Kultur der IKT selbst verändert – wie zum Beispiel die Präsenz feministischer Themen auf Websites und in Foren oder die Einführung der sog. Netiquette als Regeln des gegenseitigen Respekts. Auch wurde deutlich, dass Websites keineswegs mit Inhalten und Designs ausgestattet werden müssen, die sich an Weiblichkeitsstereotypen orientieren, um für Frauen attraktiv zu sein – vielmehr ist die Relevanz der Inhalte für spezielle Interessen (beispielsweise berufsspezifische Frauennetzwerke) ausschlaggebend.

Insgesamt zeigten die Untersuchungen, dass Maßnahmen, die ausschließlich für Frauen entwickelt wurden oder Frauen im Fokus hatten und zusätzlich auf bestimmte Inhalte abgestimmt waren, der Geschlechterdiskrepanz bei der Entwicklung und Nutzung der IKT am erfolgreichsten entgegenwirkten.

IKT als Migrations-Kontrollinstrument

Doch die Entwicklung und Nutzung von IKT kann nicht nur im Zusammenhang mit Befähigung und Ermächtigung von mehr oder weniger mobilen, geschlechtlich definierten Menschen betrachtet werden. Mit den IKT stehen umfangreiche Kontroll- und Überwachungstechniken zur Verfügung – und die Informations- und Kommunikationstechnologien werden vielfach zur Kontrolle, Regulierung und Verhinderung von Migration eingesetzt.

Die EU-Richtlinie zur sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherung und deren weitgehende Umsetzung in den EU-Mitgliedsstaaten wie zum Beispiel Österreich zeigt dies beispielhaft. [4] Sie betrifft Telefon- und Internetverbindungsdaten, den E-Mail-Verkehr und Handy-Standortdaten. Im Auftrag der EU werden sogenannte Wanderungsbewegungen von Personen mit transnationalen Lebensprojekten mithilfe von IKT analysiert, um diese mit Konzepten des EU-Migrationsmanagements – wie dem der "zirkulären Migration" – zu konfrontieren: "Die zirkuläre Migration wird zunehmend als wichtige Wanderungsform anerkannt, die, gut gesteuert, Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften weltweit in Übereinstimmung bringen und dadurch zu einer effizienteren Verteilung der verfügbaren Ressourcen und zum Wirtschaftswachstum beitragen kann.“ [5]

Ein großes Problem dieses Migrationsregimes besteht Sabine Hess zufolge darin, dass die Kombination aus Visa-System, Lager und Kontrollagenturen zu einer Generierung von Zonen außerhalb der europäischen Grenzen führt, in denen Personen in extrem ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und mit prekären oder gänzlich fehlenden staatsbürgerlichen Rechten "in der Mobilität gefangen" gehalten werden: "Damit ist [das europäische Grenzregime] (…) ein wesentlicher Katalysator für eine weitreichende soziale und rechtliche Prekarisierung und in Folge Informationalisierung der Arbeit in den Randzonen der Europäischen Union.“ [6] Dies bedeutet für Mirgrant_innen eine Erschwerung der Ankunft im Zielland als (gleich-)berechtigte Staatsbürger_innen.

Hybridität: Subversion und Aneignung

Dennoch schaffen es Menschen, aus unterschiedlichen Ländern und Gründen trotz drohender Illegalisierung nach Europa zu kommen und zu bleiben. Doch auch dieser Prozess wird erschwert. Migrant_innen werden mit einer Vorstellung von Zusammenleben konfrontiert, die Diversität nicht auf egalitäre, pluralistisch-demokratische Weise beinhaltet. Es wird vielmehr die Idee einer europäischen Staatsbürger_innenschaft propagiert, die nach wie vor androzentrische Züge trägt und eine Norm homogener europäischer Staatsbürger_innen postuliert.

Derart wird die politische Gleichheitsnorm der Aufklärung immer noch missverstanden als kulturelle (und geschlechtliche) Homogenität und (nur) auf diese Weise normativ. [7] Diese normative Idee europäischer Staatsbürger_innenschaft erzeugt ein Regime von Integration, das statt eines Interesses am Austausch, eines Willkommensangebots oder einer Einladung, gemeinschaftlich ein neues Zuhause zu erleben, Integration als einseitige Anforderung an mobilere Menschen stellt. In unseren von Chancengleichheit der Geschlechter weit entfernten Gesellschaften benachteiligt dies insbesondere Migrant_innen. [8]

Nur wenn Kultur national und einheitlich gedacht ist, kann die kulturelle Integration von Migrant_innen zu einem Problem werden, das es zu bewältigen gilt. Dieses nationale und einheitliche Denken von Kultur kann aber als hegemoniale nationalstaatliche Strategie entlarvt werden, als historische Konstruktion, deren Grenzregime nach innen und außen schon immer unterlaufen wird.

Der Vorstellung von Kultur als homogene und abgrenzbare Einheit setzt Homi K. Bhaba in seinem viel zitierten Buch "Die Verortung von Kultur" [9] entgegen, dass Kultur als Produktion von Bedeutung und als Prozess der Interpretation verstanden werden muss. Dabei ist die Konstruktion einer bestimmten Version von kultureller Authentizität immer schon Teil einer Auseinandersetzung um die Autorität über kulturelle Formen und Praxen. Hybridität kann so zur analytischen und politischen Strategie der Destabilisierung nationalisierender und ethnisierender kultureller Praxen werden, die kulturelle Vielfalt als Vielfalt abgrenzbarer Einheiten zu kontrollieren trachten. Strategien der Hybridisierung können aber nicht nur subversiv gegenüber herrschender Autorität wirken, sondern sich auch in Praxen der Aneignung des kulturell Ausgegrenzten äußern.

Begehrenswerte Differenz

Diese Ambivalenz von Hybridität als analytische und politische Strategie untersucht Umut Erel in ihrer Studie "Grenzüberschreitungen und kulturelle Mischformen als antirassistischer Widerstand?". [10] Erel fragt, "wie kulturelle Grenzüberschreitungen und Mischformen in rassistische und sexistische sowie ökonomische Dominanzverhältnisse eingreifen", und problematisiert "die Exotisierung und Sexualisierung ethnisierter kultureller Produkte in der Warenkultur". Am ökonomischen Erfolg von zum Beispiel HipHop-Musik oder der diskursiven Nationalisierung von Essen wie Pizza, Döner & Co. kritisiert Erel, dass die Exotisierung kultureller Produkte zu einer Marketingstrategie geworden sei, die suggeriert: "Je exotischer die Produkte, die wir kaufen, desto einzigartiger unsere Identität."

Die Werbung benutze ethnische Differenz als "Mittel, Begehren, das auf die 'Anderen' gerichtet ist, auf Waren zu lenken". Damit verknüpft ist ein weiteres Problem, das die Sozialwissenschaftlerin anspricht: Wenn suggeriert wird, dass die Erfahrung der “Anderen“ auf jene Aspekte reduzierbar ist, die die/der “Eigene“ sehen, nachahmen und kaufen kann, entstehe die Gefahr, die “Anderen“ symbolisch auszulöschen. Eine solche "hybridisierende Identifikation" lasse für eine eigenständige Existenz ethnisierter Subjektivitäten keinen Raum. Das bedeutet, dass stets im Konkreten untersucht werden muss, wer die Bedingungen des Vermischens kultureller Produktionen definiert, und wer davon auf welche Weise profitiert.

Migrantinnen: Heldinnen des Cyberspace?

Es erscheint geradezu überlebensnotwendig, dass gerade Migrantinnen immer wieder neue Praktiken und Bedeutungen des Dazugehörens über Grenzen hinweg erfinden. Wie sie das tun, untersucht Umut Erel in ihrem Buch "Migrant Women Transforming Citizenship". Anhand der Interpretation von zehn lebensgeschichtlichen Interviews beschreibt sie, wie Migrantinnen der transnationalen Überwachungspraxis von Behörden ihre Forderung nach politischer und sozialer Teilnahme entgegensetzen und ihr eigenes Expertinnenwissen entwickeln. [11]

Es geht also nicht darum, Migrantinnen als besonders bedürftige oder diskriminierte Frauen bezüglich der Informations- und Kommunikationstechnologien zu positionieren und sie so erneut Prozessen des "Otherings" auszusetzen. Ebenso problematisch ist es, Migrantinnen als neue Heldinnen des Cyberspace zu küren. Vielmehr scheint es geboten, Migrantinnen nicht als homogene Gruppe, sondern in ihrer Vielfalt als gleichberechtigte Mitbürgerinnen anzuerkennen, sie mit ihren spezifischen Expertisen und Bedürfnissen zu Wort kommen zu lassen und wertzuschätzen. Das bedeutet, Migrantinnen müssen in alle Entscheidungen des öffentlichen Lebens, insbesondere auch betreffend der IKT, einbezogen werden. Darüber hinaus benötigen Migrantinnen, so wie auch alle anderen mehr oder weniger mobilen Menschen, einen unkontrollierten "privaten" Raum im Cyberspace ebenso wie in der materiellen Realität, um in sich ein Zuhause zu finden, um Gemeinschaft zu erleben und Träume auszutesten.

Fußnoten

[1] Irina Aristarkhova: Feminity, community, hospitality: towards a cyberethics. In: Claudia Reiche/Verena Kuni (Hg.): Cyberfeminism. Next protocols. Brooklyn, N. Y.: Autonomedia 2004, S. 33–47.

[2] Elisabeth Tuider: 'Feminisierung der Migration'. Migrantinnen zwischen Ausbeutung und Empowerment. In: Waltraud Ernst: Grenzregime. Geschlechterkonstellationen zwischen Kulturen und Räumen der Globalisierung. Berlin: Lit-Verlag 2010, S. 67–86.

[3] Vgl. www.frauen-informatik-geschichte.de

[4] Knut Sorensen/Wendy Faulkner/Els Rommes: Technologies of Inclusion. Gender in the Information Society. Trondheim: Tapir Academic Press 2011.

[5] Vgl. http://help.orf.at/stories/1682085

[6] Kommission der Europäischen Union, 2007, zit. nach: Sabine Hess: Gefangen in der Mobilität. Prekäre Zonierungsprozesse an den Rändern Europas. In: BEHEMOTH. A Journal on Civilisation, Vol. 5, No. 1, 2012, S. 8–29.

[7] Vgl. Waltraud Ernst: Towards a Global Gender Democracy? Rethinking Citizenship in the Context of the Globalization of Gender Relations. In: Heike Kahlert/Waltraud Ernst (Hg.): Reframing Demographic Change in Europe. Perspectives on Gender and Welfare state Transformations. Berlin: Lit Verlag 2010, S. 201–223.

[8] Vgl. Kerstin Alhajsuleiman/Perdita Pohle: Migration – Integration – Segregation: Untersuchungen zur soziokulturellen Lebenssituation und Integration türkischer Migrantinnen in Göttingen. In: Waltraud Ernst/Ulrike Bohle (Hg.): Transformationen von Geschlechterordnungen in Wissenschaft und anderen sozialen Institutionen. Hamburg: Lit Verlag 2006, S. 31–55.

[9] Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Hamburg: Stauffenberg Verlag 2000.

[10] Umut Erel: Grenzüberschreitungen und kulturelle Mischformen als antirassistischer Widerstand? In: Cathy S. Gelbin/Kader Konuk/Peggy Piesche (Hg.): Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland.Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 1999, S. 172–194.

[11] Umut Erel: Migrant Women Transforming Citizenship. London: Ashgate 2009.

Waltraud Ernst ist Philosophin und Literaturwissenschafterin. Ihre Studien, Lehr- und Forschungstätigkeiten führten sie an verschiedene Universitäten in der BR Deutschland und Österreich, Frankreich und den USA. Seit 2010 ist sie als Universitätsassistentin mit Schwerpunkt Gender Studies in Natur- und Technikwissenschaften am Institut für Frauen- und Geschlechterforschung der Johannes Kepler Universität Linz tätig.