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Die Notwendigkeit migrantischer Selbstorganisation

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von İpek Yüksek
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© Dirk müllner
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© Elem Güzel
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Patika entstand im Sommer 2020. Wir sind als eine Gruppe von Menschen zusammengekommen, die in und um Graz leben und Bezug zur Türkei haben. Manche sind schon sehr lange hier in Österreich, andere erst seit Kurzem. Manche haben gut bezahlte Jobs, andere sind Asylsuchende, Studierende oder prekär beschäftigt. 

Obwohl oder gerade weil es eine sehr schwierige Zeit war, der Pandemie, der Lockdowns, sind wir nicht nur zusammengeblieben, sondern auch gewachsen. Die Schwierigkeit, über einen langen Zeitraum hinweg Veranstaltungen und Zusammenkünfte zu organisieren hat vielen Vereinen stark zugesetzt. Besonders migrantischen Vereinen. Wir haben Filmvorführungen, Diskussionen, einen Deutschstammtisch, Lese- und Diskussionskreise und viele Zusammenkünfte organisiert, an Demos teilgenommen und Texte geschrieben. Manches davon auch online. Am Wichtigsten aber ist, wir arbeiten kollektiv und versuchen, Solidarität im Alltag zu leben. Wir haben gemerkt, dass es besonders in diesen schwierigen Zeiten für ohnehin schon gesellschaftlich marginalisierte Menschen ein großes Bedürfnis nach Kollektivität und gesicherten Räumen gibt. Und genau bei diesem Bedürfnis setzen wir an. 

Selbstorganisation

Wir nennen uns „migrantische Selbstorganisation“ weil wir der Ansicht sind, dass es ein Bedürfnis von uns als Migrant:innen gibt, uns eigenständig zu organisieren und unser Alltagsleben eigenständig zu gestalten. Viele von uns sind auch in anderen Vereinen oder gesellschaftlichen Zusammenhängen aktiv. Aber wir haben auch als Migrant:innen eigene Probleme und Anliegen, die wir selbst in die Hand nehmen wollen. 

Es gibt viele Initiativen zu Themen wie Migration, Integration, Multikulturalität und dergleichen mehr. Aber nur wenige dieser Initiativen setzen wirklich konsequent auf Selbstorganisation und institutionelle Unabhängigkeit. Es stimmt, dass Migrant:innen genauso wie viele Menschen ohne Migrationsgeschichte in bestimmten Situationen einfach Hilfe benötigen. Solches Hilfsorganisationen und -vereine sind löblich. Wir wollen sie nicht ersetzen. Unser Ziel ist aber, Migrant:innen als Subjekte zu stärken und in einem von Staat und Kapital unabhängigen Rahmen sich selbst zu organisieren. Wir glauben, dass es mehr solcher Initiativen in Österreich benötigt. 

Gleichberechtigtes und freies Zusammenleben

Das dominante Paradigma des staatlich gesetzten Rahmens ist das der Integration. Und zwar ein Verständnis von Integration, das eher einer Assimilation gleichkommt. Es wird vor allem die „Bringschuld“ der Migrant:innen betont und Integration als einseitige Anpassung verstanden. Gleichzeitig sehen wir aber, dass die Möglichkeiten an gesellschaftlicher Teilhabe für Migrant:innen oft sehr beschränkt sind. Migrant:innen werden aus vielen öffentlichen Räumen und aus staatlichen und öffentlichen Institutionen ausgegrenzt. Sie werden in bestimmte, ghettoisierte Räume gedrängt und auf einige wenige Funktionen reduziert. So wird „Integration“ dann de facto zur Segregation.

Wir setzen dem ein „gleichberechtigtes und freies Zusammenleben“ entgegen. Genauso wie Frauen oder die LGBTQI+ Community haben wir als Migrant:innen eigene Probleme über die wir eigenständig und in Sprachen, in denen wir uns gut ausdrücken können, sprechen und diskutieren. Probleme, die mit unserem rechtlichen Status zu tun haben, oder mit unserem Aussehen, unseren Namen oder unserer Sprache. Wir wissen ganz genau, dass es meist schwieriger ist eine Wohnung oder einen Job zu finden, wenn man ein bestimmtes Aussehen und einen bestimmten Namen hat. Wir wissen, dass es schwierig ist für uns, die vorgegebenen Räume zu verlassen und ein eigenständiges Leben zu führen. Diese Probleme in eigenständigen Räumen anzusprechen, widerspricht der Idee des Zusammenlebens nicht.

Wir glauben auch nicht daran, dass es eine essentialisierte Kultur eines Landes gibt. Gesellschaft ist dynamisch, in Bewegung, von verschiedenen und komplexen Interessen durchzogen. Genauso wie viele von uns in der Türkei politisch oppositionell waren, gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung gekämpft haben und vielleicht gerade deswegen migrieren mussten, so gibt es auch in Österreich viel zu verbessern und wir wollen uns gemeinsamen mit Menschen aus Österreich und anderen Ländern dafür einsetzen, die Gesellschaft besser zu machen. Wir glauben, dass das gleichberechtigte und freie Zusammenleben nur in gemeinsamen und individuellen Kämpfen hergestellt werden kann. So kann auch die sterile Gegenüberstellung von Österreicher:innen und Migrant:innen sowie ein mechanisches Verständnis von Integration aufgehoben werden. 

Und das entspräche auch eher der Realität. Seit Jahrzehnten leben und arbeiten Menschen aus vielen verschiedenen Ländern in Österreich. Gerade die prekärsten Jobs werden oft von Migrant:innen gemacht. Trotzdem haben viele dieser Menschen immer noch keine oder kaum politische Teilhabe. 

Vieles deutet daraufhin, dass internationale Migrationsbewegungen zunehmen 1. Das liegt in erster Linie daran, wie das globale kapitalistische System funktioniert. Wenn heute in Österreich und vielen europäischen Ländern darüber geredet wird, mehr Pflegekräfte aus den Philippinen oder Rumänien zu holen, dann liegt das an kapitalistischen Profitinteressen. Das ist aber natürlich nicht die Schuld der Menschen, die ihre Heimat und ihre Familie zurücklassen, um unter schwierigen Bedingungen ein besseres Leben für sich erarbeiten, dass ihnen in den Ländern, in denen sie leben verwehrt wird, genau wegen des kapitalistischen Systems. 

Es ist nur verständlich, dass diese Menschen, die Migrant:innen der globalen Arbeit und diejenigen, die vor Kriegen und Naturzerstörung , die sie nicht hervorgerufen haben, flüchten, eine Stimme haben wollen. Sie haben ein Leben jenseits ihrer Arbeit. Sie sind nicht nur Arbeitskräfte, sie sind Menschen. Es ist gar nicht so leicht in einem fremden Land seine Stimme zu finden. Migrantische Selbstorganisation zielt genau darauf ab. 

Wir als Patika wollen dazu unseren kleinen Beitrag leisten. Wir sind in erster Linie Menschen mit Bezug zur Türkei, aber alle sind herzlich willkommen. Wir wollen auf Grundlage von Solidarität und Kollektivität unsere Stimmen finden und ihnen Gehör verschaffen. Nicht gegen Österreicher:innen, sondern für eine bessere, menschlichere Gesellschaft für alle. 

Fußnoten

1. https://news.un.org/en/story/2019/09/1046562

İpek Yüksekist 23 Jahre alt und ist Studentin, Aktivistin und Journalistin.