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Über die Fähigkeit zu fliegen 25 Jahre maiz - Im ständigen Prozess des Werdens

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von Luzenir Caixeta
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Fotocredit: Anahita Asadifar, WIENWOCHE 2019
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Vor 25 Jahren wurde maiz als Selbstorganisation von und für Migrantinnen* ins Leben gerufen. „Wir begannen mit unserer Arbeit nicht zufällig in einer Zeit, die zum einen durch die Expansion neoliberaler Politiken charakterisiert war - befeuert durch das von Francis Fukuyama proklamierte "‘Ende der Geschichte‘ nach dem Zerfall der sozialistischen Staaten -, und die zum anderen politische Widerstandsbewegungen wie den zapatistischen Aufstand im mexikanischen Chiapas hervorbrachte.“ (aus dem for Papers maiz 20 Jahre 2014)

Was ist seither auf der Welt passiert?

25 Jahre später breitet sich ein Rechtsruck auf der Welt aus. Diese wachsenden rechtspopulistischen Bewegungen führen zu einer Normverschiebung in europäischen und weltweiten Gesellschaften, und erzeugen Spannungen, die sich in Polarisierung widerspiegeln. Die schwarze Soziologin Patricia Hill Collins analysiert den Aufstieg des Rechtspopulismus im 21. Jahrhundert anhand von Figuren wie Trump und Bolsonaro. Für sie ist es wichtig, dieses Phänomen innerhalb eines breiteren historischen Rahmens für demokratische Auseinandersetzungen zu analysieren und zu verstehen. Dies tut sie, indem sie Parallelen mit der Erfahrung des Faschismus in den 1930er Jahren zieht, die daraus gezogenen Lehren beleuchtet und darauf aufbauend die Gegenwart als eine „Time of Opportunity“ deutet(Collins 2019).

Rechtspopulistische Bewegungen feiern – insbesondere gestützt auf ihre Anti-Migrations- und Anti-Islam-Haltung, nicht nur in Europa – teils erhebliche Wahlerfolge und sind so in den Fokus einer aufgeschreckten Öffentlichkeit und gewisser politischer Narrative geraten.

Und wie von Naika Foroutan in ihrem neu veröffentlichten Buch „Die postmigrantische Gesellschaft“ beschrieben: „Es geht heutzutage weniger um Migration selbst als um die Prozesse, die stattfinden, wenn Migrant*innen und ihre Nachkommen ihre Rechte einfordern. Die Frage des Umgangs mit Migration wird so zur Chiffre für Anerkennung von Gleichheit in demokratischen Gesellschaften“ (Foroutan 2019).

Die Lage ist ernst, sehr ernst. Und wir wollen uns nicht den Fatalist*innen und systemkonformen Pessimisten anschließen, die meinen, so wie der Jargon in Brasilien: „Se correr o bicho pega, se ficar o bicho come!“ ( „Wenn du rennst, fängt dich das Tier, wenn du still stehst, frisst dich das Tier!“) Nein, wir wollen fliegen!!! Mit den Füßen gut auf dem Boden gepflanzt und trotzdem fliegen.

Der notwendige Bruch mit der gegenwärtigen neoliberalen und rechtspopulistischen Hegemonie erfordert zwangsläufig die Vorstellung, die Fantasie, die utopische Imagination einer anderen Zukunft. Wenn wir eine andere Zukunft wollen, müssen wir uns das vorstellen bzw. imaginieren können – das ist eben unsere fliegende Fähigkeit!

Die Aufgabe, sich eine andere Zukunft vorzustellen, darf die Vergangenheit nicht beiseite lassen. Es braucht eine kritische Erinnerungspolitik. Einerseits darf die koloniale Geschichte und ihre – noch immer – herrschende und internalisierte Logik, vor allem bezogen auf Wissensproduktion, nicht vergessen werden. Andererseits – und das ist extrem wichtig! – muss viel Raum für die verschiedenen Widerstandspraktiken, die es im Laufe der Geschichte immer gegeben hat, zur Verfügung gestellt werden. Diese Widerstandspraktiken, getragen durch Erzählungen, Bilder, Inszenierungen, Musik, Texte und ähnliches müssen, im Sinne der Vorstellung einer anderen Zukunft, sichtbar gemacht und diskutiert werden.

Denn ohne Widerstandserinnerung und utopische Imagination kann die Realität nicht transformiert werden! Nein, ohne utopische Imagination kann die Welt nicht verändert werden! In Anlehnung an Du Bois, nach Maria do Mar Castro Varela, "bekräftigen wir, dass „wir kein technokratisches Wissen brauchen. Was wir brauchen sind Menschen, die in der Lage sind, ihre Imagination zu erweitern, ihre Fantasie, wie die Welt anders sein könnte.“(Castro Varela 2017)

Um Utopien und Auseinandersetzungen mit der epistemischen Dimension unserer Praxis mehr Raum zu geben, hat sich maiz vor fünf Jahren entschieden, eine Universität zu gründen: die Universität der Ignorant_innen. Der Ausgangspunkt unserer Universität ist die Erkenntnis, dass alle ignorant sind, solange über Wissensbestände verfügt wird und Wissen weiterhin hergestellt wird, ohne die Machtdimension von Wissen und die gewaltvollen Prozesse der Legitimierung und Delegitimierung von Wissen kritisch zu reflektieren und ohne die daraus resultierenden Konsequenzen für die Praxis umzusetzen. Unsere Utopie ist die gemeinsame Produktion von gegen-hegemonialem Wissen. Wir wollen durch die Arbeit in und an der Universität unser Tun in die Tradition anderer Kämpfe stärker einschreiben, welche die Distanz zwischen intellektueller Arbeit und politischem Aktivismus, Theorie und Praxis zu verringern und Wissen zu produzieren versuchen, "um die Welt zu verändern!" (Zapatistas).

maiz existiert, widersteht und „fliegt“ seit 25 Jahren. Fliegt und begehrt anderen mitzufliegen in den Versuch – auch wenn mit Widersprüchen – „die Welt zu verändern“! Seit 2015 ist maiz gewachsen und jetzt sind wir maiz und das kollektiv. „Austria, we love you! Wir werden dich nie verlassen!“ sagten wir damals, sagen wir heute. Nach alle diesen Jahren fragen wir uns inwieweit wir es geschafft haben, reflexive und intervenierende Impulse für gerechtere Verhältnisse zu geben? Inwieweit konnten wir unsere (selbst)reflexive rassismuskritische Perspektive in der Praxis im Bereich der Kultur-, Bildungs- sowie Sozialarbeit umsetzen? Welche Widerstandspraktiken gingen hieraus hervor? Was müssen wir weiterlernen? Und was verlernen? Welche blinden Flecken sollen wir erkennen und entfernen? Welche Wahrheiten dekonstruieren? Wie könnten wir unsere Flügel so einstellen, dass wir noch höher, noch weiter fliegen könnten?

Um uns und unser Umfeld mit diesen und anderen Fragen zu konfrontieren, haben wir unzählige Initiativen schon ergriffen. Eine der letzten war die Veröffentlichung des Buches „Pädagogik im globalen postkolonialen Raum. Bildungspotenziale von Dekolonisierung und Emanzipation“ Anfang 2019, zusammen mit den Kolleginnen* von das kollektiv, COMPA (aus Bolivien) und Entschieden gegen Rassismus und Diskriminierung (aus Deutschland). Es handelt sich um eine Sammlung von Beiträgen aus Bolivien, Brasilien, Deutschland und Österreich. Alle Beiträge sind begleitet von der Sorge um und vor allem Empörung über die politischen Entwicklungen weltweit, aber ganz besonders in Europa und zuletzt auch in Lateinamerika. Das Buch will zu einer rassismuskritischen, dekolonialen Gegenbewegung bzw. die Bildung von Gegennarrativen beitragen.

Wir sind davon ausgegangen, dass trotz all dem, was wir erleben, trotz des wiederholten Mantras der Alternativlosigkeit der aktuellen soziopolitisch-ökonomischen Realität, ein Wissen über die Möglichkeit der Veränderung der herrschenden gewaltvollen, mörderischen Ordnung besteht. Ein Wissen, welches vielerorts im Rahmen intervenierender und emanzipatorischer Praxen der Bildung und der Sozialarbeit weiter tradiert und hergestellt wird.

Es freut uns sehr, zwei Repräsentat*innen aus diesen Praxen in Brasilien heute hier zu haben – gerade in Zusammenhang mit dem Erbe von Paulo Freire, das immer schon so relevant war für maiz und das kollektiv, und mit dem Schwerpunkt Sexarbeit, welcher die Arbeit von maiz kennzeichnet.

Lasst uns gemeinsam hier und jetzt utopische Dialoge gestalten, proben und flugtesten: gemeinsam diskutieren, lernen und verlernen und das Utopische mit viel Imagination erneut entwerfen! Und das alles mit Freude – Freude als politische Aktion, denn Freude ist unsere Rache und das Gegengift gegen die Angst! Je mehr die Schwerkraft den Körper nach unten zieht, desto größer wird unsere Flugfähigkeit.

Quelle:

Call for Papers maiz 20 Jahre. 2014.  https://www.maiz.at/subprojekt/call-papers

Letzter Zugriff: 10. 10. 2019

Castro Valera, Maria do Mar. 2017. Redebeitrag in Experiment Bildung: Auf den Schultern von Riesen

https://www.youtube.com/watch?v=lgFwWYLMrYQ

Letzter Zugriff: 10. 10. 2019

Foroutan, Naika.  2019. Die postmigrantische Gesellschaft . Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: Transcript.

Hill Collins, Patricia. 2019. Pensamento feministi negro #2. Populismo no século XXI

https://www.youtube.com/watch?v=SHHhcQu2iWA

Letzter Zugriff: 10. 10. 2019

Luzenir Caixetaist Mitbegründerin von maiz - Autonomes Zentrum von & für Migrantinnen in Linz, wo sie für die Koordination der Beratungsstelle, Sex & Work und für den Forschungsbereich zuständig und als Beraterin tätig ist.