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Kindheitsg‘schichten und andere Grausamkeiten

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von Günay Özaylı

Der Kontext: erste Gastarbeitergeneration. Die Handlung spielt am Land - in Vorarlberg. In der Recherche zu einer Migrationsausstellung habe ich mehrere Interviews mit Frauen und Männern der ersten Gastarbeitergeneration geführt und habe nicht nur die Vergangenheit meiner Eltern aufgearbeitet, sondern eine Vergangenheit, die für viele meiner Generation prägend war. Eine Bekannte meiner Eltern erzählte die Geschichte ihrer Verhältnisse in den 1970er und 1980er Jahren, die geprägt waren durch Arbeit, schlechten Wohnverhältnissen und die Hoffnung, in diesem Land, durch harte Arbeit, ein finanzielles Fundament, ein “besseres” Leben für ihre Familien aufbauen zu können. Die Frage der Kindererziehung war immer ein Problem. Entweder wurden die Kinder nach der Geburt in die Heimatländer geschickt, oder sie wurden von österreichischen Hausfrauen betreut. Zwar waren die Kinder im Vergleich zur Schweiz1 nicht in Schränken versteckt und illegal im Land, dementsprechend auch öffentlich sichtbar, doch gab es keine institutionelle Betreuung. Die Unterbringung bei autochthonen Familien ermöglichte den migrantischen Frauen nicht nur die “Freiheit” zu arbeiten, sondern auch die Möglichkeit ihre Kinder doch noch regelmäßig an den Wochenenden sehen zu können. Auch ich war eines dieser Kinder, die in einer österreichischen Familie bis zum zweiten Lebensjahr betreut wurde. Die Geschichten, um die es sich hier handelt, sind nicht meine Eigenen, sondern andere, weit tragischere.

Ahmet, das Kind der Bekannten, wurde von einer österreichischen Familie betreut, die es sich leisten konnte, durch ein Einkommen den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Natürlich lässt sich aus feministischer Sicht dieses heteronormative Familienmodell kritisieren. Doch der ökonomische Faktor spielt im Weiteren eine wesentliche Rolle und wirft Fragen auf, die ich hier nicht thematisieren möchte. Durch die Betreuung eines „Gastarbeiterkindes“ konnte ein wenig das Haushaltseinkommen aufgebessert werden, vielleicht auch ein wenig Unabhängigkeit geschaffen werden. Doch die Privilegierung, die durch ökonomische Verhältnisse stabilisiert wird, schaffte hier die Sicherheit, einer Gastarbeiterfamilie ein Angebot zu unterbreiten: Ahmet im Austausch für 100.000 Schilling (EUR 7.267,28). Empörung! Es handelt sich hier nicht um eine unkonventionelle Episode des Tatorts2, es handelt sich hier um eine reale Geschichte, die in der idyllischen österreichischen Landschaft spielt. Doch wenn wir uns fragen, aus welcher Motivation Menschen sich dazu entschließen, diese Art von Angebot zu unterbreiten, kommen wir schnell zu dem Versuch, in der Rekonstruktion „rationale“ Argumente zu suchen: Beispielsweise, dass die pflegenden Personen ein Näheverhältnis aufgebaut haben, dass sie das Beste für Ahmet wollten, dass Ahmets „Rabenmutter”3 eigentlich zuhause sitzen und statt zu arbeiten ihr Kind betreuen sollte etc. Zusammenfassend lässt sich im Namen des Kindeswohls eines herauskristallisieren: Die Angebotsteller*innen nahmen sich das Recht, gedanklich zu entscheiden unter welchen Bedingungen Ahmet bessere Zukunftschancen hat. Es spielen natürlich nicht nur emotionale Faktoren eine Rolle – vielmehr ein Denksystem das sich als westeuropäisch, Weiß und privilegiert beschreiben lässt. Menschen, die es gewohnt sind, ihre eigenen Emotionalitäten hinter vermeintlichen Rationalitäten und Handlungsoptionen in den Vordergrund zu stellen und sich das Recht herausnehmen, migrierten Menschen ihre Wirklichkeit aufzudrängen. Allein das Wissen, dass Ahmet das Recht auf ein “besseres” Leben haben muss, hätte dafür reichen können, die Verhältnisse an sich zu hinterfragen und die Ungleichheit beim Namen zu nennen. Doch vielmehr wurden die eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt gestellt. Das Wissen um ökonomische, rechtliche und soziale Ungleichheit versucht durch Paternalismus auszugleichen. Das Angebot war eine “gute” Tat, denn das Kindeswohl war ja im Vordergrund. Ahmets Mutter hat ihren Sohn sofort bei einer anderen (migrantischen) Frau untergebracht.

Natürlich ist es möglich, Ahmets Geschichte als Singularität abzulegen, wenn es da nicht auch noch Mehmet geben würde. Mehmet wurde wie ich und Ahmet auch bei einem österreichischen Ehepaar untergebracht. Das Ehepaar hatte keine eigenen Kinder – konnten anscheinend auch keine bekommen. Eines Tages entschieden sie sich, Mehmet zu entführen. Warum auch nicht, Mehmet war das sechste Kind einer Gastarbeiterfamilie – die „hatten ja genug Kinder“ und außerdem ging es Mehmet bei dem österreichischen Paar auch “besser”. Mehmet wurde entführt und die Familie hat sich irgendwo in Ostösterreich versteckt (was die migrantische Familie zu diesem Zeitpunkt nicht wusste). Mehmets Eltern gingen zu ihrem Vorarbeiter und erzählten von der Entführung. Anstatt die Polizei zu verständigen, beschwichtigte er die Eltern und meinte, dass sie wahrscheinlich wieder auftauchen würden. Die Eltern gingen nicht zu der Polizei. Empörung! Wie konnten die Eltern darauf verzichten, die Polizei zu involvieren? Wie konnten sie darauf verzichten, ihr Recht auf Aufklärung in Anspruch zu nehmen? Wie konnte sich der Vorarbeiter das Recht herausnehmen, nicht auf ein „funktionierendes“ Rechtssystem hinzuweisen? Um dies verstehen zu können, benötigt es Wissen, welches für nicht-migrantische Menschen nicht zugänglich ist. Die Narrationen, die ich als Kind immer wieder gehört habe, Kinderhandel, Kindesentführung und Kindesentzug, sind also keine Geschichten die erzählt worden sind, um uns Kinder zu erschrecken – sie waren real, sie waren so real wie es nicht realer sein kann – sie spielten sich in meiner nächsten Nachbarschaft ab.

Wer sich mit situierten Erinnerungen auseinandersetzt, sollte sich immer auch fragen, wie Erinnerungen in ein Verhältnis zu aktuellen Diskursen gesetzt werden können. Diese Erinnerungen sind Teil des kollektiven migrantischen Gedächtnisses. Sie haben zum Teil noch keinen Weg in die Erinnerungskultur der europäischen Mehrheitsgesellschaft gefunden – zu Recht. Solange die Täter*innenperspektive nicht als diejenige anerkannt wird was sie ist – nämlich Unrecht im Namen des “Guten” zu (re)produzieren, können diese Geschichten nicht ihre Verortung finden. Es reicht nicht, die Erinnerungen der Migrant*innen aufzudecken und ihre Narrationen wiederzugeben, ohne dabei die jeweiligen Diskurse und deren Machtverhältnisse aufzuzeigen. In welcher Tradition lassen sich also diese Erinnerungen lesen? Historisch gesehen wurden die Kinder der “Anderen” in Europa immer entzogen und fremd untergebracht (siehe auch: Roma/Sinti, lesbische Frauen, BPoC Kinder, armutsgefährdete Familien, Verdingkinder etc.). Bis in die 1990er Jahre wurden lesbischen Frauen das Sorgerecht ihrer Kinder entzogen mit der Begründung „aus Sicht der Gerichte diente es dem Kindeswohl, in einer heterosexuellen Beziehung aufzuwachsen“ (Zschunke 2018). Die Praktik des Entzugs der jenischen Kinder aus ihren Familien in der Schweiz wurden mit der Begründung „übergeordnete gesellschafts- und ordnungspolitische Zwecke“ aus ihrem „schädlichen Milieu“ gerechtfertigt (Maier, Leimgruber & Sablonier 1998; Hürliman 2000). Noch heute werden migrantische und/oder BPoC Kinder ihren Eltern entzogen und fremd untergebracht aber auch verhältnismäßig oft zur “freiwilligen” Adoption freigegeben. Um die historische Kontinuität verstehen zu können, müssen aber nicht nur die Institutionen und ihre Praktiken, sondern auch pädagogische Normativitäten, die in diesen Institutionen noch heute herrschen, betrachtet werden. Aber auch die Frage gestellt werden, wie politisch auf diese Normativitäten reagiert werden kann.  Die „richtige“ Erziehung und das „richtige“ Umfeld stützt sich immer noch auf den Gedanken eines europäischen und bürgerlichen Familienmodells, das sich nicht nur als heteronormativ beschreiben lässt, sondern auch moralische Implikationen trägt. Noch heute reproduzieren sich normative und paternalistische Handlungen im Namen des “zivilisierten” Europas – meine Kindheitserinnerungen sind also keine Geschichten, die sensationelle Empörung verursachen sollten, vielmehr sind es Geschichten, die das Problem der ethischen Rechtfertigung aufwerfen – doch die Ethik in Europa ist zu einer institutionellen Frage geworden, pädagogisiert in kleinen Häppchen, damit es uns nicht im Hals stecken bleibt… aber das ist eine andere Grausamkeit.

1Der illegale Status der italienischen Gastarbeiterkinder in der Schweiz gründete sich über den unsicheren Status als Saisonierarbeiter*innen die wegen dem Familiennachzugsverbot ab den 50er bis in die 90er – kein Recht auf einen legalen Status für ihre Kinder beanspruchen konnten. Trotzdem waren die Kinder da - Vincenzo Todisco beschreibt in seinem Roman „Das Eidechsenkind“ die Situation eines sogenannten „Schrankkindes“.

2Der Tatort ist eine Kriminalfilmreihe die sich damit brüsten kann, wahrscheinlich fast jedes rassistische wie auch diskriminierende Moment in die deutschsprachige Filmgemeinschaft integriert zu haben.

3Das Konzept der Rabenmutter ist wohl eher eine westeuropäische patriarchale Erfindung, denn die Unterbringung von Kindern bei anderen Familienmitglieder war, bzw. ist, in anderen Teilen der Welt eine gängige moralisch nicht verwerfliche Praktik.

Quellen:

Zschunke, Peter. 2018. Noch in den 90ern verloren lesbische Mütter das Sorgerecht. Welt. https://www.welt.de/geschichte/article172342176/Sozialgeschichte-Noch-in-den-90ern-verloren-lesbische-Muetter-das-Sorgerecht.html, Zugriff 10.10.2019

Süess, Martina. 2018.  Im Schrank versteckt: Ein Roman über Kinder von Gastarbeiter.  Schweizer Migrationsgeschichte. https://www.srf.ch/kultur/literatur/schweizer-migrationsgeschichte-im-schrank-versteckt-ein-roman-ueber-die-kinder-von-gastarbeitern, Zugriff 10.10.2019

Hürlimann, Gisela. 2000. Versorgte Kinder. Kindswegnahme und Kindsversorgung 1912 -1947 am Beispiel des Kinderheims Marianum Menzingen. Lizentiatsarbeit. http://thata.ch/wordpress/wp-content/uploads/2013/07/gisela_huerlimann_2000_kinderheim_marianum_menzingen_lizentiatsarbeit.pdf#page=84&zoom=auto,-144,166, Zugriff 10.10.2019

Hafner, Urs. 2019. Opfer sein kann zum Beruf werden – paradoxerweise gerade für Menschen, die alles daransetzen, kein Opfer zu sein. https://www.nzz.ch/feuilleton/administrative-versorgung-aufarbeitung-zeitigt-nebeneffekte-ld.1492952, Zugriff 10.10.2019

Walter Meier, Thomas Leimgruber, Roger Sablonier. 1998. Das Hilfswerk Kinder der Landstrasse. Historische Studie aufgrund der Akten der Stiftung Pro Juventute im Schweizerischen Bundesarchiv (= Bundesarchiv Dossier 9). Bern.

Günay Özaylıist Bildungswissenschaftlerin, unterrichtet aktuell an der bildenden Akademie der Künste in Wien und beschäftigt sich mit den Themen: Rassismuskritik, Antidiskriminierung, Feminismus und Klassismus in Institutionen und darüber hinaus. In ihrer Freizeit versucht sie, das Spannungsfeld zwischen Lohnarbeit und nicht-heteronormativer Reproduktionsarbeitsaufteilung durch gezielte Faulheit auszugleichen.