Ausgabe 2014/2

Let's talk about: Klassismus

"Klassismus" bedeutet klassenspezifische Diskriminierung, Ausbeutung und Marginalisierung. Schwarze und lesbische Feministinnen aus der Arbeiter_innenbewegung brachten den Begriff in den USA der 1970er Jahre in die Debatten ein. Zwischenzeitlich geriet Klassismus als Thema und soziales Analysewerkzeug - nicht als Realität - in den Hintergrund.

migrazinecolor>.at schließt sich mit dieser Ausgabe den aktuellen Bemühungen rund um "Class Matters" an. So gehen wir etwa der Frage nach, wie "Klasse" heute im (queer-)feministischen Aktivismus thematisiert wird. Parallel dazu hinterfragen wir die Verbindungen mit Rassismus und Sexismus. Ein wesentlicher Aspekt ist Bildung, spielt doch das gesamte Feld - von den Hauptschulen bis zu den Unis - eine zentrale Rolle für die Reproduktion von Klassismus.

Dieser Themenschwerpunkt ist in Kooperation mit an.schläge – Das feministische Magazin entstanden.

Fokus ^

Editorial

von an.schläge und migrazine

In kaum einem anderen Land wird die soziale Herkunft so stark vererbt wie in Österreich. Dort, aber auch in Deutschland ist es besonders schwer, durch Bildung sozial aufzusteigen – insbesondere für Frauen. Zu diesen Ergebnissen kommt der jüngste Bildungsbericht der OECD, der jedes Jahr den Bildungszugang und die Bildungsbeteiligung in 34 Industriestaaten miteinander vergleicht.

Kultur der Respektlosigkeit

von Heike Weinbach

Klassismus beschreibt nicht nur Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft, sondern auch eine Ideologie der Rechtfertigung. Ein Überblick von Heike Weinbach.

Was bedeutet "Klassismus", und wie lässt sich klassistische Diskriminierung fassen? Regelmäßig veröffentlichen sowohl die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten als auch die EU-Kommission Zahlen zur sozialen Lage und zur Bildungsbeteiligung von Menschen mit Armutserfahrungen bzw. Menschen aus ArbeiterInnenfamilien. Als Grundlage werden hierbei die Bildungsabschlüsse der Eltern herangezogen und die damit verbundenen Zugänge zu materiellen und ideellen Ressourcen der Gesellschaft.

Kritik, die ungehört verhallt

von Anne-Carina Lischewski

Die Thematisierung von Klassismus in queer_feministischen Zusammenhängen ist nicht neu. Und doch hat sich in den letzten fünfzig Jahren nur wenig verändert.

Die erste Auseinandersetzung mit dem Begriff "Klassismus" findet sich in einer Essay-Sammlung der überwiegend proletarischen Lesbengruppe The Furies, die 1974 unter dem Titel "Class & Feminism" veröffentlicht wurde. Sie beinhaltet viel Kritik an der eigenen Szene, die sich zum Großteil auch auf die heutigen Verhältnisse übertragen lässt. So problematisierten die Aktivistinnen schon damals die für sie unverständliche Haltung finanziell besser gestellter Mitstreiterinnen, (potenziell) vorhandenes Geld lieber zu verleugnen statt zu teilen.

Bildungsprivilegien für alle!

Interview mit María do Mar Castro Varela

Bildung spielt eine zentrale Rolle, wenn es um die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe geht. Doch von Bildungsgerechtigkeit ist unsere Gesellschaft noch weit entfernt, wie die Politikwissenschaftlerin und Pädagogin María do Mar Castro Varela betont.

migrazine.at: In Wien plakatierte die Österreichische Volkspartei kürzlich: "Das Gymnasium gewinnt jeden PISA-Test." Der Plan der Sozialdemokrat_innen, eine Gesamtschule einzuführen, ist bisher an den Konservativen gescheitert. Steckt hinter dem Nein zur Gesamtschule die Angst, Privilegien zu verlieren?

Die Hauptschule: Ein Ort der Verachtung

von Stefan Wellgraf

Für die Reproduktion von Klassenverhältnissen spielen staatliche Institutionen wie die Schule eine entscheidende Rolle. Die Hauptschule erscheint dabei als eine institutionalisierte Form von Klassismus.

Die in den 1960er Jahren in Deutschland entstandene Hauptschule zielte ursprünglich auf eine praktische Berufsausbildung ab. Im Laufe der Jahre jedoch wurde sie vor allem in den Großstädten zu einer "Restschule" für Arme und MigrantInnen. Während das Gymnasium die Tore zu den Universitäten öffnet und die Realschule Wege zur Ausbildung ebnet, führt der Hauptschulabschluss häufig in die Arbeitslosigkeit.

"Etwas Besseres werden"

von Emma Goldbitch und Rosa Weißmann

Weißsein, Körpernormen, Altersdiskriminierung, Tierrechte – über alles wird gesprochen, doch die eigene soziale Herkunft offenzulegen, stellt noch immer ein großes Hindernis dar.

Alljährlich vor Projektwochen fragte mein Klassenvorstand im Gymnasium: "Wer von euch ist bedürftig? Wer braucht die Beihilfe?" Logischerweise zeigte niemand auf, und logischerweise gab es jedes Mal zu Hause deshalb Ärger. Dass meine Familie "arm" war, war nie das primäre Thema. Vielmehr wollte vor allem mein Vater, dass wir Kinder "etwas Besseres" werden. Daher Gymnasium um jeden Preis, Drill, Schweiß und Tränen für die guten Noten.

"Der Begriff 'Klasse' gibt Kraft"

Interview mit Saideh Saadat-Lendle

Als Teil der Lesbenberatung Berlin engagiert sich LesMigraS [1] zum Thema Mehrfachdiskriminierung und bietet Unterstützung für lesbische, bisexuelle Frauen und Trans*. migrazinecolor>.at fragte nach, welche Rolle "Klasse" in der Antidiskriminierungs- und Empowerment-Arbeit bei LesMigraS spielt.

migrazine.at: Beim Thema "Mehrfachdiskriminierung" stehen häufig Ausgrenzungserfahrungen aufgrund des Geschlechts, der "kulturellen Herkunft" und der sexuellen bzw. geschlechtlichen Identität im Vordergrund. Die Frage der Klassenzugehörigkeit wird dagegen nur selten angesprochen. Warum ist es so schwierig, über Klassenverhältnisse zu reden?

Viva McGlam?

von Terre Thaemlitz

In vielen Transgender-Communitys wird Glamour vergöttert, inszeniert und konsumiert. Ist diese Selbstdarstellung von Transgendern eine Kritik an oder die Kapitulation vor luxusfixierten Modellen des Glanzes?

Das englische Wort glamour hat seine Wurzeln im schottischen grammar im Sinne von gramarye, das soviel wie "Magie" bedeutet. Wie alles Magische ist auch Glamour eng verknüpft mit Gaukelei, falschen Vorspiegelungen und Betrug. Jede Gesellschaft hat ihre Hohepriester des Glamours und ihre Zauberinnen - diejenigen, die sich mithilfe größtenteils leerer/nichtiger Geheimnisse von anderen absetzen beziehungsweise über andere erheben.

Class Trouble

von Nikola Staritz

Wie viel "Klasse" hat die queer-feministische Praxis? Immer mehr und doch zu wenig.

Dass "Klasse" keine zentrale Kategorie in queer-feministischen Analysen darstellt, liegt nicht etwa daran, dass der Klassenwiderspruch aufgehoben wäre oder Kapitalismuskritik im Queer-Feminismus keine Rolle spielt. Es liegt stattdessen daran, dass Ungleichheit oft als Diskriminierung kurzgeführt wird.

Männliche Abstiegsangst

Interview mit Andreas Kemper

Andreas Kemper beschäftigt sich mit Männlichkeit und Klassismus. Was beides miteinander zu tun hat, erklärt er im Gespräch mit migrazinecolor>.at.

migrazine.at: Sie arbeiten hauptsächlich zu den Themen Maskulismus und Klassismus. Welche Verbindungen gibt es zwischen Männlichkeit und Klasse?

Neues deutsches Reinheitsgebot: Bier mit Prollfaktor

von Christian Baron

Wie die Werbung für das "Proll-Bier" Astra sich über die "bildungsferne Unterschicht" lustig macht.

Heute ist nicht mehr der DDR-Klassenkämpfer mit gestähltem Bizeps und roter Fahne das gängige Zerrbild der einfachen ArbeiterInnen, sondern verwahrloste Unterschichts-Heinis mit prolligen Plauzen und durch Hartz IV aufgestockten Jobs, die ihre Finger nicht vom Alkohol lassen wollen. Dabei war die Kombination von Alkohol und nicht-akademisch gebildeter ArbeiterInnenklasse im öffentlichen Bewusstsein nicht immer ausschließlich mit dem Säufer-Image verbunden.

Crossover ^

"Watch the Med"-Notruf: Gegen das Sterben-Lassen auf See

von Watch The Med Alarm Phone Wien

Ein transnationales Netzwerk von Freiwilligen alarmiert ab 10. Oktober 2014 bei Seenot und Rückschiebungen im Mittelmeer.

Mit dem 10. Oktober geht das "Watch the Med Alarm Phone" offiziell in Betrieb. Der 24-Stunden-Telefondienst nimmt Notrufe von Flüchtlingen entgegen, die im Mittelmeer in Seenot geraten sind. Dann wird sofort die zuständige Küstenwache alarmiert. Organisiert wird die mehrsprachige Hotline von Freiwilligen in Städten südlich und nördlich des Mittelmeers als Reaktion auf das Unrecht, das sich tagtäglich an den Außengrenzen Europas abspielt. Auch in Wien hat sich eine "Watch the Med Alarm Phone"-Gruppe aus Aktivistinnen, Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen gegründet.

Zur Geschichte und Gegenwart der Volksuniversitäten

von Andreas Kemper

Volksuni, VolxUni, Kritische Universität oder Gegenuni sind Titel für selbstorganisierte Bildungsinitiativen, die sich als Alternativen - nicht als Ergänzung - zu den bestehenden Universitäten verstehen. Ein Überblick.

Mit den Kritischen Unis der 1968er und den Volksunis der 1980er Jahre wurde versucht, eine Bildung zu organisieren, die ohne hierarchisches Verhältnis auskommt. Zudem sollte Theorie praktisch werden und die Bildungsinstitutionen sollten sich Menschen öffnen, die sonst keinen Zugang zu Hochschulen haben. Frigga Haug, Mitbegründerin der Volksuni Berlin, sprach in diesem Zusammenhang explizit vom Ansatz einer Bildung von unten.

We are all NINJAS! (english)

Interview with Dríade Priscila Faria Aguiar

Dríade Priscila Faria Aguiar, founding member of the media collective Mídia NINJA, reports on the wave of social protests in Brazil and their approach to alternative journalism.

Mídia NINJA is called a media phenomenon. In the wake of the broad wave of protests against the 2014 FIFA World Cup, social ills and corruption starting in June 2013 in Brazil, the media collective raised the attention and support of thousands of people. Officially founded in April 2013, their history started seven years ago. Fifty communicators, journalists and activists have built a network that now connects more than five hundred journalists. Today Mídia Ninja is present in 200 cities across Brazil.

"Es geht darum, die Welt zu verändern"

Interview mit Luzenir Caixeta und Rubia Salgado

Diesen Herbst wird maiz, das Autonome Zentrum von & für Migrantinnen in Linz, zwanzig Jahre alt. Mit seinen radikalen Beiträgen hat der Verein den antirassistischen Diskurs in Österreich seit den 1990er Jahren maßgeblich mitgeprägt. Das Jubiläum ist aber nicht nur ein Anlass zum Feiern: Mit der Gründung der "Universität der Ignorant_innen" hinterfragt maiz auch seine eigene bisherige Praxis auf kritische Weise.

1994 wurde der Verein maiz von Tania Araujo, Luzenir Caixeta und Rubia Salgado, drei Migrantinnen aus Brasilien, in Linz gegründet. Zu Beginn standen Deutschkurse für lateinamerikanische Frauen und Beratung für Sexarbeiterinnen auf dem Programm, mittlerweile ist maiz auch im Bildungs- und Jugendbereich aktiv und betreibt außerdem Forschungs- und politische Kulturarbeit.

Morgen, Kinder, wird's was geben ...

von Lisa Bolyos

... morgen kommt die Polizei! Wenn Kinder und Jugendliche von Abschiebung bedroht sind, erregt dies mehr mediales Aufsehen, als wenn es "nur" um Erwachsene geht. Trotzdem wird die Perspektive dieser jungen Menschen viel zu selten mit ernsthaftem Interesse bedacht – ein Umstand, der sich mit der neueren Kinder- und Jugendliteratur ändert.

Noch bis Mitte der 1980er Jahre war Migration in der Kinderliteratur eine Frage des Kalten Krieges oder der Arbeitsmigration. Ich erinnere mich an das abendliche Vorlesen meiner älteren Schwestern aus Eveline Haslers Komm wieder, Pepino (1967). Pepino, Kind von italienischen Gastarbeiter_innen in der Schweiz, erlebt das Neu- und das Unwillkommensein in einem Land, in das er nie ziehen wollte. In Moni findet er eine autochthone Freundin, die ihn verteidigt und die im gemeinsamen Italien-Urlaub einen Crashkurs in "Sich-fremd-Fühlen" verpasst kriegt.

Arbeiten ohne Papiere - nicht ohne Rechte

von Sandra Stern

Als erste Anlaufstelle ihrer Art in Wien bietet UNDOK gewerkschaftliche Unterstützung für undokumentierte Arbeitnehmer_innen.

In Österreich existieren aktuell ganze 28 verschiedene Aufenthaltstitel, die Migrant_innen den regulären Zugang zum Arbeitsmarkt verwehren bzw. den Zugang für sie einschränken. Ein Umstand, der Migrant_innen in informelle Sektoren drängt und sie gegenüber Arbeitgeber_innen leichter erpressbar und ausbeutbar macht. Ob als Putzfrau, Kindermädchen oder Pflegekraft in einem privaten Haushalt, als Erntehelfer_in in der Landwirtschaft, auf der Baustelle, in der Gastronomie oder in der Sexarbeit: Undokumentierte Arbeit ist meistens unsicher, schlecht bezahlt und gefährlich.

The Silent University: Alternative Pedagogy as our Commons (english)

von Pelin Tan

The Silent University is an autonomous knowledge exchange platform by and for refugees, asylum seekers and migrants, aiming to challenge the idea of silence as a passive state.

What makes "alternative" education "alternative"? There are two basic principles: first, to construct non-hegemonic knowledge in a collective process and second, to create an instituting practice without remaining or never fully becoming an "institution". Education is by default a fully instituting structure in the sense that the institution itself becomes a machine for the sake of sustaining itself.

Legacies of colonialism: Democracy and national imaginations in Swedish popular education (english)

von Henrik Nordvall und Magnus Dahlstedt

Over the years, the "Swedish model" of popular education has been spread to countries in other parts of the world. In the process of "exporting" the idea, there is an on-going formation of national self-images in contrast to images of the "other".

When it comes to adult education – especially in civil society –, Sweden is in several respects quite unique compared to many other countries. Most significant are the so-called study circles and folk high schools, often referred to as folkbildning in Swedish (roughly translated as "popular education"), which receive substantial state subsidies and involve a large part of the population in Sweden. There, folk high schools have historically been an alternative educational pathway for groups who have not gained access to universities and other established educational institutions.

Ausweisungsgrund: überqualifiziert

Interview mit Simran Sodhi

Im Mai 2014 sorgte der Fall von Simran Sodhi für Aufruhr in Deutschlands Medien und Öffentlichkeit: Während die junge Wissenschaftlerin als "Integrationslotsin" in Berlin geflüchtete Menschen unterstützte, war sie bald selbst von der Ausweisung bedroht. Zahlreiche Proteste und eine Online-Petition konnten dies verhindern.

Simran Sodhi, indische Staatsbürgerin, kam in den 2000er Jahren nach Berlin, um Europäische Ethnologie zu studieren. Nach ihrem Studienabschluss begab sie sich auf Arbeitssuche, um weiter in Deutschland bleiben zu können. 2014 wurde sie fündig und trat eine Stelle als erste sogenannte Integrationslotsin im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick an.