"Wozu braucht eine Altenpflegerin physikalisches Wissen?"
migrazine.at: Am 5. Juli 2012 wurde im Parlament ein neues Gesetz beschlossen, das den externen Hauptschulabschluss einfacher und attraktiver machen soll. [1] Sie sind als Lehrerin bei maiz, dem Autonomen Zentrum von & für Migrantinnen, tätig und stehen dem Gesetz sehr kritisch gegenüber – warum?
Barbara Zach: Ich halte das Gesetz für eine bildungspolitische Katastrophe: Es verstärkt den strukturellen Rassismus im Schulsystem. Der Anteil von Migrant_innen an Haupt- und Sonderschulen ist bekanntlich sehr groß, an Gymnasien und Universitäten dafür niedrig. Eine Bildungspolitik, die das bekämpfen will, müsste alles dafür tun, um Migrant_innen in BHS und AHS (Berufsbildende und Allgemein bildende höhere Schulen) sowie Universitäten zu bringen – der neue Abschluss macht aber genau das Gegenteil: Er liegt unter dem Niveau des gegenwärtigen Hauptschulabschlusses und bereitet für Lehre und Beruf vor, nicht für einen weiterführenden Bildungsweg.
Wer ist die Zielgruppe für den externen Hauptschulabschluss?
Den externen Hauptschulabschluss machen Personen, die entweder in Österreich aus der Schule rausgefallen sind oder solche, die nicht in Österreich zur Schule gegangen sind und deren Zeugnisse nicht anerkannt werden. Nach den Plänen des Unterrichtsministeriums sollen pro Jahr 5.000 Personen diesen Abschluss machen.
Zur Zeit sind 66 Prozent der Teilnehmer_innen in den Vorbereitungskursen Migrant_innen. Die Zielgruppe ist sehr heterogen – es sind Migrant_innen der ersten, zweiten oder dritten Generation, mit vielen verschiedenen Erstsprachen, altersmäßig zwischen 16 und 35 Jahren. Auch gibt es unterschiedliche Schulerfahrungen – manche haben sehr schlechte, wie zum Beispiel die Dropouts, andere wiederum gar keine oder nur wenig Schulerfahrung.
Manche Migrant_innen haben hingegen eine sehr gute Schulausbildung, auch Matura oder Studium, aber die werden nicht anerkannt. Für diese Menschen ist es eine Zeitverschwendung und eine Demütigung, einen Abschluss machen zu müssen, der weit unter dem liegt, was sie eh schon können. Noch dazu hat der Hauptschulabschluss nicht gerade den besten Ruf: Er bereitet nicht auf die Universität vor, sondern in der Regel auf die Lehre. Die wenigsten wechseln danach auf eine AHS oder BHS.
Wie hat denn der externe Hauptschulabschluss bisher ausgesehen?
Man kann sich entweder alleine auf die Prüfungen vorbereiten – das machen aber nur die wenigsten – oder man besucht einen Vorbereitungskurs, zum Beispiel bei maiz, in einer Volkshochschule, beim Berufsförderungsinstitut (bfi) usw. Der Unterrichtsstoff, der geprüft wird, ist derjenige der vierten Klasse Hauptschule. Die Unterrichtsmaterialien sind also für 15-Jährige geschrieben, und zwar für solche mit Deutsch als Erstsprache. Aus diesem Grund passen die Unterrichtsmaterialien und auch die Prüfungsform für Erwachsene nicht – so mussten sie zum Beispiel bei der Turnprüfung einen Purzelbaum schlagen. Im Fach Geschichte lernen sie fast nur europäische bzw. österreichische Geschichte.
Der externe Hauptschulabschluss war also nicht erwachsenengerecht und entsprach nicht den Anforderungen einer Migrationsgesellschaft. Deshalb haben sich vor fünf Jahren die Anbieter_innen dieser Vorbereitungskurse zusammengetan – initiiert vom Unterrichtsministerium –, um den Hauptschulabschluss neu zu regeln. Vor etwa einem Jahr hat sich dann im Ministerium leider eine andere Fraktion dieses Prozesses bemächtigt und nun ein Gesetz durchgebracht, das den ursprünglichen Intentionen absolut entgegenläuft. Denn auch der neue Abschluss ist weder erwachsenengerecht noch hat er die Tatsache im Blick, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben, in der es sehr viel Rassismus und Ausschlüsse gegenüber Migrant_innen im Schulsystem und auf dem Arbeitsmarkt gibt.
Zum Beispiel ist die Durchlässigkeit zu höheren Schulen nur formal gegeben. Zwar steht im Gesetz, dass der Lehrplan der Neuen Mittelschule gilt. Aber jetzt sind nur mehr die "Hauptfächer" wie Deutsch, Englisch, Mathematik auch Pflichtfächer, fast alle anderen sind sogenannte Wahlpflichtfächer. Die Leute können also wählen, ob sie Bildnerische Erziehung (heißt jetzt: "Kreativität und Gestaltung") oder naturwissenschaftliche Fächer (jetzt: "Natur und Technik") machen wollen oder sich im neuen Fach "Gesundheit und Soziales" auf einen Beruf im Pflegebereich (als Altenpfleger_in, Pflegehelfer_in, Säuglingspfleger_in, Hauskrankenpfleger_in etc.) vorbereiten lassen wollen. Das ist natürlich praktisch für Leute, die schon fixe Berufsvorstellungen haben, praktisch ist es auch deshalb, weil es in Österreich ohnehin einen Personalmangel im Pflegebereich gibt und sich die Wirtschaft Sorgen macht, dass es aufgrund der demografischen Entwicklung in den nächsten Jahren nicht genug Lehrlinge geben wird.
Das heißt also, Leute, die zum Beispiel nicht in Biologie oder Physik unterrichtet wurden, sollen nach einem solchen Hauptschulabschluss in die 5. Klasse Gymnasium einsteigen können – das erscheint nicht sehr realistisch. Gibt es auch Positives am neuen Gesetz?
Alle Fächer werden jetzt transdisziplinär unterrichtet. Das ist "modern" – und wäre eigentlich auch vernünftig. Die Frage ist aber, welche Fächer miteinander kombiniert werden und warum. Der zuvor erwähnte Arbeitskreis wollte zum Beispiel vorschlagen, alle Sprachen in ein transdisziplinäres Unterrichtsfeld zu geben, also Deutsch, Englisch und typische migrantische Erstsprachen zu kombinieren. Damit sollte etwa Türkisch einen ähnlichen Stellenwert wie Englisch bekommen, sprich in der Statushierarchie der Sprachen aufsteigen.
Jetzt ist genau das Gegenteil passiert: Deutsch und Englisch sind weiterhin "Hauptfächer", andere Sprachen werden abgewertet, weil sie nicht Pflichtfächer, sondern nur mehr "Wahlpflichtfächer" sind. Kombiniert werden dann zum Beispiel Deutsch und Geschichte – mit dem Ergebnis, dass von Geschichte wenig übrig bleibt, Geschichte soll nur mehr als "Illustration" im Deutsch-Unterricht dienen. Der Gedanke dahinter: Ein Automechaniker braucht ja kein historisches Wissen, oder? Und wozu braucht eine Altenpflegerin physikalisches Wissen? Wäre es allein nach den Verfassern des Gesetzes gegangen, hätte es nicht einmal theoretisch die Möglichkeit für einen Wechsel in eine BHS oder AHS gegeben. Also: Wiedereinführung des "Hauptschule B-Zugs"! Und das in Zeiten der Neuen Mittelschule und öffentlich zelebrierter, ministerieller Kritik an der sozialen Selektivität des Schulsystems. Da haben nur die Proteste im Begutachtungsverfahren noch Schlimmeres verhindert.
Welche negativen Entwicklungen sehen Sie sonst beim neuen Gesetz?
Im Gesetz steht ja viel darüber, dass der neue Abschluss erwachsenengerecht wäre. Das stimmt so aber nicht. Bis jetzt haben zum Beispiel bei maiz Personen unterrichtet, die Quereinsteigerinnen sind oder aus der Erwachsenenbildung kommen. Die dürfen jetzt eigentlich nicht mehr unterrichten! Sondern nur mehr Lehrerinnen für Volksschule, Hauptschule oder Gymnasium. Oder Leute, die ein Studium in Erwachsenenbildung haben – wovon es nicht allzu viele gibt. Aber Personen, die auf der Pädagogischen Hochschule auf Kinder und Jugendliche vorbereitet werden, sind keine Erwachsenenbildnerinnen.
Besonders absurd ist das Ganze, weil das Ministerium gleichzeitig allen Erwachsenenbildungseinrichtungen die Auflage erteilt, das Lehrpersonal über die sogenannte "wba" (Weiterbildungsakademie am bifeb) als Erwachsenenbildnerinnen zertifizieren zu lassen. Das kostet uns sehr viel Geld und ist sinnlos, weil wir ja ab September ohnehin nicht mehr unterrichten dürfen. Die eine Hand im Ministerium weiß nicht, was die andere tut. Aber schauen wir mal: Bislang hat noch keine ihren Job verloren, vielleicht ist das Unterrichtsministerium draufgekommen, dass die neue Regelung – in Zeiten des Lehrer_innenmangels – doch nicht so gescheit war.
Interview: Cristiane Tasinato
Fußnote
[1] Den genauen Gesetzestext gibt es hier: http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/BNR/BNR_00575/fname_259545.pdf