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von Leyli Nouri
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„Aber wir sind Emigranten, und für Emigranten sind alle Länder gefährlich, viele Minister halten Reden gegen uns und niemand will uns haben, dabei tun wir gar nichts Böses und sind genau wie alle anderen Menschen.“ 1

Das obere Zitat stammt aus Irmgard Keuns 1938 erschienenem Buch „Kind aller Länder“. Der heute vergriffene Roman erzählt die Geschichte einer Familie, die seit Generationen in Deutschland lebt und vor Verfolgung, Krieg und dem zunehmenden Druck des nationalsozialistischen Regimes fliehen muss, eine Familie, die auf einen Schlag als Gefahr, Fremde & das Andere gilt. Die zehnjährige Erzählerin Kully sieht schon in jungen Jahren eine Überseefahrt, den ehemaligen Ostblock, dutzende hässliche, aber auch schöne Hotelzimmer, sie sieht Armut, politische Gefangene und den Einmarsch der Wehrmacht in Wien.

Als ich Keuns Text zum ersten Mal las, fiel es mir schwer zu glauben, dass eine weiß-europäische „Durchschnittsfamilie“ selbst zu Geflüchteten werden kann. Dass auch langansässige Österreicher*innen und Deutsche in ihrer Identität, Nationalität und Zugehörigkeit plötzlich hinterfragt und derselben beraubt werden können. „Kind aller Länder“ erzählt die Geschichte unserer Nachbar*innen, Kolleg*innen und Bekannten auf der Flucht, sie erzählt vom Zerfall der Norm und des Selbstverständlichen.

Diese Verschiebung, wenn Zugehörigkeit plötzlich brüchig wird, steht auch im Zentrum des Films „Noch lange kein Lipizzaner“. Der Dokumentarfilm setzt an bei der persönlichen Erfahrung der Regisseurin Olga Kosanović: Obwohl sie in Österreich geboren und aufgewachsen ist, wurde ihr Antrag auf die österreichische Staatsbürgerschaft abgelehnt, unter anderem mit der Begründung, sie habe „in den letzten 15 Jahren insgesamt 58 Tage zu lange im Ausland“ verbracht. Doch Kosanović bleibt nicht bei der bürokratischen Härte des Staatsbürgerschaftsgesetzes stehen. Sie gräbt tiefer, dort, wo das Symbolische beginnt: beim Lipizzaner, einem bekannten Reitpferd, an dem sich das österreichische Selbstbild definiert. Ausgehend von diesem Beispiel untersucht der Film die Frage: Wer gehört überhaupt zu „uns“? Wer wird ausgeschlossen und warum?

Diese Problemstellung verbildlicht Kosanović mit einer Szene in der Hofreitschule Wiens. Dort wird das weiße, makellose Reitpferd zuerst als Identifikationssymbol Österreichs inszeniert, als Tier mit nationaler Tradition. Doch der Film löst diese Projektionsfläche auf: Seine Zuchtlinien führen nach Spanien, Neapel, Dänemark und in die Vielvölkerregionen der ehemaligen Habsburger Monarchie.2 Diese internationale Verwobenheit wird in der offiziellen Erzählung konsequent ausgeblendet. Denn sie passt nicht in das Narrativ einer „natürlichen“ österreichischen Homogenität.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie lückenhaft die Erzählung des „einheitlichen“ Ursprungs ist.  Vor dem ersten Weltkrieg machte die Einwohner*innenzahl Wiens 2 Millionen aus. Im Zentrum der Monarchie Österreich-Ungarns lebten Tschech*innen, Ungar*innen, Slowen*innen, Kroat*innen, Italiener*innen, Bosnier*innen, Jüdinnen*, Roma und Sinti, sowie  Menschen aus allen Teilen des Habsburger Imperiums. Wien war ein Knotenpunkt von Sprachen, Religionen und Migrationen.3 Mit dem 1. und 2. Weltkrieg, dem Holocaust sowie der nachkriegszeitlichen Re-Nationalisierung wurde Wien zu jener scheinbar einheitlichen, „österreichischen“ Stadt. Zwischen 1938 und 1945 machte Wien einen Verlust von fast 400.000 Menschen gegenüber der Vorkriegszeit.4 Hinzu kamen Zehntausende politisch Verfolgte, Kommunist*innen, Künstler*innen und Intellektuelle, die während des zweiten Weltkriegs das Land verließen. Dass Wien wieder seit 2013 eine Zwei-Millionen-Stadt ist, liegt an den Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte, an jenen, die kamen, um die Lücken zu füllen, die Krieg, Verfolgung und Vertreibung hinterließen. Dazu gehören vor allem die sogenannten „Gastarbeiter*innen“ aus dem ehemaligen Jugoslawien, Griechenland, Italien und der Türkei, die seit den 1960er-Jahren die Stadt mit aufgebaut haben. Trotz all dem hält sich das Narrativ einer homogenen Nation bis heute hartnäckig.

Im Film macht die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger diese historische Verdrängung sichtbar. Sie erklärt, wie der österreichische Staat Zugehörigkeit bis heute an eine bestimmte Bedingung knüpft: „Integration durch Leistung“. Dieses Prinzip, sagt Kohlenberger, setzt voraus, dass Zugehörigkeit etwas mit verdientem Engagement zu tun hat, mit Anpassung, „Mühe“ und „Dankbarkeit“. In diesem Konstrukt werden neu Ankommende aber auch „Migrant*innen“5 der zweiten und dritten Generation durch die Staatsangehörigkeit belohnt. Das Ausbleiben vom Wahlrecht, der Arbeitserlaubnis und mehr ist also als Zustand, der „noch nicht erbrachten Leistung“ zu übersetzen, ein (noch) „nicht gut genug“.

Kosanovićs zeigt, wie absurd diese Logik ist. Die Staatsbürgerschaft erscheint im Film wie ein Preis, den man sich erst verdienen muss. Während die einen, ihren roten Pass als selbstverständlich sehen, müssen sich andere für diesen erst beweisen. Weg von den juristischen Paragrafen und Gesetzgebungen wird vor allem das Brettspiel Monopoly im Film zur Metapher für die Staatsbürgerschaft benutzt. Wer Eigentum besitzt, darf mitspielen. Wer ohne Startkapital ins Spiel kommt, bleibt schnell auf der Strecke.

Die Politikwissenschafterin Margaret Somers beschreibt in „Genealogies of Citizenship“, dass Staatsbürgerschaft nicht Ausdruck einer natürlichen Zugehörigkeit ist, sondern Zugang zu Rechten, „the right to have rights“.6 So wird die Geburt auf einem bestimmten Feld zum Startvorteil, während andere gar nicht auf dem Brett beginnen dürfen. Der Film zeigt, die österreichische Staatsbürgerschaft gleicht einem Spiel, in dem die Regeln von jenen gemacht werden, die bereits gewonnen haben. Und doch sind es gerade jene, die im Spiel mit schlechten Karten starten, ohne die dieses Land nicht funktionieren würde. Was Somers als strukturelle Ungleichheit beschreibt, spiegelt sich längst im Alltag, in der Arbeitsteilung, in der Ökonomie, in der Art, wie wir über Kultur sprechen.

@die_chefredaktion veröffentlicht ein Video mit meiner Kollegin und Freundin Umuş Gül, in dem sie dem Vorwurf der „migrantischen Verdrängung österreichischer Kultur“ nachgeht. Sie fragt: Wer, wenn nicht Menschen mit Migrationsbiografie, arbeitet in den Küchen der Wirtshäuser, auf den Fahrgeschäften im Prater? Wer, wenn nicht Migrant*innen, halten den Tourismus, die Pflege und die Bauwirtschaft am Laufen? Es sind gerade jene, deren Zugehörigkeit stets in Frage steht, die tagtäglich zum Erhalt und zur „Zelebration“ der sogenannten österreichischen Kultur beitragen.7

@die_chefredaktion

Heute ist Nationalfeiertag. Rechtspopulistische Stimmen meinen oft, dass wir „unsere“ Kultur schützen müssen. Wir haben uns bei Arbeitenden in typisch österreichischen Arbeitsstätten, wie der Feinkost, umgehört. Beitrag: Umus Gül Unabhängiger Journalismus wird in den nächsten Jahren noch wichtiger werden. Damit wir unsere Zukunft langfristig sichern können, brauchen wir Abos. Wenn ihr ein Steady-Abo abschließt, bekommt ihr exklusive Inhalte und unterstützt unsere junge Redaktion. Link in Bio 💕

♬ Originalton - Die Chefredaktion

Die Staatsbürgerschaft bleibt ein Spiel mit ungleichen Chancen, ein Preis, den man gewinnen oder verlieren kann. Ein formaler, unzelebrierter Akt, der verspricht, Sicherheit zu geben und doch so oft nur neue Grenzen zieht.

Wir sehen in der letzten Szene bei der längst überfälligen Anerkennung Kosanovićs Staatsangehörigkeit im Film keine Hymne, keinen Eid, der gesprochen wird. Wir sehen Menschen, die tanzen, die laut sind. Ein „Wir“, das sich nicht staatlich legitimieren will. Ein „Wir“, dass sich selbst anerkennen möchte, selbst wenn es die Mehrheitsgesellschaft nicht tut. Doch dieses „Wir“ ist kein Wir jenseits des Staates. Es ist ein Wir, das ständig geprüft, vermessen, dokumentiert wird. Ein Wir, das nicht selbstverständlich existiert, sondern immer wieder um seine Existenzberechtigung ringen muss. Was auf der Leinwand wie ein Moment der Befreiung wirkt, bleibt in der Realität fragil: Auch wenn wir tanzen, tragen wir Ausweise. Auch wenn wir feiern, wissen wir, dass ein Formular, ein Stempel, ein politischer Stimmungswechsel genügt, um unsere Zugehörigkeit wieder infrage zu stellen.

Abschließend, um mein eigenes Gefühl zu diesem Thema einzubringen würde ich gerne den Tik Toker „thewurstguide“ zitieren, der in seinem letzten Video folgendes beschreibt:

 „Schau ma Mal“ ist the Austrian „inshallah“8

Vielleicht stimmt das. Vielleicht beschreibt dieser Satz die Zwischenlage, in der viele von uns leben: ein „Wir werden sehen“, das zugleich Hoffnung und Warnung ist. Ein Satz, der nicht verspricht, sondern die Spannung (in mehreren Sprachen) hält.

Fußnoten

1.Reich, P. (2016, 27. Juli). Irmgard Keun – Kind aller Länder. LiteraturReich

2. Spanische Hofreitschule & Lipizzanergestüt Piber (SRS). „Lipizzaner: Das Pferd: Disziplin, Eleganz, Ausdauer, Leichtigkeit, Präzision und Harmonie“

3. Geschichtewiki Wien. 2025. „Flüchtlinge“ Zugriff am 27. Oktober 2025. 

4. Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ). 2025. Auswanderung Österreich.

5. „Der Begriff „Migrant*innen“ steht hier bewusst in Anführungszeichen, weil er in Österreich häufig auch auf Menschen angewendet wird, die selbst nie migriert sind, auf die zweite, dritte oder weitere Generation, die hier geboren und aufgewachsen ist. Obwohl diese Personen keine eigenen Flucht- oder Migrationserfahrungen haben, werden sie paradoxerweise weiterhin als „Migrant*innen“ bezeichnet.

6. Somers, Margaret R. (2008). Genealogies of Citizenship: Markets, Statelessness and the Right to Have Rights. Cambridge (UK) / New York: Cambridge University Press, S.6.

7. @die_chefredaktion, “Migrant*innen in Österreich tragen Kultur im Alltag…” TikTok. https://vm.tiktok.com/ZNdctqes1/

8. „Schau ma mal ist das österreichische „inshallah“: https://www.instagram.com/reel/DPBChR7DPb1/

 

Leyli Nourihat in Wien Philosophie studiert und arbeitet im Bildungsbereich mit migrantischen Jugendlichen & als freie* Journalist*in. Als Mitbegründer*in des Javaneh Kollektivs beschäftigt sich Leyli außerdem mit transnationalen Zusammenhängen in der SWANA-Region sowie mit ökofeministischer Theorie & Film.