crossover

Die Fabrik

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von Boban Ristić
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©Coline Robin @colinegraphic
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Sanja

„Wie in scheiß Schule, ojda”, denkt Sanja genervt, als sie quer über das Gelände hetzt und mit jedem Schritt ihr Tempo ein wenig erhöht. Und es ist tatsächlich wie in ihrer alten Fachmittelschule: Wenn eine Schüler:in zu spät gekommen ist, musste die gesamte Klasse in dem vergitterten Raum, in welchem die Spinde untergebracht waren, warten. Erst wenn alle anwesend und durchgezählt waren, wurde die Tür zum Schulgebäude entriegelt. Zu spät kommen wurde somit zur richtigen Affäre. Ähnlich verhält es sich in der Altwiener Schokoladenfabrik. Wenn eine Arbeiter:in zu spät kommt, wird die gesamte Kette aufgehalten. Sanja ist sich sicher, sie wird sich daran gewöhnen. An den alten Süleyman, den Torwächter, hat sie sich bereits gewöhnt. Als er sie sieht, tippt er erst mal vorwurfsvoll auf seine Armbanduhr, bevor er sie mit leuchtenden Augen und einem „Frau Sanja!“ und „Guten Morgen, meine Liebe“ begrüßt. Sie grüßt eilig zurück, holt ihr Handy heraus, blickt aufs Display und fängt an zu rennen. „7:14..“ Sie wiederholt ungläubig die Uhrzeit, denn sie nahm an, sie wäre schon zu spät. „Ich schaff´ das, … wenn da keine …“, als sie um die letzte Ecke einbiegt, sieht sie, dass die höhergestellten Arbeiterinnen, die erst um 7:30 zum Dienstbeginn antreten, schon beim Drehkreuz, das als Barriere zum Eingang der Fabrik dient, Schlange stehen. Sanja macht sich ganz klein und stellt sich dazu. „Ahhh, fuck, jetzt sehen dich diese Bitches in ihren Anzughosen, wie du verschlafen zu spät kommst … Scheiß Željko, Mann, Scheißleben“, ihre Gedanken springen hin und her, während sie wartet. Ihr Ex-Freund Željko, den sie bei der Arbeit in der Gastro kennengelernt hatte, fing während ihrer Schwangerschaft an zu koksen und drehte schnell durch. Schneller als die meisten das tun. Sie verließ ihn und ihre gemeinsam bezogene Wohnung und zog nach der Geburt von Mimi zu ihrer Mutter.

Sanja arbeitet in der Verpackungsabteilung. Ihre Arbeit besteht aus den immer gleichen Bewegungen, die, wie sie befürchtet, sie auf Dauer todunglücklich werden lassen. Das angefangene Kulturjournalismus-Studium liegt seit Jahren auf Eis, das Leben finanziert sich schließlich ja nicht von selbst. Na ja, bei ihren Ex-Mitstudierenden teilweise schon. Dafür sorgen deren Familien. Sanja hatte niemanden. Sanja will heute niemanden. Sie braucht vielleicht bald niemanden, der ihr irgendwas schenkt. 

Um das Studium zu finanzieren, erschien Sexarbeit verlockend. Ihre damalige Mitbewohnerin Lisa war enthusiastisch dabei und überzeugte sie, der Branche eine Chance zu geben. Online chatten, vor der Kamera posen. Alles kein Ding für Sanja. Doch ihre Ausbeute war gering und das Ausgebeutetwerden auf den diversen Online-Plattformen immer dreister. Den Rest hat ihr ein Unternehmen gegeben, das sie fast dazu brachte, sich mit den Usern zu treffen. Ganz perfide, indem sie sie für freizügigere Akte vor der Cam mit immer mehr Coins belohnten. Und es waren gute Summen. Summen, mit welchen man mit zwei, vielleicht drei Arbeitstagen seine Miete reinbekommt. Aber der Haken war, dass Sanja, je mehr sie verdiente, weiter die Levels hochstieg, bis zu dem Punkt, an dem sie, um weiterhin verdienen zu können, einen User im Real-life treffen musste. Kurz danach hat sie wieder angefangen zu kellnern und hat Željko kennengelernt. 

Heute überlegt sie, wieder ihren Ass zu verkaufen. Aber diesmal im echten Leben. Jedoch gut durchgedacht, mit einer Strategie. Doch noch geht es nicht: „… Mama würde gleich checken, was du da machst … und wenn sie dich raushaut, müsstest du wieder zurück in die alte Wohnung … voller Erinnerung an scheiß Željko… Na, Mann, zahl’ deine Mietschulden, mach Wohnungstausch mit Mama und dann kannst du machen, was du willst!“ Um die während ihrer Schwangerschaft und dem ganzen Drama um Željko, angehäuften Mietschulden der verlassenen Gemeindewohnung bei der Stadt Wien zu begleichen, muss sie der Wiener Traditionsschokoladenfabrik eine Chance geben. Das AMS sagt: Entweder das oder wieder zurück zur scheiß Gastro. Keine Bewerbungskurse mehr für dich. Wo du eh nur krank bist, angeblich. Sanja sagt: „Ja, tut mir irgendwie nicht leid, dass ich an den besagten Kurstagen oft meine Periode hatte.“ Sanja denkt: Scheiße, Mann. Ich war überall: Yugo-Cafés, türkische, sogar linke. Alle haben mich beschissen behandelt. Aber die Linken waren die Schlimmsten, irgendwie … 

Ihre Erfahrungen in der Welt der Gastronomie waren bisher bescheiden. In einem der szene-linken Cafés der Stadt begann sie nur zu arbeiten, weil sie keinen Bock mehr auf die aufgeblasenen Macho Yugos hatte. Dieses selbstorganisierte Establishment zahlte Sanja Mindestlohn, wobei das Trinkgeld in die Vereinskasse floss. Dieses Geld wurde für die Weiterbildung der Vereinsmitglieder aufgewendet. Welche trotz kritischer Männlichkeitskurse Sanja im Suff angeschrien und wie Scheiße behandelt haben. Sie startete einen Betriebsrat mit anderen migrantischen Kellnerinnen und wurde einige Wochen später unter dem Vorwand, sie würde beim Trinkgeld schwindeln, einfach entlassen. „Macho-Yugos oder pseudo-politische Švabo-Macker: gleicher Dreck.“ Denkt sie, als sie ihren Ausweis um 07:17 stempelt. Sie eilt zur Umkleide, zieht sich um und ignoriert, dass sie heute am Morgen noch gar nicht auf der Toilette war. Jetzt steht sie also da. In der „Kette“. Ganz in Weiß, nur das haarnetzartige Teil auf ihrem Kopf leuchtet grün. Und sie muss dringend pinkeln. Außerdem muss Sanja die vor ihr liegenden Bonbons nach Farbe sortieren und sie so, wie für die Verpackung vorgesehen, ausrichten.

Ohne dass es jemand bemerkt, schleicht sie sich davon Richtung Toilette in den Umkleideraum. Gerade als sie zu pinkeln beginnt, bumpert es an der Tür: „He, sag amoi! Los an die Oabeit! Du bist schon zu spät, keine WC machen jetzt!“ kreischt Frau Teufel, ihre Vorarbeiterin, durch die Tür. Ja, ja, genauso nennt man die Dame. Sanja pinkelt zu Ende und ignoriert den Rassismus und die Arbeitsethik der Nachkriegsgeneration. Am Arbeitsplatz zurück, nimmt sie immer fünf Bonbons mit einer bestimmten Handbewegung auf, platziert sie mit einer anderen, auch ganz bestimmten Bewegung in die Box. Grün, Blau, Rot, Gelb und Orange. Immer in dieser Reihenfolge. So geht es schon seit einigen Wochen. Heute versucht sie ausnahmsweise nur vier Bonbons zu greifen. Doch wieder hat sie fünf in der Hand. „Wenn nicht Fett, dann ein Roboter – oder ich werde einfach beides“, schlussfolgert Sanja, während sie in einem Moment der Dissoziation ihre höhergestellte Kollegin beobachtet. „Wos schauen du? Arbeit! Nix schauen, bled!“ brüllt Frau Teufel böse in ihre Richtung blickend. „Frau Teufel, mein Gott, wo haben Sie denn Deutsch gelernt? Ich versteh’ kein Wort von Ihrem Gelaber!” ist das Letzte, was sie zum Sheytan sagt. Am nächsten Morgen kommt sie wieder zu spät und wird von Herrn Gruber, dem Abteilungsleiter, ins Büro gerufen. 

Auf dem Weg dorthin schütteln manche Kolleg:innen ihr die Hand und verabschieden sich in böser Vorahnung, andere schauen sie nur erschrocken an, wieder andere ignorieren sie vollkommen. Oben angekommen erhält sie die Information, sie werde zur Etikettierungsmaschine versetzt. Ihre Arbeit besteht ab jetzt nur noch darin, stundenlang die Maschine beim Etikettieren zu beobachten und falls ein Fehler passiert, auf einen Knopf zu drücken, der einen „Reset“ verursacht. Sanja drückt zwei Tage später auf den Knopf, packt ihre Sachen und sagt „Hurenkinder!“ Am Ende wird es doch wieder Gastro. Oder diesmal vielleicht so Domina-Shit? Mal sehen, mal sehen!

Boban Ristićgeboren in Serbien, floh 2000 nach Deutschland und wurde 2002 abgeschoben. Seit 2003 lebt er in Wien und inspiriert von 2000er-Hip-Hop begann er Rap-Texte zu schreiben. Geprägt von Fluchterfahrung und antirassistischem Engagement, absolvierte er 2022 die Biber-Journalistenakademie. Im Jahr 2023 erhielt er das Literatur-Startstipendium und arbeitet an seinem ersten Buchprojekt. Ab Oktober 24´ beginnt er mit dem Studium der Sprachkunst an der Angewandten in Wien.