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Ein Gespräch mit Red Edition - Migrantische Sexarbeiter*innen Gruppe in Wien

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von migrazine
Interview mit Red Edition
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© Maja R
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Für diese Migrazine-Ausgabe fanden wir es passend, Red Edition zu kontaktieren, eine lokale Organisation von migrantischen Sexarbeiter*innen in Wien. Wir glauben, dass Sexarbeit ein Bereich ist, in dem Intimität impliziert ist, aber nicht unbedingt im Sinne von etwas, das gesucht wird. Wir kontaktierten Aaron*, Sexarbeiter*in und nicht-binäre Person, und seit 2019 Mitglied von Red Edition, um uns mehr über die Erfahrungen von Sexarbeiter*innen in diesem Kontext zu erzählen. Bei Red Edition können aktuelle oder ehemalige Sexarbeiter*innen Mitglied werden, und sie arbeiten auch mit Verbündeten zusammen, die politisch aktiv sein und die Rechte von Sexarbeiter*innen unterstützen wollen.

Migrazine: Könnt ihr die Arbeit von Red Edition und euer Hauptziel als Kollektiv beschreiben? 

Red Edition (Aaron*): Red Edition ist eine von Sexarbeiter*innen geführte Community-Organisation in Wien, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Arbeits- und Lebensbedingungen aller Sexarbeiter*innen durch Community-Mobilisierung, Kapazitätsaufbau und Lobbying zu verbessern, in Solidarität mit allen Arbeiter*innen und marginalisierten Communities. Da die Mehrheit der Sexarbeiter*innen in Wien Migrant*innen sind, liegt unser Schwerpunkt auf den Rechten von Sexarbeiter*innen mit Migrationshintergrund innerhalb der größeren Sexarbeiter*innen-Bewegung, und unsere Priorität ist es, Strukturen für die Selbstorganisation von Sexarbeiter*innen mit Migrationshintergrund zu schaffen. Daher wurde 2016 eine ständige Gruppe eingerichtet, die sich mit den Herausforderungen befasst und als Hauptansprechpartnerin zwischen migrantischen Sexarbeiter*innen und lokalen, nationalen und internationalen Akteur*innen sowie anderen relevanten Foren der Sexarbeiter*innen-Bewegung fungiert.

Migrazine: Kannst du uns etwas über die rechtliche Situation von migrantischen Sexarbeiter*innen in Österreich erzählen? Und wie hat sich ihre Situation seit Beginn der Pandemie verändert?

Aaron*: Sexarbeiter*innen in Österreich haben viele Pflichten (Anmeldung, Steuerpflicht, verpflichtende Gesundheitsuntersuchungen inklusive Abstrichalle sechs Wochen, SVS-Kranken- und Unfallversicherung, Arbeit nur an genehmigten Arbeitsplätzen), aber unverhältnismäßig wenig Rechte (abgesehen von den wenigen Leistungen der SVS). Die Liste der Nachteile für Sexarbeiter*innen in Österreich ist lang: Noch immer keine Arbeitsrechte, totales Verbot von Sexarbeit während Corona, große Abhängigkeit von den meisten Betreibern trotz Selbstständigkeit, Steuerpflicht, aber keine Arbeitnehmer*innenschutzbestimmungen.

Gleichzeitig ist Sexarbeit der Sektor, in dem Migrant*innen im Vergleich zu anderen Jobs in den allermeisten Fällen das meiste Geld verdienen können. Je nach Sektor der Sexindustrie bietet der Job auch Flexibilität, es gibt keine vertragliche Verpflichtung, eine Ausbildung ist in der Regel nicht erforderlich, es gibt die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, eine Fremdsprache zu üben, usw.

Wenn wir von Migrant*innen sprechen, meinen wir vor allem weibliche* Arbeitsmigration. Dies bezieht sich auf die massive Präsenz von Frauen* auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten außerhalb ihres Herkunftslandes.

Es spielt keine Rolle, von wo nach wo sie migrieren, und es spielt keine Rolle, ob sie als Reinigungskräfte, an der Kasse, als Haushalts- oder Pflegekräfte, als Fabrikarbeiterinnen, in der Gastronomie oder in der Sexindustrie arbeiten. Wir sprechen von einer Feminisierung der Armut: Migration zum Lebensunterhalt.

Sexarbeit ist oft eine Folge des Migrationsprozesses: wenige andere Arbeitsmöglichkeiten aufgrund mangelnder Bildung oder der Tatsache, dass die entsprechende Ausbildung nicht anerkannt wird, fehlender Aufenthaltsstatus und damit fehlende Arbeitserlaubnis, usw.

Die Rolle und Anzahl der Migrant*innen im prekären Sektor nimmt rapide zu. Bestehende Arbeitsverhältnisse sind überwiegend im Bereich der "Sex-Pflege-Arbeit" angesiedelt. Prekäre Dienstleistungsbereiche wie die Sexindustrie, der Pflege- oder Reinigungssektor, in denen Migrant*innen besonders stark vertreten sind, dürfen daher nicht isoliert betrachtet werden. Die Ausgrenzung aus dem System der Arbeitsrechte und der Gleichbehandlung und damit aus deren Schutz ist ihnen allen gemeinsam und hat sich während der Pandemie noch verschärft.

Ein gutes Beispiel für die Diskriminierung von Migrant*innen ist, dass die WKO-Förderung für Selbstständige fast ein Jahr lang nicht auf ausländische Konten ausbezahlt wurde... Ein anderes Beispiel ist, dass eine Sexarbeiterin ohne gesicherten Aufenthaltsstatus keine Anzeige bei der Polizei aufgeben kann, wenn sie Gewalt erlebt. Damit erfährt sie eine andere Form der Ausgrenzung als ihre Kollegin mit sicherem Aufenthaltsstatus oder österreichischem Pass. Aus unserer Sicht sind Ausbeutung und Gewalt nicht per se mit der Sexarbeit verbunden, sondern werden durch strukturelle, rechtliche und staatliche Rahmenbedingungen begünstigt. Die fehlenden Rechte für Migrant*innen und (migrantische) Sexarbeiter*innen fördern jedoch Ausbeutung, Abhängigkeiten und Gewalt. Notwendig ist daher eine Entkriminalisierung, Enttabuisierung und Entstigmatisierung auf rechtlicher und gesellschaftlicher sowie auf diskursiver Ebene.

(Dank an Pauli und Leticia Carneiro von maiz, die mich mit Informationen besorgt haben!)

Migrazine: Die Nutzung von OnlyFans ist in den letzten Jahren immer sichtbarer geworden... Vor allem seit dem Beginn der Covid-19-Pandemie wurde es zu einer Möglichkeit für Arbeitslose, Geld zu verdienen. Nicht nur Menschen, die bereits als Sexarbeiter*innen tätig waren, sondern auch Künstler*innen und Prominente begannen, diese Plattform zu nutzen. Was sind deine Gedanken zu den Vor- und Nachteilen der Nutzung einer solchen Plattform? Und wofür setzt ihr euch ein, wenn es um die Unabhängigkeit von Sexarbeiter*innen geht?

Aaron*: Ich selbst nutze OnlyFans nicht, weil ich ohnehin schon zu viel Zeit mit meinem Handy verbringe und von anderen Sexarbeiter*innen weiß, dass es sehr zeitaufwändig ist, OnlyFans (OF) zum Laufen zu bringen, und man sich viel Mühe geben muss. Aber natürlich haben viele Sexarbeiter*innen beschlossen, auf Online-Dienste umzusteigen, um während der Pandemie wenigstens etwas Geld zu verdienen, ebenso wie andere Menschen, die nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten konnten.

Das Gute an OF ist, dass es den Urheber*innen von Inhalten größtenteils erlaubt, selbst zu entscheiden, welcher Art Inhalte sie zeigen oder verkaufen wollen. Sie sind also unabhängig. Im Vergleich zu anderen Anbietern, wie z.B. Cam-Seiten, die bis zu 70% der Einnahmen abziehen, nimmt OF nur 20% der Einnahmen. Das ist natürlich ein Vorteil. In den letzten Jahren sind andere ähnliche Seiten aufgetaucht, die noch weniger nehmen, aber im Moment sind sie nicht so beliebt wie OF. Deshalb haben viele Sexarbeiter*innen beschlossen, ihr Profil bei OF beizubehalten, auch nach den jüngsten Ereignissen, als OF mitteilte, dass sie alle “Inhalte für Erwachsene” aufgrund von Einschränkungen bei der Zahlungsabwicklung mit Mastercard entfernen werden. Dies führte zu einem großen Online-Aufruf und OF zog sich zurück und erklärte, dass sie dies vorerst nicht weiter verfolgen werden. In Bezug auf die Frage, ob die Plattform wirklich darauf abzielt, Sexarbeiter*innen zu unterstützen, gibt es viele Punkte, die zu beachten sind. Zum Beispiel ihre Entscheidung, die Anzahl der Tipps und den Preis pro Beitrag zu begrenzen, und die Tatsache, dass man nur alle 30 Tage eine Auszahlung erhalten kann, nachdem die Schauspielerin Bella Thorne die Plattform genutzt und an einem Tag eine Million Dollar verdient hat, was super beschissen ist...

Ein Traum wäre eine Plattform, die von Sexarbeiter*innen selbst betrieben wird und einen Marktplatz für andere Sexarbeiter*innen bietet, um ihre Inhalte unzensiert und zu fairen Bedingungen zu verkaufen.

Migrazine: Wir haben gesehen, dass ihr an mehreren Kunstperformances und Festivals teilgenommen habt. Was findest du gut an diesem künstlerischen Aspekt deiner Arbeit und wie waren die bisherigen Erfahrungen?

Aaron*: Die bisherigen Erfahrungen reichen von selbst organisierten künstlerisch-aktivistischen Projekten, zum Beispiel bei Paraden oder Demonstrationen, bis hin zu größeren Kooperationen. 2019 haben wir eine performative Intervention auf der Mariahilfer Straße im Rahmen der Wienwoche gemacht, was sehr schön war und viel Sichtbarkeit geschaffen hat. Während Corona war es für uns etwas schwieriger zu organisieren, aber dieses Jahr haben wir unser bisher größtes Event auf die Beine gestellt. Red Rules Vienna war eine Zusammenarbeit zwischen Sexarbeiter*innen, Sexarbeit-AktivistInnen, Verbündeten und Künstler*nnen aus Wien, mit dem Ziel nicht nur eine internationale, dreitägige Sexarbeiter*innen-Konferenz mit vielen verschiedenen Inputs und Workshops zu organisieren, sondern auch eine Performance zu entwickeln, die an vier Abenden gezeigt wurde. Jeder Abend war ausverkauft und so war es ein großer Erfolg für uns, so viele Menschen zu erreichen und sie für die Themen zu sensibilisieren, mit denen sich Sexarbeiter*nnen regelmäßig auseinandersetzen müssen. Performance ist ein großartiges Medium, um einerseits zu unterhalten, gleichzeitig aber auch aufzuklären oder den Horizont für sozialkritisches Denken zu öffnen. 

Alles in allem war es eine erstaunliche Erfahrung. Durch künstlerischen Aktivismus ist es uns möglich, mit mehr Menschen in Kontakt zu treten, die vielleicht nicht daran interessiert wären, die Rechte von Sexarbeiter*innen zu unterstützen,aber nur weil sie mit dem Thema nicht vertraut sind. Man könnte also sagen, dass es für uns ein wichtiges Instrument der Öffentlichkeitsarbeit ist, und natürlich macht es auch Spaß. Da viele von uns auch auf die eine oder andere Weise Erfahrung als Künstler*innen haben, ist es gut, unser Fachwissen einzubringen.

Es ist immer unser Ziel, Kunst auf unterschiedliche Weise zu praktizieren, um unsere politische Botschaft zu verbreiten. Auf diese Weise brechen wir die Tabus für und um Sexarbeiter*innen und machen die Gesellschaft auf unsere Bedürfnisse und Probleme aufmerksam. Diese Art von Veranstaltungen stärkt auch die Gemeinschaft der Sexarbeiter*innen selbst, was für die Nachhaltigkeit unserer Bewegung entscheidend ist!

Interview per E-Mail von Lia Kastiyo-Spinósa

Übersetzung: Sam Osborn

migrazineist ein online mehrsprachiges Magazin und kritisch-alternatives Medium, das sich mit der Migration verbundenen Phänomenen sowie mit gesellschaftspolitischen Themen beschäftigt.
Red Editionist eine von Sexarbeiter*innen geführte Community-Organisation in Wien, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Arbeits- und Lebensbedingungen aller Sexarbeiter*innen durch Community-Mobilisierung, Kapazitätsaufbau und Lobbying zu verbessern, in Solidarität mit allen Arbeiter*innen und marginalisierten Communities.