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"Wir schlucken nicht alles, was uns vorgesetzt wird!"

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Interview mit Yolanda Delgado Malarín

Ein zentraler Bestandteil der Workshops mit jungen Migrant*innen und Refugees im Rahmen des Projekts "Das Leben hat Gewicht!" [1] war das sogenannte "Kochlabor", in dem gemeinsam gekocht und gegessen wurde. Es hatte die Funktion, einen offenen, kollektiven Raum für Zusammensein, gemeinsames Tun und Genuss zu schaffen, der eine Vielfalt von Rollen und Tätigkeiten ermöglicht. Hier wurde Kochen und Essen als gemeinschaftsstiftende, künstlerische, lustvolle Tätigkeit fokussiert. Im Kochlabor ging es explizit nicht um eine 'interkulturelle Begegnung' von 'Essenskulturen' verschiedener Länder. Diese Abgrenzung erscheint notwendig, da eine Vorstellung von Kultur als nationale Kategorie und eine Kulturalisierung des Themas Ernährung im Kontext von Migration vorherrscht. Die klischeehafte Reduzierungen von Migrant*innen auf 'Kultur' und Folklore ihrer jeweiligen Herkunftsländer ist jedoch Teil eines Prozesses des Otherings [2], der Migrant*innen in Österreich immer wieder zu 'exotischen anderen' macht. Der Verein maiz beansprucht mit dem Kochlabor im Rahmen des Projekts "Das Leben hat Gewicht!", eine Auseinandersetzung mit Ernährung im Kontext von Migration zu führen, die nicht in kulturalisierende Klischees verfällt.
Das Konzept des Kochlabors wurde gemeinsam mit Yolanda Delgado Malarín entwickelt, die als Sozialpädagogin über langjährige Erfahrung in der Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen verfügt und aktuell in einer Wohngruppe für junge Menschen mit Essstörungen arbeitet, wo sie diese beim Kochen unterstützt. Mit ihr sprachen wir über die Zusammenhänge von Kochen und Essen mit den zentralen Themen des Projekts: Migration, Prävention und Kunst.

maiz:In deiner täglichen Arbeit mit Jugendlichen geht es um Kochen und Ernährung. Was ist dir bei deiner Arbeit besonders wichtig?

Yolanda Delgado Malarín: Wichtig ist der Kontakt mit den Lebensmitteln. Es ist wichtig zu wissen, was wir essen, woher diese Lebensmittel kommen und was wir mit ihnen machen. Eine große Rolle im Zusammenhang mit präventiven Maßnahmen spielt die Beziehung der Jugendlichen zur Welt der Ernährung, der mit ihr verbundene exzessive Konsum sowie das von dieser Gesellschaft gesetzte Vorbild. Damit meine ich Stereotype, nach denen wir uns richten, indem wir uns vorgeben lassen, was wir kaufen, wie wir uns verhalten und auf welche Weise wir uns ernähren. Ich sehe auch an meinem eigenen Sohn, der Teenager ist, welcher Art die Beziehung ist, die zum Essen aufgebaut wird. Sie lässt sich daran ablesen, dass es an erster Stelle mal schnell gehen soll. Ich greife zu dem, was ich fertig serviert bekomme, was ich kaufen, einpacken oder gleich auf der Straße verschlingen kann. Nur geht dabei der Sinn verloren. Der Sinn sowohl für das, was wir unter Essen verstehen, als auch für den sozialen Aspekt, der dabei unterstützen kann, eine Mahlzeit in Ruhe und stressfrei zu genießen. Aber wenn alles einfach nur schnell gehen soll, wird weder das Zusammensein noch der Geschmack wirklich wahrgenommen und genossen. Beim gemeinsamen Kochen mit den Jugendlichen zeigt sich dagegen meist, dass sie Freude daran haben und es eine Tätigkeit ist, die durchaus ihre Aufmerksamkeit weckt. Es geht noch nicht einmal nur um das Kochen selbst, sondern allgemeiner um alles rund um das Thema Küche. Dazu gehört das gemeinsame Zubereiten genauso wie der Moment, dich an den Tisch zu setzen und etwas vor dir zu haben, das du zusammen mit anderen gemacht hast. Dazu zählen Entspannung, Unterhaltungen und all die Geschichten, die rund um die Küche gesponnen werden, um bei dieser Gelegenheit Erfahrungen auszutauschen und Beziehungen aufzubauen.

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"Die Küche ist ein Laboratorium, ein Zufluchtsort, ein Ort des Schaffens."

Als Sozialpädagogin, die selbst Migrantin ist und mit migrantischen Jugendlichen arbeitet - welche Bedeutung hat deiner Meinung nach das Kochen und Essen im Leben von Migrant*innen?

Ich glaube, es ist sehr wichtig. Der Migrationsprozess und die mit ihm verbundenen Schwierigkeiten markieren dein Leben und wirken sich auch auf deine Gewohnheiten aus. Viele Kleinigkeiten machst du heute in einem anderen Land anders als früher. Angefangen von Lebensmitteln, die du nicht kennst, bis zu komplett anderen Lebensweisen. Das bedeutet für mich einen Neuanfang. Ich fange aber nicht von null an, sondern an einem anderen Ort, an dem ich andere Arten zu kochen kennenlerne. Ich habe schon migrantische Jugendliche gehört, die sagen "Das-und-das kocht man hier nicht!", "Das-und-das isst man hier nicht!", aber es ist wichtig, Normen in Frage zu stellen und zu überlegen, was uns selbst wichtig ist und schmeckt. Natürlich können wir neue Lebensmittel in die eigenen Kochgewohnheiten einbeziehen und die örtliche Küche mit den uns bekannten, vielleicht weniger üblichen Zutaten erweitern.

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"Der Tisch ist der Raum der Zusammenkunft, wo die Kombination aus Genuss und Gemeinschaft macht, dass die einfache Tätigkeit des Essens eine Feier wird."

Resilienz ist eines der Konzepte, an denen du dich in der Arbeit mit den Jugendlichen orientierst. Wie entwickelt man Resilienz über das Essen?

Resilienz ist ein Thema, das mich schon immer fasziniert hat. Es ist ein relativ neues Paradigma innerhalb der Pädagogik. Die Orientierung an Resilienz ermöglicht es, innerhalb des Kochens bestimmte Zugänge und Arbeitsweisen einzuführen. Zum Beispiel ist ein wichtiger Aspekt der Resilienz die Kreativität. Das Kochen ist durch die Farbfülle und die Möglichkeit des Probierens und Experimentierens an sich schon kreativ. Mit diesem Hintergrund zu arbeiten macht Kochen zu einer Erfahrung, die die Resilienz fördern kann. Ein anderer wichtiger Aspekt ist das Selbstwertgefühl. Etwas, das mir im Projekt "Das Leben hat Gewicht!" sehr gut gefallen hat, war der Moment, sich gemeinsam an den Tisch zu setzen und zu sehen, was wir alle gemeinsam gemacht haben. Da entstand dieses "Mmmmmh!". Was ebenfalls die Resilienz stärkt, ist der Perspektivwechsel. Du stellst fest, dass du die Dinge tatsächlich anders machen kannst, als man sie für dich geplant hat. Warum nicht riskieren, die Dinge auf andere Weise zu machen? Warum nicht einen anderen Blick wagen? Und so haben wir auch im Kochlabor viel Neues und für einige vielleicht Unkonventionelles ausprobiert, denn das Kochen und Essen ist auch mit vielen Regeln und Normen belegt, seien es Geschlechterrollen, Benimmregeln oder Essensvorschriften.

Im Projekt "Das Leben hat Gewicht!" geht es auch um künstlerische Strategien und Prävention. Wie wurden diese Aspekte im Kochlabor verwirklicht?

Prävention beginnt bereits mit dem Gründen einer Gruppe bestehend aus Teilnehmer*innen verschiedener Herkünfte und unterschiedlicher Lebenswege. Das Kochlabor bietet einen Weg der Gruppenbildung, des Kennlernens der anderen. Dieser soziale Aspekt in Verbindung mit dem Essen bedeutet Prävention. Darüber hinaus ging es im Kochlabor um das Selbermachen und es wurden immer entsprechende Rezepte ausgewählt. Auf diese Weise lässt sich ein wenig das Schema des Konsums durchbrechen. Auch Kritik ist Teil der Prävention. Und Genuss. Für mich ist wichtig, dass die Jugendlichen Genuss und Wohlbefinden erfahren, dass sie genießen, was sie tun und ohne Eile sein können. Stress ist sehr präsent in dieser Gesellschaft und man sollte sich davon nicht einnehmen lassen, sondern die Ruhe genießen lernen.
Zur Kunst: Ich glaube, Kochen an sich ist Kunst. Kunst ist Experimentieren, ist Farbe, Geschmäcker probieren, der Kontakt mit Gerüchen und Beschaffenheiten. Da haben die Jugendlichen tolle Erfahrungen gemacht. Darunter so einfache wie die erste Berührung mit Mehl beim Pizzateig Kneten: "Wow! Wie sich das anfühlt!" In einer anderen Aktivität betrachteten wir die Darstellung von Lebensmitteln auf Bildern von Künstler*innen wie beispielsweise Frida Kahlo. Das Essen ist in der Kunst sehr präsent und dies haben wir als Inspiration genutzt, sich selbst beim Kochen als Künstler*innen zu sehen.

Der Verein maiz steht für Empörung, Utopie und Widerstand. Was bedeutet dies im Kontext von Ernährung?

Dass alle Menschen Zugang zu Nahrung, zu gesunder, ökologischer Ernährung haben und die Möglichkeit haben, ihre Nahrungsmittel selbst auszuwählen, das ist für mich eine wünschenswerte Utopie. Widerstand zu leisten heißt zu sagen, wir schlucken nicht alles, was uns vorgesetzt wird, und dann, soweit es geht, auch die Initiative zu ergreifen und einen selbstbestimmten Umgang mit Ernährung zu entwickeln.

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"Das Kochlabor ist auch ein Labor des Lebens. Das Leben schmeckt manchmal bitter, manchmal süß, oder sauer. Es hat Gewicht."




Interview: maiz




Fußnoten

[1] Ein Projekt der Primärprävention von Essstörungen des Vereins maiz - Autonomes Zentrum von und für Migrantinnen (Laufzeit: Mai 2015 bis Mai 2017). Siehe den Beitrag "'Das Leben hat Gewicht!' - ein Projekt der Primärprävention von Essstörungen im Kontext von Migration".

[2] Der Begriff des Othering geht auf den postkolonialen Theoretiker Edward Said und sein Werk "Orientalismus" (1978) zurück und bezeichnet einen machtvollen diskursiven Prozess, bei dem das 'Eigene' durch Abgrenzung vom 'Anderen/Fremden' erschaffen wird.

Yolanda Delgado Malarín ist Sozialpädagogin. Sie hat jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit (jungen) Migrant*innen und arbeitet gerne mit den Mitteln des Kochens und Essens. Inzwischen ist sie selbst Migrantin und lebt mit ihrem Sohn in Linz.