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Momente der Freude

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von Rafaela Siegenthaler

Eine Essay über die vielen Schichten des Geschichten-erzählens

“Let me tell you a story. For all I have is a story. Story passed on from generation to generation, named Joy. Told for the joy it gives the storyteller and the listener. Joy inherent in the process of storytelling. Whoever understands it also understands that a story, as distressing as it can be in its joy, never takes anything away from anybody. Its name, remember, is Joy.“ (Minh-ha, 1989, 119)

Geschichten, vielfältig wie das Leben, können vielschichtige Emotionen manifestieren in jeder Form und Intensität, sie können gleichwohl Befreiung als auch Unterdrückung intendieren.

Die Filmemacherin, Komponistin und Kulturtheoretikerin Trinh Minh-ha beschreibt in ihrer vielschichtigen Arbeit “Woman, Native, Other” aus unterschiedlichen Perspektiven die Bedeutung von Freude, die sich sowohl im Akt des Geschichtenerzählens als auch im Moment des Zuhörens manifestiert. Davon inspiriert widmet sich dieser Text, wie es  Minh-ha’s Zitat beschreibt, jenem Geschichten-erzählen, das Freude hervorzurufen vermag…

Eine Geschichte als Bruchstück und Ganzes in einem

Ich erinnere mich an viele Geschichten meiner Mama, die sie uns als Kind erzählte. Es war Storytime, wann immer sie Geschichten aus ihrer Kindheit auspackte. Sie lachte oft Tränen. Manchmal so sehr, dass sie kaum weiter erzählen konnte. Ich war fasziniert. Dass meine Mama als Schwarzes Kind – eines von sechs – einer alleinerziehenden Mutter während der Militärdiktatur in Salvador de Bahia (Brasilien) aufwuchs; dass es zu dieser Zeit nicht immer lustig war, vermochte ich erst Jahre später zu realisieren.

“Each story is at once a fragment and a whole; a whole within a whole.” (Minh-ha, 1989, 123).

Dass meine Mama beim Teilen ihrer durch die Erinnerung mitgetragenen Geschichten Tränen lachte, zeichnet mir heute noch ein Lächeln ins Gesicht. Heute, um den damaligen politischen Kontext wissend, berührt es mich tief, dass wir über diese Zeit so viel lachen konnten. Geschichten tragen einen besonderen Zauber. Die erzählende Person schöpft die Kraft des Erzählens aus der Erfahrung, aus der eigenen oder aus Erfahrungen, die ihr berichtet wurden. Für all diejenigen, die der Geschichte lauschen und sie durch stille Freude berührt mittragen, entsteht eine neue Erfahrung. (Vgl. Benjamin, 1977, 389) Und so ist Geschichten-erzählen die älteste Bibliothek, von Mund zu Ohr, von Hand zu Hand (vgl. Minh-ha, 2010, 207).

Subversives Moment des Geschichten-erzählens

Geschichten faszinieren. Und sie können ein subversives Moment in sich tragen. Besonders für das Konzept der afrikanischen Diaspora, wo zentrale Bezugspunkte in der populären Geschichtserzählung oft fehlen, trägt das Geschichten-erzählen eine besondere Bedeutung. Im Weitererzählen von Geschichte(n) kann historisches Wissen – beispielsweise über antirassistischen Widerstand – die Autorität hegemonialer Geschichtsvermittlung in Frage stellen. Im Weiterreichen von historischem Wissen in Form erzählter Geschichten liegt aber auch eine Essenz des Bewahrens. Es ermöglicht das Weiterreichen unterschiedlicher Formen von Wissen, welches sich der aus der kolonialen Logik resultierenden epistemischen Gewalt widersetzt. (Vgl. Fanon, 1981; hooks, 1994; Trouillot, 1995; Chakrabarty, 2002; Kilomba, 2009; Mignolo 2012) Die Geschichten Erzählungen meiner Mama waren Momente des Widerstands und überlieferten Weisheiten, die in mir Freude, Mut und Staunen hervorbrachten.

Geschichten als geteilter Moment der Achtsamkeit

Emanzipatorische Geschichten zu erzählen setzt Freude frei. Denn das Erzählen von Geschichten heißt auch teilen. Und damit ist nicht (nur) das Teilen von Wissen, Erfahrung, oder Erinnerung gemeint – welches zumal die Identität, die Selbst- und Weltwahrnehmung formen, strukturieren und festigen sollen. Sondern das Geschichten-erzählen bedeutet zunächst und im Besonderen das Teilen von Aufmerksamkeit. Im Geschichten-erzählen und vielmehr noch im Lauschen von Geschichten öffnet und entfaltet sich eine gemeinsame Achtsamkeit. Weder ist das Erzählen nur aktiv, noch ist das Zuhören nur passiv, sondern es ist eine gemeinsame Praxis des Gebens und Empfangens, ein geteilter Augenblick manifestierter Freude, die sowohl für die Gebende als auch für die Empfangende mit einem Gefühl von Dankbarkeit, Erkenntnis und Emanzipation verbunden sein kann.

Vielleicht könnte es darum gehen, in und durch Geschichten-erzählung die Aufmerksamkeit dahin zu lenken, dass das, was wir sind, letztlich ein Geheimnis bleibt, welches in keiner Identität, keiner Erfahrung, keiner Erinnerung und in keinem Konzept aufgeht. Kann es Geschichten geben, die das Identitätslose unseres Seins freilegen? Welche Befreiung und Freude vermag diese Erkenntnis freizusetzen? Und wie manifestiert sich darin Dankbarkeit, all dem oder denjenigen, die uns am Weg dahin begleiten?

Identitäten als ambivalenter Akt des Geschichtenerzählens

Gewiss bezwecken nicht alle Geschichten eine Art von Befreiung. Gerade wenn Geschichten letztlich nur das Stiften und Stärken von Identitäten intendieren, sind sie immer auch ambivalent. Der Gedanke, dass Geschichten ein heilendes bzw. selbstermächtigendes Moment in sich tragen können, in dem sie beispielsweise die vermeintliche Identität als Schwarze Frau in einer durch Rassismus geprägten Gesellschaft bestärken, kann durchaus auch irreführend sein. Denn nicht selten werden dabei auch jene herrschenden Geschichten und Überzeugungen  reproduziert, die vermitteln, dass wir auf Körpermerkmale oder sonstige Eigenschaften, Erfahrungen oder Interessen reduziert werden könnten. Als wäre die Oberfläche das Wesen. „Glücklich sein zu wollen und dabei das Selbst mit dem Körper zu identifizieren, ist wie der Versuch, den Fluss auf dem Rücken eines Krokodils zu überqueren.“ (Sri Ramana Maharashi, 2014, viii)

Wie wir einen Körper wahrnehmen, wie wir unseren eigenen Körper wahrnehmen, entspringt ebenso einer Geschichte. Es sind Geschichten der Identifizierung und der Identität, die sich in den Körper einschreiben. Was nicht heissen soll, den Geschichten der Identität prinzipiell die Legitimität abzusprechen, denn diese können durchaus auch emanzipatorische Gegennarrative zu herrschenden Identitäten bedeuten. Und doch wird es dann irreführend, wenn man selbst beginnt, an diese Identität zu glauben, als wäre sie die Wirklichkeit.

Identitäten, auch emanzipatorisch gemeinte Identitäten, sind eben auch nur eine Geschichte: “[...] the story being as complex as life and life being as simple as a story.” (Minh-ha, 1989, 144).

Geschichtenerzählen als eine Praxis der Stille

Vielleicht zeigt sich Geschichten-erzählung in den unscheinbarsten Momenten des Alltags und vielleicht ist es eine tägliche Praxis. Eine Praxis der Stille und des Zuhörens. Eine Stille, die stillt, uns nährt, indem wir ihr lauschen. Zuhören üben. Achtsamkeit schenken. Teilen.

Wenn das Unscheinbare unseres alltäglichen Lebens die eigentliche Geschichte aufzeigt, insofern wir ihr zuhören und sie aufmerksam erleben können, verblassen vor diesem Hintergrund nicht alle Bestrebungen nach Widerstand gegen diskriminierende Strukturen? Gewiss nicht. Diskriminierende Strukturen gilt es, klar in Frage zu stellen und ihnen widerständig entgegenzutreten. Auch durch das subversive Moment des Geschichten-erzählens. Doch letztendlich gilt es, die unterdrückenden Situationen zu transformieren in eine Sphäre, die sich vor jeder Identitäts- und Willensbildung ereignet und die stets friedvoll und immer schon befriedigend ist. Denn in allem emanzipatorischen Bemühen geht es doch darum, eine Welt frei von Gewaltverhältnissen jeglicher Form zu kreieren… in der Momente der Freude wachsen können... in der wir weinen können vor lauter Lachen.

Quelle:

Benjamin, Walter. Illumniationen. Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. 1977.

Chakrabarty, Dipesh. Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte. In: Conrad, Sebastian/ Randeria, Shalini (Hg). Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektive in den Geschichst- und Kulturwissenschaften. Frankfurt / New York: Campus Verlag. 2002. [S. 283 – 312].

Fanon, Frantz. Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. 1981.

hooks, bell. Black Looks. Popkultur – Medien – Rassismus. Berlin: Orlanda Frauenverlag. 1994.

Kilomba, Grada. No Mask. In: Eggers, Maureen Maisha/ Kilomba, Grada/ Piesche, Peggy (Hg). Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster:  Unrast Verlag. 2009. [S. 80 – 88].

Maharashi, Sri Ramana. Alles ist Eins. Sudarsan Graphics: Chennai. 2014.

Mignolo, Walter D. Epistemischer Ungehorsam. Rethorik der

Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Wien: Turia + Kant Verlag. Wien. 2012.

Minh-ha, Trinh T.. Woman, Native, Other. Postkolonialität und Feminismus Schreiben. Turia & Kant Verlag: Wien/Berlin. 2010.

Minh-ha, Trinh T.. Woman, Native, Other: writing postcoloniality and feminism. Indiana University Press: Bloomington. 1989.

Trouillot, Michel-Rolph. Silencing the Past. Power and the Production of History. Boston: Beacon Press. 1995.

Rafaela Siegenthalerarbeitet derzeit an ihrer Masterarbeit zum Thema "Antirassistisch-feministische Geschichtserzählung aus Schwarzer Perspektive" am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.