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Die Sonderausgabe des Kunstmagazins Parabol von 2021 kooperierte mit kültüř gemma!. Von Wien aus fördert kültüř gemma! die migrantische Kulturproduktion mit Arbeitsstipendien und Fellowships1. Das Magazin im DIN A1 Format (aufgeklappt doppelt so groß) wiederum begreift sich als zweidimensionaler Ausstellungsraum zeitgenössischer Kunst und arbeitet folglich mit Kultureinrichtungen oder Kurator*innen zusammen. Als Kuratorin dieser Ausgabe lud Galia Baeva von kültüř gemma! Gürsoy Doğtaş ein. Beide blättern nach getaner Arbeit durchs Parabol und halten auf einigen Doppelseiten inne.
Für gewöhnlich sucht der Kurator Künstler*innen für eine Ausstellung zusammen. Die Parabol Ausgabe funktionierte in dieser Hinsicht anders. kültüř gemma! hat intern einen Aufruf gestartet, sich an dieser Ausgabe zu beteiligen. Insgesamt 18 Stipendiat*innen und Fellows sind diesem Ruf auch gefolgt und sie prägen nun maßgeblich die Parabol-Ausgabe. Die Aufgabe bestand nicht darin, aus deren Arbeiten auszuwählen, sondern ihnen eine Form anzubieten, in denen sie einem anonymen Publikum Einblicke in ihre Arbeitsweise sowie ästhetischen und sozio-politischen Auseinandersetzungen geben konnten. Als einen gemeinsamen gestalterischen Ausgangspunkt schlug Gürsoy den Ansatz von Aby Warburgs Bilderatlas vor 2. Vier der Positionen werden hier kurz eingeführt. Sie überschreiten – im Sinne des Bilderatlas – Fachgrenzen zwischen Kunst, Politik und Aktivismus und präsentieren ein neues Bildgedächtnis.
Über die Wandervögel
Den Auftakt macht die Doppelseite von Cana Bilir-Meier. Ihre filmischen, performativen und textbasierten Arbeiten bewegen sich an den Schnittstellen zwischen Archivarbeit, historischer Forschung und einer kritischen Reflexion zeitgenössischer Medien. Auf der Doppelseite präsentiert Cana ihr Buch “Migratory Birds”. Den Hauptteil des Buches machen die Lohnzettel von Gani Bilir aus. Er ist der Großvater der Künstlerin und einer von den vielen Arbeiter*innen (sogenannte Gastarbeiter*innen), die 1962 nach dem Anwerbeabkommen zwischen Bundesrepublik Deutschland und der Türkei nach Kiel migrierten, um dort in der Triebwerkfabrik “Maschinenbau Kiel (MaK)” zu arbeiten. Hunderte seiner Lohnscheine von Dezember 1976 bis Februar 1983 finden sich in Kisten bei ihrer Großmutter Vehbiye Bilir in Mersin und dazwischen zwei von ihm auf Folien gemalte Zugvögel. Cana kombiniert diese zwei Momente. In Parabol ist seine zweiseitige Gehaltsabrechnung von April 1980 abgedruckt. Über diese beiden Blätter lässt Cana einen Zugvogel fliegen, dessen Konturen in den Farben des Regenbogens irisieren. Momente der Benachteiligung und Ungerechtigkeit, wie sie sich im Lohnzettel dokumentieren, wie auch Momente der Arbeitskämpfe in denen sich die Einheimischen von den Migrant*innen entsolidarisieren, überlagern sich mit den Freiheiten eines Zugvogels. Erneut entwickelt Cana aus den Archiven ihrer eigenen Familie mit den Mitteln des „migrantisch situierten Wissens“ (Ayşe Güleç) 3 – also ein Wissen, dass aus einzelnen oder kollektiven Zusammenhängen generiert und aus einer marginalisierten Position heraus artikuliert wird – ein Geschichte, die sich dem Narrativ der Dominanzgesellschaft entgegenstellt.
Wien dekolonialisieren
Umbenennungen von rassistischen Straßennamen und Plätzen sind in Österreich und Deutschland eine Seltenheit. Die M*Straße in Berlin wurde beispielsweise erst vor wenigen Wochen nach dem ersten bekannten Philosophen afrikanischer Herkunft in Deutschland, Anton Wilhelm Amo, umbenannt. Amo lehrte im 18. Jahrhundert an den Universitäten Wittenberg, Halle und Jena. Für gewöhnlich treffen die Einwohner*innen der Städte wie München oder Nürnberg immer wieder auf Apotheken, die das M*Wort im Namen tragen oder auf das Logo eines Biers, dass auf visueller Ebene den Rassismus fortsetzt. Obwohl der rassistische Kern des Wortes dem Demokratieverständnis widerspricht, kann es sich dennoch erhalten, selbst in diesen beiden Städten, in denen u.a. der Nationalsozialistische Untergrund in den 00er Jahren Migranten ermordete.
Als Carla Bobadilla ihren Beitrag für Parabol einreichte, traf sie so einen Nerv. Sie setzte ihre dekolonialisierenden Auseinandersetzungen mit den Geschichten von Gassen in dieser Ausgabe fort. Diesmal ging es um die Große M*gasse und Kleine M*gasse im 2. Wiener Gemeindebezirk, in der Nähe des Praters. Der Doppelseite ist zu entnehmen, dass der Begriff des M*Wortes einen Wandel erfahren hat. Zunächst bezeichnete es in einer despektierlichen Absicht u.a. Muslime und dann in der Barockzeit wurde der Begriff auch für versklavte Schwarze im Dienste adeliger Höfe verwendet. So eine Historie ist gedanklich mit den Orten verstrickt. Carla Bobadilla arbeitet diese kartographischen Prägungen aus und führt auch die erfolgreichen Kämpfe der Umbenennung auf, wie beispielsweise, dass Mireille Ngosso (eine Mitorganisatorin der Black-Lives-Matter-Proteste in Wien) erreichen konnte, dass die M*-Apotheke ihren Namen änderte.
„Wie lange wirst du hier bleiben?“
Das Theaterstück „How long you stay here?“ von Danilo Jovanović, dem sich zwei Seiten des Magazins widmen, entführt das Publikum in die Realität von Migrant*innen, Gastarbeiter*innen, Putzfrauen, Drittstaatsstudierenden, undokumentierten Arbeiter*innen. Angelehnt an physical theater sehen wir eine Reihe von Szenen, deren Autor*innen die Schauspieler*innen selbst sind. Es sind ihre Geschichten, die gespielt werden. Erzählt wird von Einreiserestriktionen, von der Sprache als Machtinstrument, von Träumen und Begehren, von Enttäuschungen und Leben am Existenzminimum, von Lust und kollektiven Erinnerungen, von Akten der Speaks outs, von grotesken Bildern und alltäglichen Kampfakten und von viel neokolonialer Gewalt. Dann formieren sich Bilder auf der Bühne. Tableau vivants des alltäglichen Lebens, der öffentlichen Lebens – beim Warten auf die Straßenbahn, bei Zulassungsprüfungen, bei Freund*innen. Die Realität eben! Die Realität der Markierten, der mit den unaussprechlichen Namen, der mit Akzent Sprechenden, der Dankbarkeit Verdammten, der zu Sich-Einfügen-Müssen Verurteilten, der Geduldeten, der „Aber woher kommst du wirklich?!“ Gefragten. Wir lachen… Alle lachen… Denn es ist unangenehm, es ist kaum zu ertragen, es ist beschämend, es ist obszön, es erkenntlich. Und im Lachen schmerzt es und wird bitter. Aber wir lachen und im Lachen bleiben wir im Miteinander. Das alles kennen wir, das alles sahen wir, das alles hören wir, das alles ertragen wir, das alles widersprechen wir, das alles widersetzen wir uns. Tag für Tag. Und lachen darüber. Das Lachen ist Unser.
Skizzen von Choreographien
Die zwei Doppelseiten, die der Arbeit der Dance-Performerin Yusimi Moya Rodriguez gewidmet sind, versuchen die komplexe Position der Schwarzen Geschichte im Kontext Kuba zu übersetzen. Die kubanisch-stämmige und Schwarze Tänzerin und Choreografin forscht in ihrer Arbeit nach den Ursprüngen der westafrikanischen und spirituellen Kultur in Kuba und setzte diese im Verhältnis zur europäischen Ikonografie der Darstellung Schwarzer Menschen. So wirkt ihre systematische Suche nach Verschriftlichung als ein doppelter Übersetzungsversuch – einerseits der oralen Geschichte der Versklavten aus der Karibik in die Materialität des Tanzes und andererseits die Unübersetzbarkeit dieser Geschichten in die europäischen Ikonografie des Anderen, des Schwarzen. Die überzogenen Posen wirken als ironische Anmerkung über die europäischen Ignoranz und erinnern an fiktive Bilder der europäischen Kunstgeschichte über die sogenannten Anderen, die bis heute noch wirken.
Fußnoten
1. kültüř gemma! ist ein Projekt zur Förderung migrantischer* künstlerischer Arbeit und wurde 2012 ins Leben gerufen. Es werden jährlich vier freie Arbeitsstipendien und vier Fellowships an Wiener Kulturinstitutionen vergeben . Neben der finanziellen und ideellen Förderung einzelner Projekte versteht sich kültüř gemma! als kulturelle Vernetzungsplattform. Unser Ziel ist es, migrantische Positionen im mehrheitlich weißen*. Kulturbetrieb als Selbstverständlichkeit zu etablieren und der Pluralität der Stadt auch im kulturellen Leben gerecht zu werden.
2.Anfang des 20. Jahrhunderts konzipierte Warburg seinen legendären Mnemosyne-Bildatlas. Auf 63 Tafeln arbeitet er durch eine Aneinanderreihung von Bildern unterschiedlicher Provenienz das Nachleben der expressiven Energien aus der Antike in der europäischen Kultur seiner Gegenwart aus.
3.Ayşe Güleç im Gespräch mit Cana Bilir-Meier: Bewegungen zwischen Archiven – Dekolonisierung von Disziplinen. In: Camera Austria 141/2018, S. 33–44.