Ausgabe 2013/2

Critical Whiteness – Kritisches Weißsein

Seit einigen Jahren erhalten Critical-Whiteness-Konzepte in den Debatten der antirassistischen Linken zunehmende Aufmerksamkeit. In diesem Schwerpunkt, der in Kooperation mit dem feministischen Magazin an.schläge entstanden ist, gehen wir der Frage nach: Welche Bedeutung hat Critical Whiteness/Kritisches Weißsein – oftmals als elitärer akademischer Diskurs kritisiert – für die antirassistische Praxis? Die unterschiedlichen Perspektiven auf diese Frage spiegeln sich nicht zuletzt auch in den Begriffsverwendungen und Schreibweisen der Beiträge (zum Beispiel Schwarz, weiß, Weißsein oder weiß-sein).
Über Begrifflichkeiten wurde auch in der Vorbereitung zum Schwerpunkt in unseren Redaktionen diskutiert: Welche Entwicklungsgeschichte legt der englischsprachige Terminus Critical Whiteness nahe? Handelt es sich bei der aus den USA stammenden Forschungsrichtung tatsächlich um etwas Neues? Und: Knüpft Kritisches Weißsein an die hiesigen antirassistischen Kämpfe von Schwarzen Menschen und People of Color an?

Fokus ^

Critical Feelgood-Faktor

von Katharina Röggla

Die Critical Whiteness Studies machen als neue rassismuskritische Forschungsrichtung von sich reden. Um dazu beitragen zu können, Rassismus zu bekämpfen, müssen sie sich aber auch in konkrete antirassistische Politik übersetzen.

Seit einigen Jahren finden die Critical Whiteness Studies (CWS) auch in Deutschland und Österreich Eingang in rassismuskritische Theorie und Praxis. Zunächst vor allem in Uni-Seminaren oder Workshops präsent, hat sich der Begriff – spätestens seit er das No-Border Camp [1] in Köln im Sommer 2012 entzweit hat – inzwischen aus dem akademischen Schattendasein gelöst und subkulturelles Schlagzeilenpotenzial entwickelt.

Im Spiegel der Geschichte

von Susan Arndt

Rassismus ist historisch gewachsen. Weißsein war sein Motor. Die Kritische Weißseinsforschung muss das rassistische Wissensarchiv herausfordern. [1]

Kein anderes System der Unterdrückung einer Kultur durch eine andere hat strukturell wie diskursiv eine dermaßen tiefgreifende, nachhaltige und global weitreichende Agenda erschaffen wie der Rassismus. Rassismus ist eine in Europa historisch gewachsene Ideologie und Machtstruktur, die die Kategorie "Rasse" aus dem Tier- und Pflanzenreich auf Menschen übertrug. Aus einer willkürlichen Auswahl bestimmter körperlicher Kategorien wurden Bündel geschnürt, diesen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben und die auf diese Weise hergestellten Unterschiede verallgemeinert und hierarchisiert.

Vom Schauen und Sehen

von Sharon Dodua Otoo

Schwarze Literatur und Theorieproduktion als Chance für die weiße Mehrheitsgesellschaft.

Mein Projekt ist ein Bemühen darum, den kritischen Blick vom rassischen Objekt zum rassischen Subjekt zu wenden; von den Beschriebenen und Imaginierten zu den Beschreibenden und Imaginierenden; von den Dienenden zu den Bedienten.
- Toni Morrison [1]

"Kritisches Weißsein ist eine Überlebensstrategie"

Interview mit Peggy Piesche

Für Schwarze Menschen hat Kritische Weißseinsforschung eine lange Tradition. Rafaela Siegenthaler sprach mit Peggy Piesche über den Import von US-amerikanischen Debatten, die Akademisierung von Weißseins-Diskursen und weiße Herrschaftsansprüche.

migrazine.at: In deutschsprachigen Diskursen ist die Verwendung des englischsprachigen Begriffs "Critical Whiteness Studies" üblich. Im Sammelband "Mythen, Masken und Subjekte", den Sie mit herausgegeben haben, wird dennoch die Bezeichnung Kritische Weißseinsforschung verwendet – warum?

Mehr als ein Trend

von Hengameh Yaghoobifarah und Mikki Kendall

Unter den Hashtags #SolidarityIsForWhiteWomen und #SchauHin wird (Alltags-)Rassismus angeprangert. Was können solche Tweets bewirken?

#SolidarityIsForWhiteWomen war das Kürzel für ein viel größeres Problem innerhalb des Feminismus. Der Twitter-Hashtag begann als Reaktion auf die Probleme, die einige US-feminists of color mit Hugo Schwyzer hatten. [1] Obwohl er regelmäßig women of color angriff, wurde er von Weißen Feministinnen unterstützt.

Die Normalität entnormalisieren

Interview mit Lann Hornscheidt

Wie lassen sich "weiße" Privilegien und Normen benennen? Vina Yun sprach mit Lann Hornscheidt, Professx für Gender Studies und Sprachanalyse in Berlin, über die Möglichkeiten antirassistischen sprachlichen Handelns.

migrazine.at: In der Auseinandersetzung mit "Weißsein" geht es immer wieder auch um antirassistische Sprachkritik. Dabei werden insbesondere verletzende Begriffe infrage gestellt und politische Selbstbezeichnungen minoritärer Gruppen wie etwa "People of Color" in den Vordergrund gerückt. Wie lässt sich jedoch "Weißsein" – als das Nicht-Benannte, Unsichtbare – thematisieren?

Weißer Feminismus im Fokus

Interview mit Gabriele Dietze

In den politischen Debatten in den USA stehen sich Gender und "Race" wiederholt als konkurrierende Kategorien gegenüber. Gabriele Dietze erklärt im Gespräch mit Beate Hausbichler, warum für US-AmerikanerInnen Fragen zu "Race" besonders schmerzlich sind und Rassismus oft schwerer wiegt als sexistische Diskriminierung.

Die Kämpfe für Frauen- und BürgerInnenrechte gehören zu den wichtigen Emanzipationsbewegungen in den USA seit den 1960er-Jahren. Dabei standen sich die beiden Widerstandsdiskurse nicht immer gegenseitig unterstützend bei, sondern positionierten sich wiederholt auch in erbitterter Konkurrenz zueinander.

Situierte Kritik

von Stefanie Mayer

Antirassistische Feminismen haben Geschichte. Der Blick zurück kann helfen, kritische Perspektiven auf die aktuellen Debatten über Critical Whiteness zu entwickeln.

In der kritischen Reflexion von Weißsein sind für mich vor allem zwei Aspekte antirassistischer Theorie und Praxis wichtig: Erstens, dass Rassismus grundsätzlich als Problem der Rassist_innen zu analysieren ist und nicht als eines derjenigen, die diskriminiert werden. Zweitens, dass eine Beschäftigung mit gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen nicht von der Positionierung der Schreibenden in eben diesen Verhältnissen losgelöst werden kann.

Das Problem mit "Critical Whiteness"

von Melanie Bee

Wenn weiße Aktivist_innen antirassistische Theorie von ihrer sozialen Praxis trennen, ist Gefahr im Verzug. Von Melanie Bee [1]

Der Begriff Critical Whiteness entstammt der akademischen Industrie. Er kommt aus der Sparte eines universitären Feldes, das in den USA Ethnic Studies und in Europa oftmals Postcolonial Studies heißt. Warum gerade Critical Whiteness im deutschsprachigen Raum zum heißen Scheinanglizismus avancierte, während dieser Titel unter US-Aktivist_innen relativ unbekannt ist, kann ich nicht sagen.

Crossover ^

Europa fressen und ausspucken

Interview mit maiz kultur

Seit ihren Anfängen nutzt die Migrantinnen-Selbstorganisation maiz künstlerische Ausdrucksformen, um gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie zu intervenieren. Das jüngste Kulturprojekt von maiz, "Eating Europe", entstand in Zusammenarbeit mit dem Refugee Protestcamp Vienna. Im Rahmen der öffentlichen Aktionsplattform "Rebelodrom" haben sich die Aktivist_innen in einer kannibalistischen Prozession "Europa" einverleibt.

migrazine.at: Was ist die "Menschen fressende Gesellschaft", und welchem Ziel dient sie?

Rotlicht statt Blaulicht

Interview mit Christian Knappik und Dani und Hans Christian Voigt und Tina Leisch

Immer stärker verdrängt die Wiener Stadtregierung Sexarbeiterinnen von der Straße – und damit aus dem Blick der Öffentlichkeit. Die AnrainerInnen-Initiative "Stuwerkomitee" tritt dieser Politik entgegen und solidarisiert sich mit den Forderungen von Sexarbeiterinnen-Organisationen.

Der folgende Beitrag ist die bearbeitete Transkription eines Studiogesprächs von Radio Dispositiv vom 18. September 2013 auf ORANGE 94.0, moderiert von Herbert Gnauer. Mit dabei waren Christian Knappik vom Forum sexworker.at, Tina Leisch und Hans Christian Voigt vom Stuwerkomitee und Sexarbeiterin Dani.

Liebe, die sich auszahlt

von Irene Messinger

Heirat und Verpartnerung als subversive Praxis in Geschichte und Gegenwart.

"Wenn auf Erden die Liebe herrschte, wären alle Gesetze entbehrlich." Dieses Zitat, das dem griechischen Philosophen Aristoteles zugeschrieben wird, findet sich nicht etwa auf den Transparenten anarchistischer Bewegungen, sondern schmückt als beliebter Spruch vor allem Hochzeitsbilletts. Doch Aristoteles wäre verwundert, würde er sehen, wie zahlreiche gesetzliche Regelungen unser Privatleben normieren und versuchen, die Liebe und die Heiratswilligkeit nach bevölkerungspolitischen Kriterien zu lenken.

Wessen Körper, wessen Rechte?

von Hilde Grammel und LEFÖ

Ist Sexarbeit selbstbestimmte Arbeit oder Gewalt gegen Frauen? In Österreich tritt derzeit eine Petition für das Verbot von Sexkauf ein. Feminist_innen positionieren sich dazu sehr unterschiedlich, wie auch die feministische Migrantinnen-Organisation LEFÖ und Hilde Grammel von der "Plattform 20.000 Frauen" klarmachen.

Wir von LEFÖ sprechen von Sexarbeit, um einen akzeptierenden und unterstützenden Zugang gegenüber sexuellen DienstleisterInnen begrifflich zu transportieren. Wir sprechen auch von Sexarbeit, um den Fokus auf die Arbeit zu richten, die erbracht wird und auf entsprechende Forderungen nach umfassenden Arbeits- und Sozialrechten für SexarbeiterInnen.

Sterben, wegziehen, wiederkehren

von Vina Yun

In der autobiografischen Graphic Novel "Das Spiel der Schwalben" erzählt Zeina Abirached vom Alltag im libanesischen Bürgerkrieg.

Beirut, 1987. Die siebenjährige Zeina Abirached wurde mitten im Bürgerkrieg im Libanon geboren, der zwischen 1975 und 1990 Land und Bevölkerung auseinanderriss. Durch die libanesische Hauptstadt zieht sich eine Demarkationslinie, die "Green Line", die den christlich dominierten Westen und den muslimisch geprägten Osten von Beirut voneinander trennt. In den Vierteln nahe dieser Grenzlinie hat die Bevölkerung Mauern aus Sandsäcken und Containern errichtet, um sich vor den Kugeln der Heckenschützen zu verstecken.

Ungleiche Reproduktion – Reproduzierte Ungleichheit

von Veronika Siegl

Für eine Samenspende nach Dänemark, für eine Eizelle nach Tschechien oder Spanien und für eine Leihmutter nach Indien oder in die Ukraine? Globalisierung, Neoliberalismus und individualistische Vorstellungen von Freiheit eröffnen eine Reihe von Möglichkeiten innerhalb der technologisch unterstützten Reproduktionsmedizin. Diese Möglichkeiten wirken jedoch auf traditionelle Familienbilder sowie auf geschlechtliche und globale Ungleichverhältnisse widersprüchlich.

Doron Mamet macht es möglich. Er und sein Partner hatten von einer Leihmutter in den USA ein Kind austragen lassen und sich damit einen großen Traum erfüllt. Aber nur wenige Menschen können sich dieses kostspielige Prozedere leisten, und so gründete der Israeli vor einigen Jahren die Vermittlungsfirma "Tammuz". Wählt man seinen so genannten "East-West-Plan", werden Eizellen in den USA befruchtet und dann in Indien – wo die Kosten mit 20.000 bis 30.000 Dollar bei ca. einem Drittel der Preise in den USA liegen – einer Leihmutter eingesetzt.

"Our main goal is to support each other" (english)

Interview with Pye Jakobsson

Rose Alliance is an organization by sex workers for sex workers in Stockholm. Pye Jakobsson, one of its main founders, talks about the goals of Rose Alliance as well as the present reality of sex workers in Sweden.

The so-called "Swedish model" was introduced in Sweden in 1999. The legislation, which is part of the "Act against Violence Against Women" ("Kvinnofrid"), criminalizes the purchase – but not selling – of sexual services. It also makes pimping, procuring and operating a brothel illegal. On top of that, the "pimping law" does not allow sex workers to share an apartment and work together, since they can be charged with exploiting the other person and with leading her into sex work. Norway and Iceland adopted similar legislation in 2009.

Fucking John

von Vina Yun

In seinem Comic "Paying For It" protokolliert Chester Brown seine Laufbahn als Freier – und verwechselt dabei das Privileg auf käuflichen Sex mit "befreiter" Sexualität.

Bekannt wurde Chester Brown mit seinen Graphic Novels "Ed the Happy Clown" und "Louis Riel", einer Comic-Bio des gleichnamigen kanadischen Politikers und Volkshelden aus dem 19. Jahrhundert. Doch es waren vor allem seine autobiografischen Werke ("The Playboy", "I Never Liked You") –, die in der jungen nordamerikanischen Independent-Comic-Szene der 1990er-Jahre Spuren hinterließen und auch jenseits des Atlantiks eine wachsende Fangemeinde erreichten (letzterer Comic erschien unter dem ursprünglichen Titel „Fuck“ Mitte der 1990er auf Deutsch bei Jochen Enterprises).