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(Un-)Wissen. Verlernen als komplexer Lernprozess

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von María do Mar Castro Varela

Es ist schon einige Zeit her, dass die postkoloniale Theoretikerin und Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak im Rahmen ihrer Auseinandersetzungen um epistemische Gewalt von der Notwendigkeit eines Verlernens gesprochen hat. Im Vorwort zum Spivak Reader (1996: 4) wird sie mit dem nunmehr berühmten Satz zitiert: "unlearning one's privilege as one's loss" (das Verlernen von Privilegien, die wir als Verlust sehen sollten).

In dieser knappen Aussage verbirgt sich geradezu die Essenz von der Idee des Verlernens. Es geht nicht darum, sich der Privilegien, die wir qua Geburt haben oder uns etwa per Klassenmobilität erarbeitet haben, zu schämen - viel eher sollten wir Privilegien als Verlust erleben. Verlernen bedeutet in diesem Zusammenhang, sich uns als historisch gewordene Subjekte vorzustellen, die Teil gesellschaftlicher Verhältnisse sind und in diesen distinkte Positionen einnehmen. Subjekte entstehen in sozialen Prozessen der Adressierung aber auch Marginalisierung , und jede Position geht mit einer spezifischen, immer auch eingeschränkten Handlungsmacht einher (vgl. Castro Varela/Heinemann 2017).

Spivak versteht das Verlernen dabei innerhalb einer dekonstruktiven Perspektive, die uns dazu nötigt, die Gewalt von Lernprozessen zu erkennen, aber auch die Unmöglichkeit des Verlernens anzuerkennen. Das Konzept des Verlernens lenkt unsere Aufmerksamkeit gewissermaßen auf die Komplexität von Lernprozessen, aber auch die Verquickung von Lernen und Bildung mit Macht und Herrschaft. Sie stellt klar, dass die Subjekte, die am Ende von Bildungsprozessen entstehen, nicht einfach klüger sind, sondern in einer sehr klaren Art geformt worden sind. Es ist wichtig, die Handlungsmacht, die Bildungsprozesse einen eröffnen, dafür zu nutzen, gegen die eigene Subjektwerdung zu rebellieren. Dies ist nicht nur individuell zu denken, sondern auch in Bezug auf Kollektivierungsprozesse zu reflektieren. Was bedeutet es, einer nationalstaatlichen Gemeinschaft anzugehören? Welche Privilegien gehen damit einher? Und wie kann ich mich in einer nicht banalen Art davon distanzieren?

Es war der Philosoph Vilém Flusser (2000), der davon gesprochen hat, dass den Migrant_innen die Aufgabe zukomme, die Beheimateten von ihrer Heimat zu befreien. Das Privileg der Beheimatung ist nur ein vermeintliches, welches unter anderem darauf beruht, anderen das Beheimatetsein abzusprechen. Jede Gemeinschaft grenzt in mehr oder weniger gewaltsamer Form andere aus. Die anderen bilden dabei das konstitutive Außen, die das Wir erst schaffen. Klassische Beispiele sind neben den Staatsbürger_innen die Zugehörigen zu einer imaginierten Kultur, aber auch beispielsweise Religionsgemeinschaft. Rasch lernen wir, wer zu unserem Wir dazugehört und wem wir diese Zugehörigkeit wenn nicht absprechen, so doch nicht ungefragt zugestehen. Die Folge sind dann gewaltsame Herkunftsdialoge, bei denen Menschen, die in Europa leben und nicht weiß sind, permanent darüber Auskunft geben müssen, wo sie denn her seien. Dieses in bestimmten Kontexten schon etwas abgedroschene Beispiel wird nicht nur deswegen immer wieder erwähnt, weil diejenigen, die diese Dialoge immer wieder führen müssen, darunter leiden, aber auch, weil es scheinbar der Mehrheit so schwer fällt, von diesen zu lassen. Es geht dabei nicht darum, die Neugier zu bändigen, sondern viel eher das, was gelernt wurde, zu verlernen. Gemeinschaften sind immer imaginierte Gemeinschaften, seien sie national oder kulturell konfiguriert, ihre Grenzen werden gerade deswegen gnadenlos bewacht, weil sie artifiziell und eben nicht natürlich sind. Wer gehört dazu? Wer nicht? Wer definiert dies? Anders gewendet: Wie wird Zugehörigkeit reguliert? An diesen Beispielen können wir erahnen, dass Verlernen kein einfacher Akt des Vergessens ist. Verlernen erfordert ein aktives, kritisches Denken und Handeln, welches bereit dazu ist, das Risiko einzugehen, die eigene Position zu hinterfragen.

Bildung und Gewalt

Lernen ist nicht als ein simpler, linearer Prozess zu verstehen. Es geht nicht darum, in banaler Weise Wissen zu akkumulieren. Bildung ist im Gegenteil immer gebunden an Prozesse der Subjektherstellung.

Schulen dienen, dem französischen Philosophen Louis Althusser zufolge, der Qualifikation der Arbeitskräfte, die entsprechend des gesellschaftlichen Bedarfs hergestellt werden. Ergänzen müssten wir hier, dass auch das Wissen bereitgestellt wird, welches die Vormachtstellung einer gesellschaftlichen Gruppe vis-à-vis einer anderen herstellt bzw. stabilisiert. In der Schule lernen wir nicht nur zu lesen und zu schreiben, sondern werden auch daran gewöhnt, den vorgesehenen Platz innerhalb der Gesellschaft als den wahren und mithin allein richtigen Platz wahrzunehmen und schließlich auch einzunehmen. Für einige bedeutet dies, die Unterwerfung zu akzeptieren und soziale Ungleichheit als natürlich gegeben zu akzeptieren. Schule erscheint wie eine feudale Enklave innerhalb eines demokratischen Systems, welches beständig verspricht, dass alle dieselben Chancen haben. Wir lernen aber auch, Rassismus als selbstverständlich und wenig irritiert hinzunehmen. Wenn wir weiß sind, lernen wir, das Weißsein als eine solche Selbstverständlichkeit zu akzeptieren, dass wir nicht einmal bemerken können, dass es in einer rassistischen Gesellschaft ein unglaubliches Privileg ist, weiß zu sein. Die Position schützt vor so vielen schmerzhaften Erfahrungen: ausgegrenzt zu werden; unhöflich befragt und ausgefragt zu werden; Angst zu haben in Räumen, die andere als neutral beschreiben würden; beschämt und verlacht zu werden; nicht bedient zu werden ... Als weiße Person gehören diese Erfahrungen nicht zum Alltagserleben. Und so erscheint Weißsein als eine transparente Erfahrung. Sie wird nicht spürbar. Erst wenn die eigene Erfahrung verglichen mit der Alltagserfahrungen Schwarzer Menschen und People of Color gestellt wird, wird klar, dass Weißsein nicht die normale Position ist, sondern eben die privilegierte. Rassistisches Wissen wird gelernt. Und so werden nicht nur unterworfene Subjekte, sondern wird auch ein imperialistisches Subjekt hergestellt. Letzterem erscheint der Alltag nicht nur nicht als privilegiert, es hat auch gelernt, sich rassistisch abzugrenzen, ohne dies als gewaltvolle Praxis zu lesen.

Regeln brechen. Dekonstruktion lernen

Deconstruction does not say there is no subject, there is no truth, there is no history. It simply questions the privileging of identity so that someone is believed to have the truth. It is not the exposure of error. It is constantly and persistently looking into how truths are produced." (Spivak 1996: 27)

Deswegen ist die Praxis des Verlernens aufs Engste mit der Praxis des Regelbrechens verwoben. Die Regeln einhalten bedeutet, die hierarchischen gesellschaftlichen Verhältnisse unumwunden zu akzeptieren. Ausnahmen sind zur Stabilisierung der Hegemonie selbstredend immer erforderlich, weswegen die horizontale und vertikale Mobilität einiger weniger durchaus erwünscht ist. Was dagegen verhindert wird, ist eine tatsächliche Chancengleichheit. Pädagogische Interventionen sind machtvoll und durchdrungen von gewalttätigen Momenten. So impliziert die gut gemeinte pädagogische Erklärung immer eine explizite "Platzzuweisung". Die freundliche pädagogische Erläuterung erweitert nicht nur den Stand des Wissens, sondern weist den Lernenden jene Position zu, in der sie sich in Zukunft denken sollen. Pädagogische Institutionen greifen dabei auch in die Herstellung des Utopischen ein. So müssen wir uns etwa fragen: Welche Wege werden durch Pädagogik für wen versperrt? Wem wird welche Zukunft zugestanden? Wird die Produktion denkender Subjekte angestrebt, die in soziale Prozesse politisch eingreifen können? Oder geht es nur darum, dem Arbeitsmarkt entsprechend qualifizierte Subjekte auszuspucken? Pädagogik kann sowohl ein Instrument der Hegemoniesicherung als auch eine Waffe der Gegenhegemonie sein. Das aber nur, wenn Bildung als sozialer Transformationsmotor und nicht nur als Assimilisierungsmaschine gesehen wird. Nicht allen stehen, wie wir wissen, dieselben Möglichkeiten zur Erlangung von Bildung offen. Auch die Qualität der Bildung variiert erheblich je nach sozialer Herkunft. Während den einen bilinguale, private und/oder freie Schulen zur Verfügung stehen, müssen sich Kinder und Jugendliche aus proletarisch-migrantischen Familien mit den schlechtesten der schlechten Schulen arrangieren. Das übersetzt sich in überfüllte Klassen, mangelnde Ressourcen und überforderte Lehrer_innen. Unter den Schüler_innen gehören diskriminierendes und verletzendes Verhalten zum Alltag und Mobbing nicht selten zur beliebtesten Durchsetzungsstrategie. Um einen günstigen Platz in der Rangordnung innerhalb marginalisierter Räume wird hart und unfair gekämpft. Eine intellektuelle Entwicklung ist in diesen Räumen nur für diejenigen möglich, die außerhalb der Schule Inspiration und Unterstützung erhalten oder deren Resilienz ungewöhnlich stark ist. Das Versagen in der Schule ist für proletarisch-migrantische Schüler_innen eher der Normalfall und Erfolg entsprechend die gefeierte Ausnahme.

Die Geschichte der Pädagogik, ihre Praxen, ihre dominanten Paradigmen und Institutionen gewähren uns einen Einblick in Erziehung als soziale Technik und Bildung als politische Strategie. Postkoloniale Theorie interessiert sich dabei insbesondere für die epistemische Gewalt, die die imperialen Projekte begleiteten - was Gayatri Chakravorty Spivak einmal provokativ als "mindfucking" charakterisiert hat. Dies impliziert die Disqualifizierung, die Auslöschung vor-kolonialen Wissens wie auch die Setzung von unerschütterlichen Wahrheiten, die die (post-)koloniale Macht und Herrschaft stabilisierten. So verschwanden im Laufe kolonialer Herrschaft Sprachen, Theorien und Praxen, die in den kolonisierten Territorien über Jahrhunderte gesprochen, vertreten und praktiziert wurden. Texte wurden verbrannt, die orale Weitergabe von Theorien und Mythologien unterbrochen, Sprachen als barbarisch beschrieben und etablierte soziale Praxen als unzivilisiert gebrandmarkt. So wurde schrittweise über Jahrhunderte hinweg eine eurozentrische Sichtweise etabliert.

Jahrhundertelanges Wirken epistemischer Gewalt macht es notwendig, dass diejenigen von uns, die in besonderer Weise von etwa rassistischen Verhältnissen privilegiert werden, Wut entwickeln, die sie dazu einsetzen, präzise und mithilfe auch abstrakten Denkens die eigene Position in Frage zu stellen und die Praxen der Ausgrenzungen offenzulegen und zu skandalisieren: Nationalismus, Naturalisierung von Grenzen, Produktion von Nicht-Bürger_innen ebenso wie gewaltvolle Übergriffe auf die körperliche und seelische Versehrtheit derjenigen, die immer noch als die anderen markiert werden. Verlernen ist hier keine Geste, sondern anstrengende Lern-Praxis-Erfahrung. Das ist es, was wir von Spivak lernen können, wenn sie davon spricht, dass es nötig ist, Privilegien als Verlust zu verstehen. Dies erfordert für alle eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien. Das kann sein die Situiertheit im Globalen Norden, die ökonomische Sicherheit, die Möglichkeit, Bildung zu erwerben, staatsbürgerliche Rechte, Cis-Geschlechtlichkeit ... und selbstredend ist die Auflistung nie erschöpfend. Spivak folgend macht es nicht wirklich viel Sinn, den Fokus politischer Theorie und Praxis nur auf die eigene Marginalisierung zu legen. Eine solche Praxis ist in ihrem Sinne nur dann produktiv, wenn gleichzeitig die Privilegiertheit der sozialen Situation erkannt wird und um Kollektivbildung und auch Allianzen gerungen wird. Verlernen ist eine dekonstruktive Praxis und bedeutet eben "konstant und persistent zu analysieren, wie Wahrheiten hergestellt werden" (Spivak 1996: 27) über die Gesellschaft, die Nation, über die anderen und über uns ... ganz gleich, wer WIR sind!




Literatur


Castro Varela, María do Mar/ Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 2. vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage. Bielefeld: transcript.
Castro Varela, María do Mar/ Heinemann, Alisha M. B. (2017): Ambivalente Erbschaften. Verlernen erlernen! In: trafo.K. (Hg.): Strategien für Zwischenräume. Ver_Lernen in der Migrationsgesellschaft. Zwischenräume #10. Online: http://trafo-k.at/schriftenreihe/
Flusser, Vilém (2000): Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Bodenheim: Philo Verlag.
Spivak, Gayatri Chakravorty (1996): The Spivak Reader. Hg. von Donna Landry u. Gerald Maclean. New York/London: Routledge.
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María do Mar Castro Varela María do Mar Castro Varela ist Professorin an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Postkoloniale Theorie, Gender und Queer Studies und Kritische Migrationsforschung.