Einige Überlegungen zu Anti-Schwarzem Rassismus in der Türkei
Festus Okey wurde am 20. August 2007 in der Untersuchungshaft im Polizeizentrum Beyoglu in Istanbul von einem Polizisten erschossen. Okey war ein Fußballspieler aus Nigeria, der zu dem Zeitpunkt seit 2 Jahren in Istanbul gelebt hat um sich dort auf seine Fußballkarriere zu konzentrieren. Festgenommen wurde er, ohne jeglichen Beweis, wegen Drogenhandels. Die genauen Umstände seiner Ermordung sind bis heute nicht geklärt. So waren weder die Kameras im Polizeizentrum in Betrieb, noch war das Hemd, das Okey getragen hatte und das für die gerichtsmedizinische Untersuchung hilfreiche Hinweise liefern hätte können, auffindbar. Der verdächtige Polizist und sein Anwalt haben bei den Anhörungen Okey als „Drogendealer“ beschrieben und die Tat so geschildert, dass Okey einige Täschchen Kokain dabei hatte. Im Zuge des Polizeieinsatzes soll Okey versucht haben, die Waffe des Polizisten an sich zu nehmen1. Während dieses Tumults wurde Okey unabsichtlich erschossen. Spätere Ermittlungen zeigten jedoch, dass es keine Nachweise für Drogenbesitz gab. Zwei Fotos des Raumes wurden in die Akte aufgenommen, auf ihnen sind der Polizist und Okey zu sehen, allerdings keine Konfliktsituation. Der angeklagte Polizist verteidigte sich mit folgendem Satz bei den Anhörungen: „Schwarze und Bürger aus dem Osten erregen mehr Aufmerksamkeit in Bezug auf Drogen.“2
Okeys Leichnam wurde kurz nach der Ermordung von seiner Familie in Nigeria bestattet. Trotzdem wurden mehrere Anhörungen verschoben, weil die Identität von Okey nicht bestätigt werden konnte. Das Gericht war nicht davon überzeugt, dass Festus Okey wirklich die Person war, die im Polizeizentrum Beyoglu erschossen wurde. Der Anwalt des angeklagten Polizisten forderte deshalb einen Identitätsnachweis Okeys3. Der türkische Gerichtshof hat aber keinen Kontakt mit der Familie Okeys aufgenommen. Die Aktivist:innen des Migrant Solidarity Networks (org. Göcmen Dayanisma Dernegi) und Menschenrechtsanwält:innen haben dies als eine Missachtung durch das Gericht betrachtet und Klage gegen die Staatsanwaltschaft erhoben4. Anschließend beantragten die Menschenrechtsanwält:innen die Miteinbeziehung Okeys Bruders in den Gerichtsprozess. Erst 2011 hat das Gericht mit der Familie Kontakt aufgenommen5, um ihnen mitzuteilen, dass ein Identitätsnachweis durch einen DNA-Test von einem Familienmitglied notwendig sei. Okeys Bruder ist aber vom Gericht nie eingeladen worden, noch dazu wurde das von ihm beantragte Einreise-Visum abgelehnt6. Einer von Okeys Anwält:innen, Alptekin Ocak, und die Künstlerin Banu Cennetoglu haben 2018 mit der Familie Okeys erneut Kontakt aufgenommen und sind zu ihnen nach Johannesburg, Südafrika gereist. Sie haben das DNA-Testergebnis sowie die Vollmacht für die Einreichung abgeholt. Dies legten sie für die Gerichtssitzung 2019 vor7. Das Verfahren dauert nach wie vor an — die letzte Anhörung war am 4. November 2020. Da jedoch der angeklagte Polizist nicht daran teilgenommen hat, wurde die Anhörung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben8.
Festus Okeys Fall ist kein Einzelfall. Die US-Amerikanerin Tracey Lynn Brown wurde 2013, während sie von Usbekistan in die USA fliegen wollte und sich für den Umstieg am Atatürk Flughafen in Istanbul aufhielt, festgenommen und in einem Zimmer von drei Polizisten erstickt. Jede Sekunde dieses Geschehens wurde von einer Überwachungskamera aufgenommen und das Video in den Sozialen Medien verbreitet. Die angeklagten Polizisten wurden 2018 zu sieben Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt9.
Bekannt ist die Polizeibrutalität in der Türkei vor allem gegenüber der kurdischen Bevölkerung, ebenso sind Linke, Frauen und Trans*Personen sowie Journalist:innen verstärkt davon betroffen. Jeder Fall von Polizeigewalt muss im Kontext der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und der jeweiligen Position der Betroffenen betrachtet werden, um zu verstehen, wer darüber entscheidet, jemandes Leben zu beenden. In den USA, in Österreich, in Deutschland wird die Polizeigewalt an Schwarzen Menschen mit historischen Verhältnissen in Verbindung gebracht, deren Kontinuitäten gegenwärtig in institutionellen Strukturen verankert sind und die systemische Gewalt und strukturellen Rassismus reproduzieren. Wie sind diese Fälle in der Türkei zu verorten? Wo sollen wir anfangen, über die Gewalt an Schwarzen Menschen in der Türkei zu sprechen?
Sklaverei im Osmanischen Reich und der Türkei
Ich besuchte 2017 die 15. Istanbul Biennale, die in diesem Jahr den Titel: „a good neighbour / iyi bir komşu“ trug. Wohl oder übel fragt sich eine, während der Krieg in Syrien eskaliert, anti-Frauen*politik und anti-kurdischer Rassismus sich zuspitzen, weltweit menschenverachtende Grenzpolitiken verfolgt werden, Ausstellungen zensuriert oder abgesagt werden, wer eigentlich mit diesem Titel angesprochen wird? Mit diesem Gedanken spazierte ich hinein ins Museum Pera und lernte dort im dritten Stock die Installation „Afro Kismet“ des Konzeptkünstlers und Institutionskritikers Fred Wilson kennen. Wilson stellte ausgeliehene historische und gegenwärtige Gemälde zur osmanischen Zeit aus verschiedenen Museen, auf denen sich Schwarze Figuren befinden, aus.10 Neben den Gemälden gab es mit Iznik-Keramik-Fliesen (tr. Iznik Çinisi) verlegte Wände, auf denen in arabischer Sprache mit der osmanischen Kalligraphie „Black is Beautiful“ und „Mother Africa“ zu lesen waren. Passend zu diesen angeeigneten Praktiken und Objekten aus der osmanischen Zeit hingen zwei aus Murano Glas gefertigte, schwarz glänzende Luster11 als Objekt mit den Titeln: „Eclipse“ und „The Way the Moon’s in Love with the Dark“ im Raum. Dies könnte als Verweis auf die rassistische Bezeichnung „Gündüz Feneri“ interpretiert werden, die im osmanischen Reich für Schwarze Menschen verwendet wurde und das „Herausleuchten“ Schwarzer Menschen aus einer nicht-schwarzen Bevölkerung hervorhebt. Diese Bezeichnung wird in der Türkei nach wie vor verwendet.
Wilson zeigte durch seine Recherche in der Installation umfangreiches Wissen zur Geschichte der Sklaverei im osmanischen Reich und in der Türkei und schaffte einen Zugang zur Frage der Aufarbeitung der Position des Osmanischen Reiches und des darauffolgend gegründeten türkischen Nationalstaats zum Sklav:innenhandel.
Die Geschichte der Sklaverei im Osmanischen Reich geht bis ins 13. Jahrhundert zurück. In seinem Buch „The Ottoman Slave Trade and Its Suppression“, 1840-1890 gibt Ehud R. Toledano an, dass durch den Sklav:innenhandel jährlich ca. 10.000 Menschen12 ins Osmanische Reich gebracht worden sind und dass diese Zahl nach 1850 allein im Bezug auf Sklav:innen aus Afrika auf 13.000 angestiegen ist13. Nachdem der Sklav:innenhandel in England mit dem Gesetz „Slave Trade Act 1807“ abgeschafft und verboten worden ist, haben die britischen Behörden in den darauffolgenden Jahren das osmanische Reich auf internationalen und bürokratischen Wegen unter Druck gesetzt14. In diesem Zusammenhang werden die Tanzimat Reformen 1857 als erster Schritt für das Verbot des Sklav:innenhandels gesehen15. Während der Sklav:innenhandel in öffentlichen Räumen teilweise verboten worden ist, wurde er illegal und heimlich weitergeführt16. Mustafa Olpak, Afrotürkischer Aktivist, Autor und Forscher, gestorben 2016, unterstreicht in seinem Text „Osmanli Impratorlugunda Köle, Türkiye Cumhuriyeti’nde Evlatlik: Afro-Türkler“ (de. Sklav:in im osmanischen Imperium, Adoptionskind in der türkischen Republik: Afrotürk:innen), dass der Sklav:innenhandel erst mit der Gründung der türkischen Republik 1923 abgeschafft wurde, die Sklav:innen mit dem Gesetz der Gleichberechtigung 1924 von ihren Besitzern gelöst wurden, und 1926 die Staatsbürgerschaft erhalten haben17. Denn das Sklav:innensystem hat durch die Abschaffung der Sharia 1924 seine rechtliche Grundlage verloren18. Die Soziologin Esma Durugönül stellt fest, dass die Geschichte Schwarzer Menschen im Osmanischen Reich und in der türkischen Republik ungeschrieben blieb, daher braucht es eine neue Historiographie, die die Geschichte der Afrotürk:innen involviert19. Die offizielle Geschichtsschreibung und -vermittlung im Bildungssystem der Türkei schliesst die Geschichte der Afrotürk:innen aus. Auch in historischen Studien, in denen die Bedeutung des türkischen Nationalstaats für die unterdrückten Bevölkerungen wie Tscherkess:innen, Alevit:innen, Kurd:innen, Armenier:innen, Griech:innen untersucht werden, kommen Schwarze Menschen bis heute nicht vor.
In der heutigen Türkei gibt es eine Community, deren Angehörige sich als Afrotürk:innen20 bezeichnen. Sie sind Nachfahren der im 19. Jahrhundert nach Anatolien gebrachten Sklav:innen, die heute im Mittelmeerraum sowie an der Ägäis leben, aber kaum über Wissen zu ihren Vorfahren verfügen. Mustafa Olpak hatte das Ziel, alle Afrotürk:innen unter einem Dach zusammenzubringen. Mit dieser Idee gründete er 2006 den afrotürkischen Verein „Afrikalilar - Kültür ve Dayanisma Dernegi” (de. Verein Gesellschaft zur Förderung der afrikanische Kultur und Solidarität), die die Lücke in der generationsübergreifenden Weitergabe und Geschichtsvermittlung erfüllen sollte. Auch von seiner eigenen Erfahrung ausgehend, gliedert Olpak die Aufarbeitung der Geschichte der Afrotürk:innen in drei Generationen: die erste Generation lebt als Sklav:in, die zweite leugnet und und die dritte erforscht21. Die dritte Generation organisiert im Rahmen des jährlich — seit 2007 — stattfindenden Kalbsfests22 (tr. Dana Bayrami) verschiedene Veranstaltungen, zu der internationale Wissenschaftler:innen und viele Menschen aus verschiedenen Ländern eingeladen werden, die das kollektive Gedächtnis zur Vergangenheit teilen, mit dem Ziel der Solidarität und des Austauschs. Der Vereinssitz befindet sich in Izmir. Der heutige Vorsitzende des Vereins Afrotürk:innen, Sakir Doguluer, beschreibt, dass es keine von staatlicher Seite geführte Statistik darüber gibt, wie viele Afrotürk:innen derzeit in der Türkei leben. Über den Verein schätzen sie 25.000 Menschen, deren Vorfahren aus u.a. Tansania, Sudan, Kenya, Kongo und Somalia23 kommen.
Kontinuitäten und Afrotürk:innen
Mustafa Olpak recherchierte seine eigene Familiengeschichte und veröffentlichte 2005 das Buch „Kenya-Girit-İstanbul: Köle Kıyısından İnsan Biyografileri“ (de. Kenya-Kreta-Istanbul: Die Biografien aus der Sklavenküste). Seine Großeltern wurden aus Kenya in das heutige Griechenland verbracht und im Rahmen des Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland und der Türkei wurden sie 1923 in die Türkei geschickt. Olpak berichtete auch 2006 im Dokumentarfilm der Regisseurin Gül Muyan über die Vergangenheit der Afrotürk:innen. Der Film trägt den Titel des türkischen Kinderlieds „Arap kizi camdan bakiyor“. Die deutsche Übersetzung dieses Liedes lautet „Das ‚arap‘ Mädchen schaut durch das Fenster“. Der Begriff „Arap“ steht hier für ein Schwarzes Mädchen, das adoptiert wurde. Olpak erörtert — auch ausgehend von ihm überlieferten Erfahrungen aus der Familie —, dass die Abschaffung des Sklav:innenensystems einen Übergang zum Adoptionssystem darstellt24. Seines Erachtens beginnt dieser Übergang gleich nach den Tanzimat Reformen 1857 und damit ersetzten Adoptionskinder die Sklav:innen. Diese Kinder waren hauptsächlich Kinder von Menschen, die sich von ihren ehemaligen Besitzern befreit haben sowie Waisenkinder, die in staatlich eingerichteten Quartieren lebten und zur Adoption freigegeben wurden. Die Soziologin Ferhunde Özbay weist darauf hin, dass der Paragraph zum Adoptionssystem 1926 in das türkische Zivilgesetzbuch aufgenommen worden ist. Jede Person über 35 Jahre und ohne Kinder durfte ein Kind adoptieren, das nicht älter als 18 Jahre war25. Diese Gesetzgebung zielte rechtlich darauf ab, sklavereiähnliche Praktiken, die bis dahin angewendet worden sind, zu vermeiden. Özbay unterstreicht, dass das Adoptionssystem trotz den Maßnahmen der 1857 beschlossenen Tanzimat Reformen sowie Adoptionsgesetz 1924 bis 1960er Jahren missbraucht wurde. Schließlich trat das neue Gesetz zur „Abschaffung von Sklaverei, Sklavenhandel, ähnlichen Praktiken und Traditionen“ (tr. Kölelik, Köle Ticareti, Köleliğe Benzer Uygulama ve Geleneklerin Ortadan Kaldırılması Kanunu) 1964 in Kraft, um diese Praktiken im Rahmen des Adoptionssystems zu verbieten.26
Dieses Gesetz beinhaltete u.a. eine Änderung des Adoptionssystems das es türkischen Familien bis zu diesem Zeitpunkt ermöglichte, Schwarze, armenische, kurdische, griechische sowie tscherkessische Mädchen zu adoptieren und sie als Küchenhelferinnen und Babysitterinnen im Haushalt einzusetzen27. Olpak berichtete von vielen Afrotürk:innen, die adoptiert worden sind. Das Kinderlied „Arap kizi camdan bakiyor“ wurde mit dem Titel „13,5“ von Sanar Yurdatapan umgeschrieben und von der afrotürkischen Sängerin Esmeray 1975 interpretiert. Die englische Übersetzung lautet wie folgt:
„13,5
It’s raining, it’s flooding
The Arab Girl is looking out the window
It’s me, the Arab girl,
Curly hair, red lips
Beady eyes, and a line of pearl teeth
A black fate written across my forehead
Kids run with fear when I appear
A pinch, 13,5
I don’t mind my color being black
As long as my heart isn’t
Dear mother, I fear, the goblin is here
If not the goblin, then it is the Arab Sister
the sister has no right to live comfortably
the sister has no right to carry a heart
It’s raining, it’s flooding
The Arab Girl is looking out the window
Kids run with fear when I appear
A pinch, 13,5
I don’t mind my color being black
As long as my heart isn’t”28
Auch in der türkischen Filmindustrie „Yesilcam“ gibt es viele Beispiele dafür, wie Afrotürk:innen als „Arap Baci“ (Baci: Schwester im Sinne von Küchenhelferin) oder „Arap Dadi“ (Dadi: Babysisterin) dargestellt werden. Deren Rolle wurde meistens von der afrotürkischen Schauspielerin Dursine Sirin übernommen. Auch im türkischen Kindermärchen Keloglan, dessen Buch in Film und Theater adoptiert worden sind, sehen wir den Charakter „Arap Baci“.
Ob die Praktiken im Rahmen des Adoptionssystems wirklich als Kontinuität der Sklaverei betrachtet werden können, hängt davon ab, wie über die Sklaverei im osmanischen Reich gesprochen wird. Sklaverei in dieser Zeit ist im Kontrast zum Westen als ein positives Beispiel zu sehen, im Sinne dass es als weniger gewalttätig dargestellt wird und die gesellschaftliche Wahrnehmung ist weitgehend davon geprägt. Das liegt daran, dass die Sklav:innen oftmals als Teil der Familie gesehen wurden und im Haushalt tätig waren29. Außerdem gibt es Mythen und Zuschreibungen über das osmanische Imperium als „Kranker Mann am Bosporus“ und „Opfer“ der kolonialen Mächte im 19. Jahrhundert, die das Imperium nicht als einen Akteur sondern als Betroffenen zeigen, die eine Wahrnehmung schürt, in der die Osman:innen im Rahmen der Aufteilung Afrikas keine Rolle gespielt hätten30. Özbay unterstreicht, dass die Darstellung von Sklaverei als humane Praxis im Osmanischen Reich als auch die Abhängigkeitsverhältnisse in der heutigen Gesellschaft, die in manchen Aspekten der damaligen Sklaverei ähneln, eine historische Kritik erschweren31. Außerdem werden die Konsequenzen für jene Menschen, die als Sklav:innen gebracht und weiter verkauft worden sind, deren Nachfahren unter dem Adoptionssystem lebten und heute strukturellen und Alltagsrassismus erleben, nicht berücksichtigt. Es trägt zu ihrer Unsichtbarmachung in der Geschichte und Gegenwart bei.
Diskriminierung
Fred Wilson produzierte die Arbeit „ARAP DEGIL“ (en. Not Arab), als Teil der Installation „Afro Kismet”, die aus zwei Schwarzen Figuren bestand, die an der Wand einer Mittelschichtswohnung hängen32. Afrotürk:innen werden in der Türkei — wie oben erwähnt — wie alle anderen Schwarzen Menschen als „Arap“ oder mit dem im Alltag mehr verbreiteten „z-Wort“33 in der Türkei bezeichnet. Die aus dem Arabischen stammenden Wörter wurden in der osmanischen Zeit ausschließlich für Schwarze Sklav:innen verwendet. Mit „Arap“ sind hier nicht Angehörige einer arabischen Nation gemeint, sondern das Wort ist mit „blackamoor“34 vergleichbar.
Die Soziologin Lülüfer Körükmez, Vorstandsmitglied des afrotürkischen Vereins, erforschte die Diskriminierung, die Afrotürk:innen auf Grund ihrer Hautfarbe in Izmir Umgebung und im Stadtzentrum erleben. Körükmez weist darauf hin, dass Afrotürk:innen besonders in türkischen Stadtzentren auf verschiedene Arten belästigt werden. Verbale Belästigung bedeutet nicht nur auf der Straße, sondern auch an der Universität, in der Schule, im Krankenhaus und im Berufsleben als „Arap“, „kara“35 oder mit dem „z-Wort“ angesprochen zu werden.36 Afrotürk:innen lehnen es ab und erleben es als verletzend, mit Wörtern angesprochen zu werden, die auf die Zeit der Sklaverei verweisen und unter welchen ihre Vorfahren gelitten haben. Körükmez schreibt über Fälle, in denen Afrotürk:innen auf Grund dieser Belästigungen die Schule oder ihr Studium abbrechen. Auch Mustafa Olpak erzählt, dass er nur die Grundschule abschliessen konnte. Aufgrund der permanenten Diskriminierungen hat er die Schule abgebrochen37. Außerdem beschreiben Afrotürk:innen die Erfahrung von Stereotypisierungen, nämlich, dass sie als Kriminelle und „Drogendealer“ in der Gesellschaft gesehen werden. So sind zum Beispiel Schwarze Männer im Stadtzentrum von Izmir andauernd von Polizeikontrollen betroffen, wie die Interviewpartner von Körükmez berichten38.
Die „deutsche Welle“ veröffentlichte die Sendung „Afro-turks on the Legacy of the Ottoman Empire’s slave trade“39, bei der Yalcin Yanik, der bei den Kommunalwahlen 2019 für die HDP (Halklarin Demokratik Partisi, die demokratische Partei der Völker) in Izmir kandidierte, interviewt wird. Yalcin Yaniks Vorfahren kamen aus Tansania und heute lebt er mit seiner Familie in Izmir. Im Interview wurde sein jugendlicher Sohn Umut Yanik gefragt, wie er den Alltag in der Türkei als Afrotürke erlebt. Umut antwortet, dass er sich immer noch nicht traut, viele Menschen zu treffen. Auch wenn es ihm heute im Vergleich zu vor ein Paar Jahren besser geht, fühlt er sich nicht wohl, weil es ihn stört, dass die Menschen ihn anstarren. Auch in anderen Interviews40 hören wir ähnliche Aussagen von Afrotürk:innen. Sie erwarten von der Bevölkerung der Türkei, dass sie nicht mehr gefragt werden z.B. woher sie kommen und wo sie die türkische Sprache gelernt haben. Sie fordern gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung, weil sie Teil der Geschichte und der gegenwärtigen Gesellschaft sind.
Schlusswort
Als ich begonnen habe diesen Text zu schreiben, war mir noch nicht klar, wie ich eine Verbindung zwischen dem Mord an Festus Okey einerseits und der Position des osmanischen Reiches sowie der Türkei zum Sklav:innenhandel andererseits herstellen könnte. Die Kontinuitäten der Sklaverei begleiten uns jedoch bis heute in unserem Alltag, etwa in Form von Filmen oder Liedern. Es wurde schon einiges über die Geschichte des Sklav:innenhandels in der osmanischen Zeit sowie seine Verbindung zum gegenwärtigen anti-Schwarzen Rassismus geschrieben. Die Studie von Körükmez, die Lebensexpertise von Olpak und die Aktivitäten vom Afrotürkischen Verein zeigen den institutionalisierten und alltäglichen Rassismus, der sich sowohl gegen Afrotürk:innen als auch gegen Schwarze Migrant:innen wie eben Festus Okey richtet.
Die Diskriminierung von Afrotürk:innen und Schwarzen Migrant:innen wird in der Türkei vermehrt zum Thema gemacht. Dass es bis zu einer möglichen Gleichstellung in der türkischen Gesellschaft dennoch ein weiter Weg ist, offenbart nicht zuletzt ein vor kurzem von Euronews veröffentlichtes Interview in dem mehrere Schwarze Migrant:innen, die seit kurzem in der Türkei leben, von ihren Diskriminierungserfahrungen berichten. Alltagsrassismus ist für sie Teil ihres Lebens ebenso wie die Erfahrung, wie „Sklav:innen“ behandelt werden. Viele werden alltäglich mit den oben genannten rassistischen Wörtern, deren Ursprung bis zur Sklaverei zurück geht, angesprochen und von ihren Arbeitgeber:innen entgegen anders lautender Versprechen oftmals am Ende ihrer Tätigkeit nicht bezahlt41. Die Arbeit afrotürkischer Vereine in Bezug auf Selbstermächtigung, Sichtbarmachung und gesellschaftliche Sensibilisierung hat nichts an Wichtigkeit verloren.
Fußnoten
1Cakir, 04. 12. 2018.
2Korkmaz, 2011
3Coskun, 12.12.2018.
4Cakir, 2018.
5In dieser Zeit wurde es auch viel kritisiert, dass das türkische Gericht entweder die Dokumente in die falsche Behörde schickt oder in der falschen Sprache.
6Cakir, 2018.
7Saymaz, 16.01.2020.
8Cumhuriyet, 04.11.2020.
9CNN-Türk, 20.11.2018.
10Fred Wilsons Intervention ist dabei, die Schwarzen Figuren auf den Bildern sichtbar zu machen. Er hat sie nachgemalt und neben den originellen Gemälden gehängt.
11Die Installation „Afro Kismet“ ist eine Fortsetzung des Projekts „Untitled“, das Wilson im Rahmen der Venedig Biennale 2003 zeigte.
12Im Osmanischen Reich beinhaltet der Sklavenhandel weisen und Schwarzen Sklav:innen. Weißen Sklav:innen vorwiegend sind Georgisch und Tscherkessian, Schwarzen Sklav:innen aus verschiedenen Ländern aus Afrika.
13Toledano, 1982; vgl. Körükmez 2017.
14Toledano, 1982; p. 124.
15Erdem 1996; Toledano, 1982.
16Ebd.; ebd.: p. 11; Özbay 1999, s. 10
17Olpak, 2013, s. 124-125.
18Ebd.: s. 124; Erdem 1996.
19Durugönül, 2003, p. 282.
20Siehe u.a. https://www.youtube.com/watch?v=juMrxBM3ZXk. Die in dem Video interviewte Person beschreibt, das mit Afrotürk:in auch Afro:kurdische Personen gemeint sein könnten. Wilson erwähnt, dass er im Zuge seiner Recherche in Istanbul auch die Bezeichnung „Afroanatolianer:in“ als möglichen gemeinsamen Begriff für Afrogriech:innen, Afrokurd:innen und Afroarmenier:innen gehört hat. Afro Kismet, p 70.
21Olpak, 2013, s. 126-27.
22Die Tradition von Fests stammt von der Zor/Bori-Kultur und befindet seine Wurzeln in Nord und Ostafrika. Das Fest wurde jährlich bis 1922 während der osmanischen Zeit von versklavten Schwarzen Menschen gefeiert.
23+ 90, 14.01.2020.
24Olpak, 2013, s.127.
25Özbay (1999), s. 9.
26Ebd.:, 30; http://www.afroturc.org/amac-ve-hedefler, Zum Gesetz: https://www.tbmm.gov.tr/tutanaklar/KANUNLAR_KARARLAR/kanuntbmmc047/kanuntbmmc047/kanuntbmmc04700361.pdf
27Ferhunde Özbay konzentriert sich hauptsächlich auf die tscherkessian Mädchen, und behandelt unter anderen Sexuellen Missbrauch im Haushalt.
28Translated by Nazim Hikmet Richard Dikbas, 2018, in Catalogue Afro Kismet. p. 61.
29Historiker Y. Hakan Erdem (1996) erklärt die Umsetzung des Sklav:innenenssystem in der osmanischen Zeit mit dem Begriff „domestic slavery„ in Anlehnung an Ehud R. Toledano. Das Sklav:innensystem war ein offenes System, bezogen auf islamische Regelungen, und bedeutete nicht, dass Sklav:innen bis zu ihrem Tod bei ihren Besitzern bleiben müssen, sondern das System war darauf konzentriert, dass die Sklav:innen – in einer unbestimmten Zeit - von den Besitzern gelöst und in die Gesellschaft integriert werden. Siehe auch der Dokumentarfilm“Arap kizi camdan bakiyor”: https://www.youtube.com/watch?v=1OY6mK9PO0Q
30Eine weiterführende Literatur ist das von Mostafa Minawi veröffentlichte Buch “The Ottoman Scramble for Africa: Empire and Diplomacy in the Sahara and the Hicaz”. Minawi vertritt die These, dass der osmanische Imperialismus in Historiker Eric Hobsbawms Konzeptualisierung "Age of Empire" zum britischen und französischen Imperialismus dazu gezählt werden sollte. Es soll in Betracht gezogen werden, dass das Osmanische Reich als einer der vierzehn europäischen Staaten an der Berliner Konferenz teilgenommen hat, die als “Scramble for Africa” gekennzeichnet worden ist. Das Osmanische Reich bemühte sich sowohl durch die Tanzimat Reformen als auch bei der Berliner Konferenz um die Entwicklung neoimperialer Taktiken und strategischer Ziele in Afrika und forderte Mitspracherecht im Rahmen des Scramble for Africa.
31Özbay, 1999, s.2.
32Bige Örer, 2018.
33Z-Wort entspricht „zenci“ und ist mit dem N-Wort im Deutschen vergleichbar. Der öffentliche Diskurs um die Verwendung dieses Begriffes hat sich noch nicht etabliert. Das ist der Grund warum ich das Wort hier in der Fußnote einmal vollständig verwende.
34Toledano, 1982, siehe Notes in p. XIV.
35Kara ist mit „Schwarz“ vergleichbar. Wenn es für die Schwarze Menschen verwendet wird, bedeutet es „Sklave“.
36Körükmez, 2017, s. 68.
37Ebd.: 69.
38Ebd.: 71.
39Deutsche Welle, 12.01.2019.
40+ 90, 14.01.2020, https://www.youtube.com/watch?v=HxKzw72sEz8
41Kosar und Yalvac, 20.09.2020.
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