Nationale Mythen irritieren
migrazine.at: Mit Bezeichnungen wie "Zweite" und "Dritte Generation" wird versucht, eine neue Lebensrealität zu beschreiben: Menschen, die nicht selbst migriert sind, aber dennoch als Migrant_innen angerufen werden, und deren Biografien von Rassismus-Erfahrungen geprägt sind. Welche Auseinandersetzungen und Debatten stehen hinter diesen Begriffen?
Erol Yildiz: Um die Lebenswirklichkeiten von migrantischen Jugendlichen der Zweiten und Dritten Generation zu beschreiben und zu analysieren, wurden immer wieder neue Begriffe erfunden. In letzter Zeit hat sich die Bezeichnung "Jugendliche" oder "Menschen mit Migrationshintergrund" durchgesetzt. Bei genauerer Betrachtung erkennt man aber, dass dieser Begriff mit der vielfältigen Lebensrealität der betroffenen Jugendlichen kaum korrespondiert. Darüber hinaus sind mit dieser Bezeichnung in der Regel nicht alle Jugendlichen gemeint, deren Eltern oder Großeltern zugewandert sind, sondern in erster Linie solche, deren Eltern aus bestimmten Ländern kamen. So stehen in letzter Zeit vor allem Jugendliche im Mittelpunkt des Interesses, deren Eltern aus der Türkei stammen.
Ausgangspunkt dieser Klassifizierung ist der Mythos einer funktionierenden, homogenen einheimischen Gesellschaft, die erst einen angemessenen Umgang mit Jugendlichen, die einen sogenannten "Migrationshintergrund" haben, finden müsse. Solche Begriffe laufen Gefahr, zu einer hegemonialen Kategorie zu werden, die ihre eigene Normalität schafft, wenn nämlich davon ausgegangen wird, dass diese Jugendlichen zwischen zwei einander entgegengesetzte Kulturen geraten seien. Dieses "Leben zwischen zwei Welten" wird für ihre gesellschaftliche Sozialisation wiederum als hinderlich interpretiert, als eine Art "kulturelle Schizophrenie". Dabei fällt auf, dass die Entscheidung, was zur Krise bzw. zum Problem erklärt wird und was nicht, schon im Vorfeld gefallen ist, also bevor man sich überhaupt die Mühe macht, sich in die Alltagspraxis der Jugendlichen zu begeben, sie sozusagen als Expert_innen ihres eigenen Lebens zu betrachten.
Man könnte also sagen, es gibt von öffentlicher Seite ein gewisses Beharren auf einem Mythos der "kulturellen Schizophrenie" und zugleich eine Ignoranz gegenüber dem Konkreten – sprich den Perspektiven der Jugendlichen selbst. Diese werden vielmehr als Vertreter_innen einer kollektiven Einheit wahrgenommen – wie Mark Terkessidis feststellt, findet in dieser Situation eine "Entantwortung" statt.
Die "Niederungen des Alltags" werden entweder ignoriert oder als Abweichung von der herrschenden Normalität wahrgenommen. Doch gerade die vielfältigen und auch widersprüchlichen Praktiken, mittels derer die Jugendlichen ihre Räume gestalten und Biografien entwerfen, sind für die Konzeptualisierung einer Migrationsgesellschaft entscheidend.
Im Fokus ihrer wissenschaftlichen Arbeit stehen sogenannte "postmigrantische" Lebensentwürfe. Während im englischsprachigen Raum von "1,5 Generation" (Menschen, die im Kindes- bzw. Teenageralter migriert sind) oder auch von "Transmigrant_innen" (jene, die im frühen Alter migriert sind und Verbindungen zum Herkunftsland pflegen) die Rede ist, erlebt im deutschsprachigen Kontext der Begriff des "Postmigrantischen" derzeit eine Konjunktur. Was wird mit diesem Terminus eigentlich beschrieben?
Mit "postmigrantisch" meine ich die neuen Perspektiven auf die Gesellschaft, die die betroffenen Jugendlichen in der Auseinandersetzung mit den hegemonialen Verhältnissen entwerfen. Das Postmigrantische verweist auf das neue Verständnis, das die Zweite und Dritte Generation vor Ort entwickelt. Es sind Jugendliche, die selbst nicht eingewandert sind, die aber von außen als Migrant_innen oder als Menschen mit Migrationshintergrund wahrgenommen werden. Sie beginnen, ihre eigenen Geschichten zu erfinden und neu zu erzählen, in denen sie unterschiedliche und scheinbar widersprüchliche Elemente zu Lebensentwürfen zusammenfügen, die mit traditionellen nationalen Kategorien nicht zu fassen sind. In dieser Rekonstruktionsarbeit betreiben sie eine Art "Erinnerungsarchäologie" und versuchen andere Geschichten, die bisher ausgelassen oder ignoriert wurden, in das öffentliche Gedächtnis zu bringen, Geschichten, die eine völlig andere Sicht auf die Migrationsgesellschaft eröffnen.
Für den Rapper Hakan aus Köln ist es beispielsweise unverständlich, warum seine Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen Welten leben zu können, nicht anerkannt, sondern stattdessen eine kulturelle Eindeutigkeit verlangt wird. Er meint: "Viele suchen nach einem Punkt, von dem aus sie sich orientieren können. Ich glaube, so einen Punkt braucht man gar nicht." Hakan rappt über die Probleme der Zweiten und Dritten Generation. So thematisiert der Song "Iki Dünya" ("Zwei Welten") das Leben mit verschiedenen und widersprüchlichen Identitäten, in dem er sich mit seinen Lebensverhältnissen und hegemonialen Repräsentationen über Migranten auseinandersetzt.
"Das Leben zwischen den Welten", das bisher immer als Problem wahrgenommen wurde, wird hier zur passenden Metapher für kreative, ja sogar subversive Lebensentwürfe. In diesem Sinne sind postmigrantische Lebensentwürfe Grenzräume: Grenzen werden nicht als Barrieren, sondern als Schwellen, Orte des Übergangs, der Bewegung verstanden. Dazu gehört beispielsweise der Versuch, sich mit ausgegrenzten und stigmatisierten Stadtvierteln zu identifizieren und sich auf diese Weise zu verorten.
Eine weitere Strategie ist eine Art "Selbstethnisierung" gegen Prozesse der Fremdethnisierung – eine gezielte Reaktion auf die strukturellen Machtverhältnisse. So werden die hegemonialen Zuschreibungen unterlaufen und produktiv umgedeutet. Das antirassistische Bündnis "Kanak Attack", das eine lose Verbindung von postmigrantischen Jugendlichen und Heranwachsenden in Deutschland darstellt, ist ein Beispiel dafür, wie aus der hegemonialen Zuschreibung "Kanake" mittels einer ironischen Umdeutung eine positive Selbstdefinition gemacht wird. Stuart Hall nennt solche Strategien "Transkodierung". Dabei geht es darum, sich existierende Bedeutungen anzueignen und neu zu besetzen, also eine Umkehrung der Stereotype vorzunehmen.
Wie unterscheidet sich Ihrer Meinung nach das Konzept der "Hybridität", wie es etwa vom postkolonialen Theoretiker Homi K. Bhabha formuliert wurde, von dem des "Postmigrantischen"?
Das Postmigrantische markiert das neue Selbstverständnis, das die betroffenen Jugendlichen in der Auseinandersetzung mit der Dominanzgesellschaft hervorbringen. Hybridität ist quasi das Ergebnis und zeigt, wie Jugendliche im Prozess der Auseinandersetzung mehrdeutige und vielstimmige Lebensweisen entwickeln.
Das Postmigrantische stellt also eine veränderte Perspektive auf die Gesellschaft, auf die Geschichte dar. Wir brauchen diese Perspektivenverschiebung, um andere Bilder oder Aspekte freizulegen, die in den national geprägten Inszenierungen mehr oder weniger bewusst ausgespart bleiben. In diese neue Sichtweise wird auch die Migrationsgeschichte der ersten Generation einbezogen, die von der postmigrantischen Generation neu erzählt wird. So werden Aspekte sichtbar, die bisher marginalisiert, ignoriert oder verdrängt wurden.
Jacques Le Goff hat einmal gesagt: "Es gilt, ein Inventar der Archive des Schweigens zu erstellen." Lenkt man die Aufmerksamkeit auf die Inhalte solcher "Archive des Schweigens", dann erkennt man andere Lebenswirklichkeiten, die jenseits von nationalen Inszenierungen verlaufen, indem sie mehrdeutige, transnationale und translokale Verschränkungen aufweisen.
In seinen Filmen verlässt der Filmemacher Fatih Akin, der in Hamburg geboren und aufgewachsen ist und zur postmigrantischen Generation gehört, die festgefügten Lebensgeschichten und nationalen Räume und wendet sich den grenzüberschreitenden menschlichen Beziehungen zu, den zirkulären Bewegungen, dem unaufhörlichen Kommen und Gehen. Es geht um verwobene Geschichten, Vermischungen, Überschneidungen oder gelungene und misslungene Bindungen und Verbindungen. Seine Filme haben kein eindeutiges Ende, kein Ziel, an dem man ankommt oder zu dem man zurückkehrt. Er will nicht die Entscheidung für eine Zugehörigkeit ohne Rückkehr, plädiert dagegen für bewegte Zugehörigkeiten und Bindungen und bewegt sich selbst in einem Zwischenraum, wo unterschiedliche Zugehörigkeiten und Differenzen zusammentreffen, aus denen hybride und nationale Erzählungen und irritierende Lebensentwürfe hervorgehen. Gleichzeitig werden Rassismuserfahrungen, Dominanzverhältnisse und festgefahrene hegemoniale Konstruktionen sichtbar gemacht und ins öffentliche Gedächtnis gebracht. Darüber hinaus wird die festgefahrene ethnisch-nationale Wahrnehmung, die letztlich Ausgangspunkt jeglicher Integrationsdiskurse ist, infrage gestellt.
Der aktuelle Diskurs über die "Zweite Generation" ist sehr problemzentriert und stellt z.B. "Bildungsdefizite" und einen angeblich mangelnden "Integrationswillen" in den Mittelpunkt. Besteht nicht die Gefahr, dass der derzeitige Hype des "Postmigrantischen" existierende strukturelle Einschränkungen und Diskriminierungen vernachlässigt? Wie lässt sich das "Postmigrantische" in eine politische widerständige Praxis einbetten?
Die Idee des Postmigrantischen verdeutlicht, dass die betroffenen Jugendlichen nicht einfach passive Opfer ihrer Lebensverhältnisse und struktureller Diskriminierung sind, sondern auch in der Lage sind, Strategien gegen hegemoniale Verhältnisse zu entwickeln. So kann sichtbar gemacht werden, wie sie im urbanen Alltag zurechtkommen, wie sie sich mit den Bedingungen, die sie vorfinden, auseinandersetzen und ihnen Sinn geben, welche Lebenskonstruktionen und Verortungspraktiken dabei in den Vordergrund treten. Durch die Erzählung neuer Geschichten werden einerseits Machtverhältnisse offengelegt und andererseits die Anerkennung der Existenz gleichzeitiger und widersprüchlicher Lebenswirklichkeiten gefordert. Daher ist das Postmigrantische implizit herrschaftskritisch, politisch und wirkt irritierend auf nationale Mythen.
Interview: Radostina Patulova