Editorial
Verlernen meint nicht, Gewusstes und Gelerntes zu löschen, zu annullieren oder auf einen imaginären Ausgangszustand zurückzusetzen. Verlernen meint aber auch nicht, etwas abzustreifen oder abzutreten, ähnlich einem Kleidungsstück oder einem Rucksack. In der postkolonialen Theorietradition von Gayatri Spivak eröffnet Verlernen einen Raum, der es erlaube, "Privilegien als einen Verlust zu erleben" (María do Mar Castro Varela). Auf einer pädagogisch-politischen Handlungsebene bringt Castro Varela dies in Verbindung mit der Rebellion gegen die eigene Subjektwerdung und einer "Praxis des Regelbrechens".
Der Einstiegstext bietet Einblick in Prozesse des Verlernens in der kritischen Bildungsarbeit vom kollektiv. In der Begegnung zwischen Lehrenden und Lernenden entpuppt sich Unvoreingenommenheit als eine Illusion: Immer schon existiert ein (vermeintliches) Wissen über die Migrant_innen - dies ist die brennende Herausforderung. Catrin Seefranz berichtet in einem Interview über den ambitionierten Versuch der Night School, einen fragilen Raum herzustellen, in dem es um das "Herstellen, Aushalten und Aushandeln von Dissens" und den daraus hervorgehenden flüchtenden Moment des Verlernens geht. Wiederum andere Praxen des Ver/Lernens wurden im vom Büro trafo.K lancierten Projekt "Strategien für Zwischenräume. Neue Formate des Ver_Lernens in der Migrationsgesellschaft" erprobt. Im Anschluss an dieses Projekt reflektiert Renate Höllwart den Versuch, gegen-hegemoniale Forschung und Archivierung zusammen zu entwickeln.
In ihrer Auseinandersetzung mit dem Ent/Üben von Gewohnheiten eröffnet Ruth Sondergger einen gouvernementalen Zugang zum Verlernen. Die Sphäre des alltäglichen Handelns ist für Sondergger deshalb von zentraler Bedeutung, weil eingeschliffene Gewohnheiten, Gesten und habituelle Praxen besonders raffiniert Machtoperationen verschleiern.
Fast alle hier versammelten Texte bezeugen auf die eine oder andere Weise, dass Verlernen eine Un/Möglichkeit darstellt, ein durch und durch ambitioniertes Unterfangen, das auch Scheitern miteinschließt und selbstreflexive Praxen erforderlich macht. Verlernen kann keine schnellen Ergebnisse hervorbringen; Verlernen ist ein "langwieriger und zäher Prozess" (Nora Sternfeld).