Der lange Winter der Migration. Erzählungen, Comedy, Essays
Zehn Jahre ist es her, dass Selbstbestimmung und politischer Kampf, Durchhaltevermögen und kollektive Energie zum »Sommer der Migration« geführt haben, der Europa nachhaltig veränderte. Aus diesem Anlass haben fünf Schriftsteller:innen, die um 2015 aus Syrien, Afghanistan und Iran in den deutschsprachigen Literaturraum gekommen sind, Erzählungen und Essays verfasst. In der Anthologie sind alle Texte in allen drei Sprachen (Arabisch, Farsi, Deutsch) zu lesen. Das Buch ist dem 2022 mit nur 32 Jahren verstorbenen Schriftsteller Jad Turjman, gewidmet, dessen Comedy-Programm „Der Flüchtling Ihres Vertrauens“ darin nun erstmals verschriftlicht ist. Mit Texten von Rasha Abbas, Hamed Abboud, Pooyan Moghaddassi, Widad Nabi, Asiyeh Panahi und Jad Turjman, einem Vorwort von Marion Wisinger (PEN Austria) und einem Nachwort der Herausgeberinnen.
Das Erbe, das ich verteilte, bevor ich starb von Hamed Abboud (Aus dem Arabischen von Larissa Bender)
[...] Mein Anteil hingegen bestand aus jenen vier Tagebüchern, die jemand an sich genommen und außer Landes gebracht hatte, eine Aufgabe, die, im Gegensatz zum Transport der anderen Dinge, einfach gewesen war. Dadurch wogen die Gründe, die mich zur Rückkehr ins Land hätten bewegen können, weniger schwer. Diese vier Hefte begleiten mich nun von einem Zimmer zum nächsten, auch wenn ihr Inhalt so banal ist, dass ihn niemand hören mag. Aber es ist ein kleiner Teil dessen, was mir von dort geblieben ist. Was hingegen mit dem Haarband meiner Freundin passiert ist, die die Hoffnung auf meine Rückkehr genauso aufgegeben hat wie ihre Gefühle für mich abgeflaut sind, weiß ich nicht. Aber genau wie mit dem Haarband, das meinem Blick entschwunden ist, ist es mit meinem Vater: Ich weiß, dass ich ihn nicht wiedersehen werde. Ich habe mich damit abgefunden, dass auch er ein Teil des Erbes geworden ist, das ich zurückgelassen habe, und dass die Erde des Landes sich seiner annehmen wird.
Stationen des Exilzuges von Widad Nabi (Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch)
Wege der Migration und des Exils
Der Sommer der Migration ist für diese Kinder in Wirklichkeit ein langer Winter. Obwohl die meisten Lebewesen auf dieser Erde migrieren – Wale, Fische, Vögel, Schwalben und Rotkehlchen, Schmetterlinge, Meeresschildkröten und viele andere – und die Gefahren und Schwierigkeiten der Wanderung auf sich nehmen, warten sie nach ihrer erfolgreichen Ankunft auf das Ende des Winters und kehren im Sommer in ihre ursprüngliche Heimat zurück. Sie kennen die Wege zurück nach Hause, aber was ist mit diesen Kindern?
Nur uns Menschen ist der Rückweg versperrt, wenn wir migrieren. Wir werden so tief verletzt, dass es schmerzha er ist zurückzukehren als im Exil zu bleiben. Die Rückkehr nach Hause ist für uns hart und kostspielig. Und doch wird sie heute von rechten und sogar von linken Parteien in Europa regelmäßig als Drohung und Warnung in den Nachrichten und im Fernsehen propagiert: Ihr werdet in eure Heimatländer zurückkehren, auch wenn ihr euer Leben riskiert habt, um aus ihnen zu fliehen!
Europa und insbesondere Deutschland führt eine endlose Debatte über Flucht und Migration und darüber, wie man sie verhindern kann. In den Nachrichten und im Parlament gibt es unaufhörlich Stimmen, die fordern, die Migration zu stoppen. Doch die gäbe es gar nicht erst, wenn sich der Westen nicht in die meisten Konflikte und Kriege einmischen würde. »Wir im Westen wollen die Reichtümer dieser Länder, wir wollen die Diktaturen dort unterstützen, wir schicken Waffen und entfachen Kriege, aber im Gegenzug wollen wir, dass die Menschen dort mit ihren Kindern unter den Trümmern ihrer Häuser sterben. Wir wollen, dass die Parks dort ohne Kinder bleiben, wir wollen in unseren Ländern keine Menschen mit anderen Hautfarben und unterschiedlichen Akzenten! Also ist es in Ordnung, die Kriege dort zu unterstützen, solange sie weit genug weg von uns sind. Das Leben eines weißen Menschen ist immer noch wertvoller als das der anderen.«
Das Geheimnis der Spatzen von Asiyeh Panahi (Aus dem Persischen von der Autorin)
[Auszug Deutsch:]
Es ist an der Zeit, meine Brust aufzubrechen und die harten Felsen, die sich in mir festgesetzt haben, Stück für Stück mit einer kleinen Hacke herauszuschlagen. Ich bin so schwer geworden, dass ich mich kaum vom Stuhl am Esstisch erheben und zum Bett schleppen kann, um die Jalousien herunterzuziehen und meinen Kopf, der wie ein Berg mit einer unter Wasser versunkenen Spitze ist, auf ein kühles Kissen zu legen.
Ich bin ein Berg, der in die Tiefe des Meeres gestürzt ist. Kein Fluss fließt mehr durch mich, keine Lebendigkeit durchzieht die steinernen Adern meines Körpers. Ich bin eine Landschaft aus schwerem Gestein, die vollständig unter den Wellen verschwunden ist – sogar mein Kopf. Ja, mein Kopf, betont sage ich: Sogar mein Kopf ist unter Wasser. Spürst du nicht das Gefühl des Erstickens? Aber ich bin kein Fisch, ich bin ein Mensch.
Stell dir einen Menschen vor, dessen Körper aus Felsen besteht und dessen Kopf unter Wasser begraben ist.
[Auszug Farsi:]
Sie hat keinen Ausweg, keine Rettung. Entweder sie stirbt oder ein Sauerstofftank bewahrt sie vor dem Untergang. Aber nein, sie ist längst tot. Sie starb in dem Moment, als ihre Finger in den Wäldern Mazedoniens erfroren und sie nicht mehr durch die Weinberge laufen konnte. Ihre Seele starb damals, als die Nachrichten berichteten, dass Flüchtlinge in Thessaloniki von einem Zug erfasst und getötet wurden. Sie starb, als eine Frau erzählte, wie ein junges Paar ihr sieben Monate altes Baby nicht retten konnte und es unter den Zugrädern sein Leben verlor. Sie dachte an das Knirschen der zerbrechenden Knochen, an die zermalmten Gesichter, an den Tod, der so brutal an den Grenzen Europas zuschlägt.
Ich, Anne-Marie, Hannes und die anderen von Pooyan Moghaddassi (Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich)
»Sag mal, Thomas!«
Thomas, hochaufgeschossen, der Kopf kahl rasiert, sagte mit zittriger Stimme, die seinen Akzent verstärkte, mehrere Sätze. Ich verstand kein Wort. Die Wiener drehen die harten deutschen Wörter im Mund herum als würden sie sie zerreiben, und was dabei rauskommt, klingt wie ein Brei, der keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem hat, was eigentlich gemeint war. Dani hat ihn trotzdem gut verstanden. Und hat ihm applaudiert. Auch die anderen spendeten ihm Beifall. Und ich klatschte ebenfalls. Woraufhin sich auf Thomas’ trockenen Lippen ein Lächeln breitmachte und seine hellgrünen Augen leuchteten. Nach dieser Ermunterung schaute Dani, mit ihrem unermüdlichen Lächeln, wieder suchend in die Runde. Mir klopfte das Herz bis zum Hals, ich mied ihren Blick, versuchte, ihm verstohlen zu folgen, weil ich keinesfalls als nächster dran sein wollte. Die Antwort auf ihre Frage war einfach. Kinderleicht. Gelbe Narzisse. Aber ich wusste nicht, was nargess-e zard auf Deutsch heißt.
[o.T.] von Jad Turjman
[Über das Video: Jad Turjman, aus einem unveröffentlichten Sketch für einen geplanten, aber nicht mehr realisierten Comedy-Auftritt am 22. August 2022. Zur Verfügung gestellt von AR Management / Carmen Außerhuber. Übersetzung ins Arabische: Hamed Abboud. Arabische Version gelesen von Widad Nabi, deutsche Version gelesen von Lisa Bolyos, am 16.6.2025 im ZIMT, Braunau am Inn, im Rahmen des Festivals der Regionen. Foto: Otto Saxinger. Aufnahme und Bearbeitung: Natalie Deewan.]
Ich bin ja Österreicher geworden. Ich habe die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen. Ich bin mir meistens nicht sicher, ob man mir gratulieren oder Beileid wünschen soll. Denn ich trage jetzt eine größere nationale, kollektive Schuld mit. Ich bin jetzt rein statistisch gesehen für mehr CO2-Ausstoß verantwortlich als ich es als Syrer war. Österreich stößt bekanntlich viel mehr CO2 aus als Syrien. Aber um ehrlich zu sein, das passt mir so. Ich nehme es in Kauf. Ich brauche die österreichische Staatsbürgerschaft. Mir ist es lieber, mehr CO2 auszustoßen, als abgeschoben zu werden. Ich halte übrigens das Konzept, geflüchtete Menschen abzuschieben, für eine groteske Ironie. Es beweist, dass Österreicher und Deutsche echt Humor haben. Denn ein geflüchteter Mensch geht vier Monate zu Fuß um hierherzukommen und wird dann mit einem zweistündigen Flug zum Startpunkt zurückgebracht. Österreich hat sich damit historisch und international in puncto Humor einen Namen gemacht. Und gleichzeitig hat Österreich einen tieferen Punkt der Menschenverachtung erreicht.
Der lange Winter der Migration. Erzählungen, Comedy, Essays
Herausgegeben von Lisa Bolyos und Natalie Deewan
mit Texten von Rasha Abbas, Hamed Abboud, Pooyan Moghaddassi, Widad Nabi, Asiyeh Panahi und Jad Turjman
Übersetzt von: Larissa Bender (Arabisch > Deutsch), Sandra Hetzl (Arabisch > Deutsch), Kerstin Wilsch (Arabisch > Deutsch), Hamed Abboud (Deutsch > Arabisch), Ahmed Ali (Deutsch > Arabisch), Jutta Himmelreich (Farsi > Deutsch), Asiyeh Panahi (Deutsch < > Farsi), Gorji Marzban (Deutsch > Farsi) und Ghassan Hamdan (Arabisch < > Farsi)
edition pen, Korrektur Verlag, Mattighofen/Wien 2025.
ISBN 978-3-9505470-9-2