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"Sprache ist ein Gebrauchsgegenstand"

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Interview mit Maureen Maisha Eggers

migrazine.at: Welche rassistischen und kolonialen Traditionen und Stereotype finden sich in deutschsprachigen Kinderbüchern?

Maureen Maisha Eggers: Jede Menge. Leider. Rassistische Konstruktionen gehören zur Normalität. An Kinder und Jugendliche adressierte Medien spiegeln gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse wider, und damit auch rassistische Verhältnisse. Was ich besonders erstaunlich finde, ist, dass sogar emanzipatorisch ausgerichtete Werke relativ ungebrochen rassistische Dominanzen reproduzieren. Zum Beispiel die "Pippi Langstrumpf"-Erzählung: Sie gilt als Ikonisierung des starken Mädchens, ist aber inzwischen hinsichtlich ihrer gleichzeitigen Reproduktion von weißer Dominanz analysiert worden. Erst Ende letzten Jahres hat mich ein Universitätskollege auf die Kontroverse rund um Janusz Korczaks Erzählung "Der kleine König Macius" aufmerksam gemacht. Korczak ist ein zentraler Akteur bei der Formulierung von Kinderrechten. In dieser Erzählung, in der er die Möglichkeit demokratischer Beteiligung von (weißen) Kindern begründet, normalisiert er gleichzeitig auf sehr problematische Weise rassistische Markierungen und Hierarchien.

Ich fand es sehr enttäuschend, das zu lesen und mir vorzustellen, dass Schwarze Kinder sich diesen Lesestoff reinziehen. Ich ringe gerade mit der Frage von Dominanzbeteiligung und versuche zu verstehen, wieso es, auch für emanzipatorisch formulierte Literatur, so normal ist, zugleich so tief in rassistischen Imaginationen, Bilderproduktionen und Normalisierungen verankert zu sein.

Kinderbücher sind nur ein Teil der kindlichen Erfahrungs- und Lernprozesse. Wie werden Kinder sonst noch mit rassifizierenden Konstruktionen konfrontiert? Ich denke zum Beispiel an Faschingspartys im Kindergarten, Spiele und Ähnliches ...

Das sind schon einige der Hauptbaustellen, wo rassistische Erziehungsbotschaften zu finden sind. Dann gibt es noch die Schulbücher und Schulmaterialien, die teilweise sehr problematische Konstruktionen hinsichtlich sämtlicher Differenzordnungen produzieren. Die Werbung finde ich als Medium auch recht schwierig. Das allerdings eher aus geschlechtertheoretischer Perspektive. Wobei auch hier diskriminierende Elemente verzahnt auftreten.

Ausgelöst durch die Ankündigung des Thienemann Verlags, rassistische Bezeichnungen im Buch "Die kleine Hexe" durch "zeitgemäße" zu ersetzen, folgte eine Welle an – man möchte fast sagen – hysterischen Reaktionen in Mainstream-Medien. Gab es darunter Stimmen oder Argumente, die für Sie neu oder überraschend waren?

Spannend fand ich die vielen sprachlichen Interventionen rassistisch markierter Leute. Es gab sehr viel "Talking Back", Gegendiskurse, Kommentare, Parodien, vor allem über Social Media, und all das in einer Schnelligkeit, die ich bislang so nicht kannte. Das finde ich positiv. Es entwickelte sich eine Stimmung symbolischer Solidarisierung. Es gab auch ziemlich "Instant Feedback" durch "Liken" und Blog-Antworten. Ich bin ziemlich netzaktiv, insofern liegt mir die Digitalisierung des Kampfes sehr. Das ist total mein Ding.

Was ich aus der Perspektive der Kindheitswissenschaften auch spannend fand, war, dass sich Kinder und Jugendliche, unterstützt durch ihre Eltern und andere Personen, selbst in die Debatte eingemischt haben. Die Änderungen in "Die Kleine Hexe" gehen auf eine Intervention von Mekonnen Mesghena und seiner siebenjährigen Tochter Timnit zurück. Ich finde es schön, dass Kinder und Jugendliche nicht nur zu kritischen Lesenden heranwachsen, sondern auch ihre Aktionsmacht an realen gesellschaftlichen Problemen erfahren können. Das ist ein hoffnungsvolles Zeichen.

In der Auseinandersetzung im Mainstream wurde viel über Zeitkolorit, Tradition und die angebliche Bedrohung des Sprachguts und der künstlerischen Freiheit gesprochen. Wurde die Mehrheitsposition einmal mehr in ihrem rassistischen Konsens bestätigt, oder sind auch neue Brüche entstanden?

Ich habe wenig Verständnis für das Argument der Bedrohung des Sprachguts. Sprache ist dynamisch. Sprache ist ein Gebrauchsgegenstand. Mein Toaster ist auch nicht von 1973. Ich besitze sehr wohl eine alte Milchkanne von 1962, aber die ist auch in Gebrauch. Ich plädiere nicht dafür, nichts mehr "Altes" zu haben. Aber pragmatisch betrachtet muss mir der Gebrauchsgegenstand, was immer es auch ist, den besten Service garantieren können. Das verlange ich auch der Sprache ab. Und rassistische Sprache ist ein '"Dis-Service" an Schwarzen Menschen.



Die Fiedelgrille und der Maulwurf (­Janosch) & Frederick (Leo Lionni)

Nachdem Janoschs Grille den ganzen Sommer lang Geige gespielt statt Wintervorräte gesammelt hat, droht ihr nun der Hungertod. Niemand hilft ihr, bis endlich der liebe Maulwurf sie bei sich aufnimmt. Ein Lehrstück über fiese (deutsche) Arbeitsmoral sowie über gelebte Alternativen und Solidarität.
Text: Lea Susemichel

Ganz ähnlich ist es bei Frederick, der anders als seine Feldmaus-Geschwister ist: Während alle fleißig Futter für den Winter sammeln, widmet er sich seinen Tagträumen. Dass sein Sinn für Farben, Worte und Licht ebenso wertvoll ist, zeigt sich, als die Reserven zur Neige gehen.
Text: Brigitte Theißl

Illustration: Pauline Häfner


Seit Jahrzehnten zeigen Schwarze Theoretiker_innen, Aktivist_innen, Erwachsenenbildner_innen u.a. auf, wie Rassismus in Kinderbüchern Children of Color – aber auch weiße Kinder – in ihrem Dasein und Erleben der Welt formt. Um die Kinderbuch-Debatte auf eine einfache Frage zu reduzieren: Hat es die Mehrheitsbevölkerung noch immer nicht kapiert? Oder handelt es sich um einen bewussten Widerstand gegen antirassistische Interventionen?

Ich vermute hinter der Eskalation eher eine ritualisierte Grenzverletzung, symbolisch gesprochen. Rassistische Bezeichnungen zu verwenden, stellt aus meiner Sicht eine Grenzverletzung dar. Schwarze Menschen leisten Widerstand und widersprechen der selbstverständlichen Verfügung über ihr (Schwarz-)Sein. Eigentlich ist es eine faire Geste, genug "Care" aufzubringen, um rassistische Sprachbezeichnungen verändern zu wollen wie bei "Die kleine Hexe". Es ist eine Art In-Ordnung-Bringen eines unbefriedigenden Zustands, der negative Folgen für Schwarze Kinder und Children of Color hat.

Bei dieser Intervention geht es im Grunde darum, eine bestimmte Sprache in den Gebrauch zu bringen und aus dem diskriminierenden Missbrauch herauszulösen. Darauf zu bestehen, dass People of Color, Schwarze Menschen, rassistisch markierte Subjekte keine Berechtigung haben, die Sprache so zu modifizieren, dass diese ihren Subjektstatus zur Kenntnis nimmt und damit widerspiegelt, stellt eine Grenzverletzung dar. Da haben sich sämtliche weiße Journalist_innen dazu berufen gefühlt, Polemiken zu formulieren, wie zum Beispiel Denis Scheck, der in "Black Face" aufgetreten ist.

Ritualisiert nenne ich das, weil ich darin eine symbolische Platzzuweisung sehe, eine Dominanzgeste. Es ist eigentlich ein Bestehen darauf, über Schwarze Menschen – zumindest symbolisch – zu verfügen, nämlich über die Art, wie man uns bezeichnen soll. Überraschend ist, wie die weiße, vorwiegend männliche Position aus dieser Eskalation vielfach als "das eigentliche Opfer" hervorgeht.

Die Debatte hat auch auf Österreich übergegriffen. Können Sie etwas zum Stand der Diskussion in anderen europäischen Ländern, außerhalb des deutschsprachigen Raumes, sagen?

Beide angesprochenen Beispiele, "Pippi Langstrumpf" und "Der kleine König Macius", sind literarische Produkte aus anderen europäischen Ländern, also aus Schweden und Polen. Ich habe über Social Media verfolgt, dass es im schwedischen Kontext eine starke rassismuskritische Bewegung gibt. Gleichzeitig gibt es jedoch offenbar auch starke rassistische Tendenzen. Von Polen habe ich mitbekommen, dass es eine aktive linke Bewegung gibt, ob darin aber auch Rassismuskritik verankert ist, kann ich nicht sagen. Auch hier setze ich auf Social Media und auf die Digitalisierung von Orten und Kontexten der Solidarisierung.

Wie geht es weiter: Setzen sich Autor_innen und Verlage jetzt tatsächlich mehr mit Rassimus-Fragen auseinander, oder ist die Debatte schon wieder vorüber?

Ich kenne einige Initiativen, die Diversität in der Kinder- und Jugendliteratur stärker fokussieren und vorantreiben wollen. Daran bin ich selbst sehr interessiert. Vor dem Hintergrund anhaltender Ungleichheitsverhältnisse ist es jedoch unerlässlich, "Diversität" zu kontextualisieren und mit Differenz und Dominanz in Bezug zu setzen. Ich verwende also den Begriff "Diversität" immer mit Verweis auf das "Othering" und auf gemachte Differenzen. Das bedeutet, ich verweise auf die implizite Herstellung einer weißen Norm, indem bestimmte Gruppen zu "Anderen" gemacht und als solche markiert werden. Diese Einrahmung ist aus meiner Sicht von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, eine Anerkennung von Heterogenität zu den Bedingungen von Ungleichheit herbeizuführen.

Wie kann Kinderliteratur aussehen, die sich auf ermächtigende und vorurteilsfreie Art und Weise mit Differenz auseinandersetzt?

Ich würde nicht vorurteilsfrei, sondern vorurteilsbewusst sagen. Reflexion ist ein lebenslanger Prozess, der nie aufhört. Lernen auch. Solange Ungleichheitsverhältnisse existieren, werden wir als Subjekte, die nicht nur einen kritischen Anspruch stellen, sondern auch konkret umsetzen und leben wollen, immer wieder schmerzhafte Einsichten in die eigenen konformen Handlungsweisen, Komplizenschaften und Dominanzbeteiligungen haben. Kritik impliziert immer zugleich eine liebevolle Selbstkritik, die danach fragt, wie wir in die Verhältnisse eingewoben sind und wie unser Agieren diese Verstrickung bricht oder bestätigt. Eine Kinderliteratur, die diese Möglichkeiten von Selbsterkenntnis, Lust an Gestaltung und empathischer Selbstannäherung aufgreift, fände ich ermächtigend. Und es geht immer um das Verhältnis von Gleichheit und Differenz, nicht nur um Differenz, ebensowenig wie nur um Gleichheit.

Wie sollen Eltern mit Kindern Differenz, Dominanz, Diversität thematisieren?

Situativ, ganz konkret im Alltag. Zu einem bedeutenden Teil bevor Eskalationen stattfinden, über Widerstandsfilme, Trickfilme, durch das "Black Arts Movement", durch Schwarze Geschichte, an konkreten Biografien von Menschen, mit denen Kinder verbunden sind.

Wir schreiben das Jahr 2050: Wie sieht die deutschsprachige Kinderbuchlandschaft aus?

Der Anteil der von Kindern und Jugendlichen selbst geschriebenen Werke hat sich verdoppelt. Es gibt einen großen Bereich von Büchern, die aus Blogs entstand


Interview: Paweł Kamiński



Maureen Maisha Eggersiist seit 2008 Professorin für Kindheit und Differenz an der Hochschule Magdeburg-Stendal. 2005 hat Maisha Eggers den Sammelband "Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland" mitherausgegeben. Seit 1993 ist sie aktiv bei ADEFRA e.V. - Schwarze deutsche Frauen und Schwarze Frauen in Deutschland.