50 Jahre Vietnamkrieg. Zwischen den Welten balancieren
Ein Gefühl von Schwere regt sich in meiner Brust, als ich das Datum dieses Jahrestages erblicke: Am 30. April 1975, also vor 50 Jahren, endete der Vietnamkrieg. Es ist befremdlich, vom Ende eines Krieges zu lesen, der so lange Zeit zurückliegt und sich in einem Land abspielte, das ich bislang nur zwei Mal in meinem Leben besucht habe.
Andererseits gab es kein geschichtliches Ereignis, das mein Leben mehr prägte: Denn ohne die Folgen des Vietnamkrieges würde ich nicht existieren. Ich bin ein Kind zweier vietnamesischer Geflüchteter, die in den 1980er Jahren das wiedervereinigte Vietnam verließen und in Deutschland eine neue Heimat fanden. So bleibt mir dieser Jahrestag fern und geht mir doch nah.
Das Herkunftsland meiner Eltern war zu dem Zeitpunkt gebeutelt von den Folgen jahrzehntelange andauernder Kriege: Der Indochinakrieg, die Besatzung durch Japan im Zweiten Weltkrieg, Bürgerkriege, und schließlich der Vietnamkrieg — oder wie die Vietnames*innen sagen der „amerikanische Krieg“.
Die Familien meiner Eltern lebten im Süden Vietnams und meine Eltern wuchsen als Kinder mit dem Krieg auf. Als die US-Amerikaner am 2. März 1965 mit der Operation „Rolling Thunder“ die systematische Bombardierung Nordvietnams begannen und damit offiziell in den Krieg eintraten, war mein Vater sieben Jahre alt und meine Mutter gerade mal zwei.
Mein Vater wurde in Đất Đỏ geboren, meine Mutter in Bà Rịa. Meine Eltern gehörten beide zu den vietnamesischen Geflüchteten, die vor dem kommunistischen Regime flüchteten, das nach dem gewonnenen Krieg das wiedervereinigte Land führte. Diese wurden in der westlichen Welt auch boat people genannt. Millionen von Menschen aus Südvietnam flüchteten in Folge des Krieges, weil sie als frühere Verbündete der US-Amerikaner Repressalien befürchteten: Verfolgung, Drangsalierung, Umerziehungslager oder Schlimmeres. Das Ziel der Flüchtenden war, ‚Amerika’ zu erreichen —oder zumindest die westliche Welt.
Wären meine Eltern in Vietnam geblieben, wären sie sich vielleicht niemals über den Weg gelaufen. Stattdessen trafen sie sich in einem Flüchtlingsheim im ostwestfälischen Herford. Diese Stadt, die 12.000 Kilometer von den Geburtsorten meiner Eltern entfernt liegt, sollte mein Geburtsort werden. Aufgewachsen bin ich wie so viele vietdeutsche Kinder der zweiten Generation in einem Spagat zwischen zwei Welten.
Während ich aufwuchs, sprachen meine Eltern so gut wie nie mit mir über die Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend, geschweige denn über ihre Flucht. Ich erinnere mich wie sie mich einmal zu einem Jubiläumstreffen der Cap Anamur mitnahmen, der Hilfsorganisation, die in den 1980ern mit einem Rettungsschiff knapp 10.000 vietnamesische Geflüchtete aus dem Südchinesischen Meer rettete.
Ich hörte den Namen damals zum ersten Mal und war um die zehn Jahre alt. „Die haben uns früher gerettet“, war die einzige Erklärung, die meine Eltern mir gaben.
Das Treffen erlebte ich wie viele andere Feste, die ich aus der vietdeutschen Community kannte: ein Wirrwarr aus heiteren und quirligen vietnamesisch sprechenden Menschen. Mittendrin Kinder, die tobten und lachten. Meine Mutter fiel einer alten Freundin in die Arme und stellte sie mir vor: „Deine Tante Thi war mit mir im Aufnahmelager auf den Philippinen!“ Mein Vater lernte seinen besten Freund Hiep in Indonesien kennen, bis heute ein guter Freund der Familie. Worte über die Strapazen ihrer Flucht fielen gegenüber uns Kindern nicht. Stattdessen erschien mir das Ganze wie eine große Feier, auf der meine Eltern alte Freunde wieder trafen.
Erst eines Tages, als ich längst in meinen Dreißigern war, entfuhr meiner Mutter eine Erinnerung. Wir saßen zu zweit zum Mittagessen am Tisch, beide mit einer Schüssel Jasminreis und einem Paar Stäbchen in der Hand. Der Tisch war gedeckt mit einem Teller gekochtem Wasserspinat, einem Schüsselchen nước mắm zum Dippen und einer Portion cá kho, karamellisierter geschmorter Lachs mit Frühlingszwiebeln getoppt.
Wir sprachen über den neuesten Familienklatsch. Plötzlich kam meine Mutter darauf zu sprechen, wie sie damals aus Vietnam geflohen war. Es war mitten in der Nacht, erzählte sie. Ihre Brüder trommelten aufgeregt den Rest der Familie zusammen: die Schwestern, Schwägerinnen und kleinen Kinder, die im Haus der Großeltern verteilt auf dem Boden oder in Hängematten schliefen. In Aufruhr machten sie sich auf den Weg zur Meeresküste, ohne Hab und Gut, ohne Papiere. Ausgebaute Straßen existierten damals nicht, der Fluchtweg führte durch Pfade im wildgrünen Dickicht des düsteren Tropenwaldes.
Angekommen an der Küste befanden sich mehrere Holzboote und Mengen an Menschen, die versuchten, sich in diese hineinzupressen. Um Platz zu finden, musste die Familie meiner Mutter sich aufteilen. Meine Mutter schaffte es, mit ihrem Bruder, der Schwägerin und Nichte einen der begehrten Plätze zu ergattern, die sie in Richtung Freiheit bringen sollten. Mindestens hundert Menschen waren in ihr Boot gequetscht, als es in die tiefdunklen Weiten des brausenden Ozeans aufbrach, sagte meine Mutter. Sie hatte so viel Angst, dass sie gar nicht mehr weiß, wie sie das überhaupt tun konnte. „Das würde ich nicht nochmal machen“, erzählte sie mir lachend.
Ich war perplex, dass sie diese Erinnerung so unbekümmert mit mir teilte. Die Bilder, die sie in meinem inneren Auge hervorrief, versetzten meinem Herz ein paar nadelstichartige Hiebe. Gleichzeitig war ich meiner Mutter dankbar, dass sie sich geöffnet hatte und ich ihr näherkam. Anekdoten wie diese lassen mich nur erahnen, was das Aufwachsen mit dem Krieg, den Folgen der Nachkriegszeit und der traumatischen Flucht aus ihrem Heimatland mit meinen Eltern gemacht haben muss.
Viele vietnamesische Eingewanderte der ersten Generation, die nach Deutschland geflüchtet waren, leiden unter Traumata, die sie niemals aufgearbeitet haben. Oft mangelt es an Therapieangeboten, nicht zuletzt aufgrund von Sprachbarrieren. So bleibt die Aufarbeitung von psychisch belastenden Erlebnissen ein Luxus, an dem viele vietnamesische Eingewanderte der Nachkriegszeit nicht teilhaben können.
Bis dahin hatte ich das meiste, was ich über den Vietnamkrieg und die politischen Bedingungen des Landes wusste, selbst herausgefunden: Ich las Bücher, schaute mir Dokus an, schrieb Artikel. Als ich mich mit den Auswirkungen der kommunistischen Politik beschäftigte, fand ich heraus: Die zentral gelenkte Planwirtschaft des Landes, das mit einem Wirtschaftsembargo der USA belegt war, führte zu Misserfolgen in der Ernte und stürzte das wiedervereinigte Vietnam in eine der größten Hungersnöte seit 1945. Auch das war eine der Ursachen, weshalb nach dem Krieg Millionen Menschen aus dem Land flüchteten.
Dieses Wissen setzte einige Angewohnheiten, die ich von meiner Mutter kenne, in ein anderes Licht: In ihrem Haus wird so gut wie nie Essen weggeschmissen. Übrig gebliebenen Reis vom Vortag, bewahrt sie in einer Schüssel im Kühlschrank auf. Am Ende der Woche sammelt sich so viel an, dass sie daraus neue Mahlzeiten für ein paar Personen zubereiten kann. Es ist eine Angewohnheit, die ich von klein auf für völlig normal halte und heute ohne nachzudenken selbst übernehme. Doch das Wissen um die Geschichte Vietnams setzte die Verhaltensweise meiner Mutter in einen mir neuen Kontext.
Es machte mir vor allem bewusst: Ich bin aufgewachsen in einem Land mit Wohlstand und hohem Lebensstandard, im Gegensatz zu meinen Eltern. Anders als sie hatte ich seit der Kindheit keine Sorge, dass mir Essen fehlen könnte. Stattdessen bin ich aus manchen Vorstellungen, die ich von zuhause kenne, sogar herausgewachsen. Meine Ansichten sind dem Zeitgeist einer Generation entwachsen, die kritisch auf den Zustand einer Gesellschaft blickt, die jahrzehntelang Wohlstand und Frieden genießen durfte. Ich esse weniger Fleisch, verzichte auf Zucker und koche Naturreis. Für meine Mutter dagegen gibt es keine anständige Mahlzeit ohne Fleisch, Jasminduftreis ist für sie unfehlbar und erst die Zugabe von Zucker macht Speisen aus ihrer Sicht vollmundig.
Aufgewachsen bin ich in zwei Welten und das Balancieren zwischen diesen Welten ist Teil meiner Identität. Ich habe einen hohen universitären Bildungsabschluss und politisierte mich während meines Studiums. Meine Familie kommt aus einfachen Verhältnissen, meist ohne hohe Bildungsabschlüsse in der ersten Generation. Es fallen immer wieder beiläufige Aussagen wie die Nordvietnamesen seien „komisch“ und China „ganz schlimm“.
Es sind Ansichten, die ich heute anders einordnen kann als zu meiner Jugend: Den Vietnamkrieg führte die Weltmacht USA schließlich verbündet mit Südvietnam als Kampf gegen den Kommunismus, es war ein Stellvertreterkrieg des Kalten Krieges. Die Ansichten in meiner Familie spiegeln das Bündnis des vergangenen Krieges wider. Zugleich ist mir bewusst, dass meine Familie als vermeintliche „Verbündete des Feindes“ massiv unter den Repressalien der sozialistischen Regierung gelitten hätte, wären sie in dem Land geblieben.
Doch selbst mein Vater — der einst seine Geschwister dazu gebracht hatte, aus dem sozialistisch geführten Land zu fliehen — konnte nach jahrzehntelangem Leben in Deutschland nicht umhin, sich beeindruckt davon zu zeigen, wie sein altes Heimatland es geschafft hatte, die mächtigen US-Amerikaner in die Knie zu zwingen.
„Die haben unterirdische Tunnel gebaut und darin gelebt“, kommentierte er eine Doku über den Vietnamkrieg, die in einem vietnamesischen Fernsehsender lief und die wir eines Abends zusammen anschauten. Auf dem Couchtisch hatte er seine abendliches Bier stehen, daneben ein paar geröstete, gesalzene Pistazien.
Die größte militärische Weltmacht warf in Vietnam mehr Bomben ab als im Zweiten Weltkrieg und verlor diesen Krieg dennoch. Der Vietnamkrieg ging als großer Fehltritt in die US-Geschichte ein: „David hat Goliath besiegt“, sagte mein Vater mit einem ungläubigem und doch ehrfürchtigem Kopfschütteln. In seinen Worten schwang ein Hauch von Stolz mit.
*Dieser Text erschien in ähnlicher Form bei Deutschlandfunk Kultur. Bei migrazine beleuchtet die Autorin vor allem die Perspektive des vietdeutschen Community-Lebens.