Der Migrant im Kopf
Ahmed ist Mitte zwanzig, hat dunkle, kurze Haare und trägt einen dichten Vollbart. Seine Frau Fatima, die ihm bedingungslos Folge leistet, kümmert sich um Haushalt und Kinder, während er zuhause die Beine hochlagert, anstatt arbeiten zu gehen, und den Sozialstaat belastet.
Die Macht der Repräsentation
Ahmed und Fatima existieren nicht. Und doch sind sie real, oftmals viel realer als jene Menschen, die sie repräsentieren. Das Bild des untätigen, frauenverachtenden muslimischen Asylwerbers, der nicht nur für die anonymisierte Gesamtheit der Geflüchteten, sondern sämtliche männliche Migranten steht, ist längst massentauglich geworden. Dieses Bild spiegelt sich auch in der medialen Berichterstattung wieder, wobei die eigentlichen Subjekte der Berichterstattung, Geflüchtete, Asylwerber_innen und Migrant_innen, kaum zu Wort kommen. Sie sind gesichtslos, homogen, eine unkonkrete "Masse", die nur in Stereotypen greifbar wird.
Wie die Medienwirkungsforschung nahelegt, können diese Medienrealitäten Einfluss auf unser Wirklichkeitsbild haben, weshalb es sich lohnt, einen genaueren Blick auf deren Entstehungsmechanismen zu werfen. Eine qualitative Inhaltsanalyse von zehn Artikeln österreichischer Printmedien [1][2] , - unter bewusster Ausklammerung der eindeutig als Boulevardmedien identifizierbaren Tageszeitungen "Heute", "Österreich" und "Kronen Zeitung" - brachte einige sozialwissenschaftliche Phänomene zutage, die weite Teile der Berichterstattung durchziehen. Als Anlassfall diente die Berichterstattung seit den Kölner Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16. Dass hierbei das mediale Bild speziell männlicher Migranten analysiert wurde, ergibt sich aus dem medialen Diskurs zu dieser Zeit, der sich im Zusammenhang mit den Kölner Übergriffen vor allem auf Frauenbild, Wesen und Kulturverständnis von männlichen Migranten fokussiert hatte. Denn geht man nach der massenmedialen Darstellung, sind es die jungen, muslimischen, nicht-österreichischen Männer, die für die Gesamtheit aller Migrant_innen stehen, ein mögliches Sicherheitsrisiko darstellen und die "europäische Leitkultur" mit ihrem rückschrittlichen Weltbild gefährden.
Separatismus als Nährboden für Rassismus
Diese Trennung zwischen einem als homogen konstruierten Weltbild "der Migrant_innen" und den viel beschworenen, angeblich existierenden "europäischen Werten", zwischen "denen" und "uns", die in den Köpfen beginnt und in der Sprache ihren Ausdruck findet, liefert die Grundlage für neue Konjunktionen von Rassismen. Wer aufgrund eines bestimmten Merkmals nicht in die "Wir-Gruppe" der weißen, christlichen, österreichischen Mehrheitsgesellschaft passt, ist anders, wird separiert. Dabei wird sowohl Migrant_innen, die mit Muslim_innen gleichgesetzt werden, als auch der Mehrheitsgesellschaft ein kollektives Werteverständnis unterstellt, wie die deutsche Historikerin Yasemin Shooman anhand der deutschen Integrationsdebatte feststellte. [3]
Dabei ist niemand vor separatistischem Denken gefeit, im Gegenteil: Soziale Kategorien, wie etwa die plakative Unterscheidung zwischen "Mann" und "Frau", sind hilfreiche, aber selten unproblematische kognitive Stützen. Werden sozial konstruierte Kategorien allerdings als antagonistisch, natürlich und unüberwindlich präsentiert, ist der Weg für Diskriminierung aller Art geebnet. Diese unüberwindliche Grenze zwischen "uns" und "den anderen" wird implizit durch mediale Zuspitzungen, wie etwa "In der Welt der vielen jungen Männer" [4] oder "Asylwerber in Wien sind gefangen zwischen den Welten" [5], verstärkt. Die muslimischen Männer sind "uns" so fern, dass sie sprachlich eine eigene Welt erhalten.
Kultur und Religion als Stigmata
Differenzen in Kultur und Religion werden als unüberwindliche Grenzen dargestellt und für das Scheitern einer inklusiven Gesellschaft verantwortlich gemacht, was sich etwa an der Kopftuch- oder Integrationsdebatte zeigt. Immer wieder werden in diesem Kontext Stimmen laut, die der Gesamtheit der Muslim_innen auf Basis einzelner Zitate des Koran dessen Werteverständnis zuschreiben. So wird etwa in einem Kommentar [6] zur mit den "europäischen Werten" unvereinbaren muslimischen Kultur, erschienen in der "FAZ" und in "Der Standard", Sure zwei, Vers 223 des Koran zitiert: "Eure Frauen sind euch ein Saatfeld. Geht zu eurem Saatfeld, wo immer ihr wollt." Im Neuen Testament, im Ersten Brief an die Korinther (Kapitel 11, Vers 7-9), heißt es übrigens: "… die Frau aber ist der Abglanz des Mannes. Denn der Mann stammt nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann. Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, sondern die Frau für den Mann." Dass die Bibel dieselben Töne anschlägt und heilige Schriften per se wenig über die realen Praxen und Kulturen einer Gemeinschaft aussagen, wird im Zusammenhang mit "unseren Werten" schnell vergessen.
Die Politikwissenschaftlerin Leila Hadj-Abdou beschäftigte sich in den letzten Jahren mit diesem Phänomen in der österreichischen Gesellschaft und stellte mit ihren Forschungskolleginnen in ihrem Aufsatz "Hijabophobia revisited" fest: "Indem Geschlechtergerechtigkeit als ein integraler Bestandteil hegemonialer nationaler Kultur konstruiert wird, kam es zu einem exkludierenden und rassialisierten Verständnis von Geschlechtergleichheit, welches ein Bild von muslimischen Gruppen als die 'Anderen' zeichnet." [7]
Pseudofeminismus als Legitimation
Hier setzt der Pseudofeminismus jener Menschen an, die sich wenige Monate zuvor lautstark über Po-Grapsch-Paragraphen und Töchter in der Bundeshymne echauffiert hatten: Sexismus und (sexuelle) Gewalt gegen Frauen werden als typisch migrantisch-muslimische Probleme dargestellt und der (Alltags)Sexismus der Mehrheitsgesellschaft entweder ausgeklammert oder bagatellisiert. Auch wenn diese Praxis in manchen (alternativen) Medien thematisiert wurde, finden sich gerade in den Massenmedien dazu ungleich mehr Artikel, die die pseudofeministische Argumentationslinie zumindest implizit stärken.
So heißt es etwa in einem in der Tageszeitung "Die Presse" veröffentlichten Kommentar zum "Männerüberschuss" in der Teenager-Altersgruppe in Europa: "In der Bundesrepublik Deutschland […] sind über zwei Drittel der 1,1 Millionen Asylwerber alleinstehende Männer - mit allen sich daraus ergebenden Problemen. Die steigende Zahl sexueller Belästigungen und Vergewaltigungen ist eine davon." [8] Auch der bereits erwähnte, im "Standard" veröffentlichte Kommentar [4] der den Koran als Beweis einer rückschrittlichen, frauenverachtenden muslimischen Kultur anführt, stützt sich auf eine pseudofeministische Argumentation, nicht ohne den muslimischen Mann bzw. Migranten zudem als triebgesteuertes Wesen von "permanentem sexuellen Notstand" pauschal zu diffamieren.
Stärkung hegemonialer Männlichkeit
Nicht unwesentlich ist in dieser Argumentationslinie auch der Einfluss der hegemonialen Männlichkeit der Mehrheitsgesellschaft. Denn wenn Gewalt und Sexismus als kulturell determiniert dargestellt werden, bietet dies nicht nur Raum für Rassismus, sondern zudem ein Identifikationsangebot für 'westliche' Männer, wie etwa die Soziologinnen Iris Mendel und Petra Neuhold in ihrem Aufsatz "Feminismus und Antirassismus - another unhappy marriage?" schreiben: "Von der Frauenbewegung 'krisengebeutelt' haben sie (die 'westlichen' Männer, Anm.) die Möglichkeit, Souveränität und Handlungsmacht in der emanzipierten Überlegenheit gegenüber 'anderen Männern' herzustellen, auf die dann die vermeintlich überwundenen patriarchalen Phantasmen projiziert werden. Zudem lenkt die Selbstbestätigung als 'ohnehin schon gleichberechtigt' ab von tatsächlichen politischen Verschlechterungen für Frauen."[9]
Während einige Verzerrungsmechanismen der medialen Darstellung männlicher Migranten also einer bestimmten Ideologie dienen können, sind andere wiederum kaum vermeidbar. Nichtsdestotrotz und gerade deshalb kann die Auseinandersetzung mit medialen wie kollektiven Realitätskonstruktionen gesamtgesellschaftliche Prozesse offenlegen, die eine differenziertere Betrachtung der Migrationsdebatte ermöglichen. Weil ein Bild im Kopf keine komplexe Realität zu fassen vermag. Und weil es Ahmed nie geben wird.
Fußnoten
[1] Der Beobachtungszeitraum für die gesamte Untersuchung war zwischen 1.1. und 1.4.2016. Die tatsächlich zur Inhaltsanalyse ausgewählten Artikel sind alle zwischen 9.1. und 25.2 erschienen.
[2] Es wurden nur österreichische Printmedien (Zeitungen und Magazine mit Nachrichtenschwerpunkt) und einer österreichweiten Mindestreichweite von vier Prozent herangezogen. Weiter unten wird die FAZ erwähnt, da der untersuchte Standard-Artikel dort auch abgedruckt wurde.
[3] Yasemin Schooman: Keine Frage des Glaubens: Zur Rassifizierung von 'Kultur' und 'Religion' im antimuslimischen Rassismus. In: Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der 'Sarrazindebatte'. Münster 2011, S. 59-76.
[4]http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/4925441/Die-Welt-der-vielen-jungen-Maenner
[5]http://derstandard.at/2000031720745/Asylwerber-in-Wien-sind-gefangen-zwischen-den-Welten
[6] http://derstandard.at/2000029150970/Ihr-taeglich-Stueck-Frau-grapschen-Die-Vorfaelle-von-Koeln-und
[7] Leila Hadj-Abdou u.a.: Hijabophobia revisited: Kopftuchdebatten und -politiken in Europa. Ein Überblick über das Forschungsprojekt VEIL. In: Eva Hausbacher (Hg.): Migration und Geschlechterverhältnisse. Wiesbaden 2012, S. 198-230.
[8] http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/4904687/Zornige-junge-Maenner-sind-in-Europa-angekommen
[9] Iris Mendel und Petra Neuhold: Feminismus und Antirassismus - another unhappy marriage? Der Diskurs um 'kulturelle Gewalt' und die Möglichkeiten transnationaler feministischer Solidarität. In: Feministische Studien, 33. Jg., 1/2015, S. 50-51.