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Make Some Noise Against Homophobia!

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von Patrick Helber / Make Some Noise

Seit 2003 gibt es in Nordamerika und Europa immer wieder Anti-Homophobie-Kampagnen gegen Auftritte von Reggae- und Dancehall-Entertainer_innen aus Jamaika. Oft werden Konzerte aufgrund des öffentlichen Drucks von Organisationen für die Rechte von LGBTIQ abgesagt. Hauptakteurin auf internationaler Ebene war diesbezüglich lange Zeit die britische LGBTIQ-Organisation OutRage! und deren Sprecher Peter Tatchell. Sie machten gemeinsam mit der 2003 gestarteten Kampagne "Stop Murder Music" auf die anti-homosexuellen Dancehall-Lyrics sowie die gefährlichen Lebensbedingungen von Schwulen und Lesben auf der Karibikinsel aufmerksam. Die Kampagne wurde mitinitiiert von J-FLAG (Jamaica Forum for Lesbian, All-Sexuals and Gays), der einzigen jamaikanischen Organisation für die Rechte von LGBTQI. Da homophobe Einstellungen in der jamaikanischen Bevölkerung weit verbreitet sind, war der Aktionsraum von J-FLAG lange Zeit beschränkt, während OUTRAGE! im Zentrum der medialen Auseinandersetzung stand.

Die Kampagnen richten sich explizit gegen "Battyboy"-Tunes. "Battyboy" ist im jamaikanischen Patwah eine abwertende Bezeichnung für einen homosexuellen Mann. Andere gebräuchliche abwertende Ausdrücke sind "Sodomite", "Fish", "Chi Chi Man", "Maama Man" oder "Funny Man".. Sänger_innen und Deejays aus Jamaika haben insbesondere in den 1990er-Jahren und zur Jahrtausendwende zahlreiche Lyrics geschrieben und aufgeführt, die sich extrem gewalttätig gegen Homosexualität aussprechen oder die brutale Ermordung von Homosexuellen beschreiben und begrüßen. In Jamaika gibt es immer wieder tödliche Übergriffe auf Schwule und Lesben. Homosexuelle sind in der Öffentlichkeit einer permanenten Bedrohung ausgeliefert. Dieser Zustand wird laut Aussagen von J-FLAG und OUTRAGE! unter anderem durch homophobe Dancehall-Lyrics aufrechterhalten.

Leider hat in der deutschen Reggae- und Dancehall-Szene lange Zeit kaum eine kritische Auseinandersetzung mit homophoben Textinhalten stattgefunden. In der andauernden öffentlichen Diskussion stehen sich Befürworter_innen und Gegner_innen der Musik oft mit ähnlichen Argumentationsweisen gegenüber. Viele weiße Fans und Soundsystembetreiber_innen halten anti-homosexuelle Inhalte für einen Teil der jamaikanischen Kultur und damit für unveränderlich und gerechtfertigt. LGBTIQ-Verbände wiederum stigmatisieren Jamaika oft als "den homophobsten Ort der Welt" und rufen, ohne sich mit der öffentlichen Debatte auf der Insel zu beschäftigen, zur Rettung der scheinbar wehrlosen jamaikanischen Trans- und Homosexuellen auf.

Britisches Kolonialerbe

Homophobie in Jamaika hat eine lange historische Tradition. Eine zentrale Rolle spielen dabei der europäische Kolonialismus und die Plantagensklaverei. Jamaika war mehrere Jahrhunderte britische Kolonie, in der schwarze Sklav_innen unter unmenschlichen Bedingungen dazu gezwungen wurden, Reichtum für das britische Empire zu erwirtschaften. Das Gesetz gegen Analverkehr ("Buggery Act"), das heute in Jamaika den juristischen Boden für die gesellschaftliche Ausgrenzung, insbesondere von männlichen Homosexuellen, schafft, wurde bereits von den britischen Kolonialist_innen verabschiedet. Als Jamaika 1962 unabhängig wurde, blieb es, wie viele andere Erben des Kolonialismus, erhalten.

Reggae und Dancehall sind Musikstile der marginalisierten schwarzen Bevölkerung Jamaikas. Die jamaikanische Gesellschaft ist bis heute durch eine rassistische Hierarchie geprägt, in der schwarze Menschen an unterster Stelle stehen. Über soziale Mobilität und Chancen entscheidet oft die rassistische Konstruktion der "Hautfarbe". Reggae und Dancehall waren von Beginn an ein Medium, um sich gegen unterschiedliche Formen der Diskriminierung zu wehren: Botschaften der Reggae-Musik drehen sich primär um eine Aufwertung des Schwarzseins, von Afrika und dessen Bewohner_innen. Nicht zuletzt schuf Reggae die Basis für eine schwarze politische Identität, die die nationalstaatlichen Grenzen in der schwarzen Diaspora überschreitet. Symbolisiert wurde diese Ermächtigung in der Figur des "Rudeboys". Dessen rebellisches und draufgängerisches Verhalten gegen koloniale Autoritäten, wie Polizei und jamaikanische Elite, prägt bis heute die Vorstellungen von Männlichkeit in der jamaikanischen Populärmusik.

Relationale Männlichkeitsbilder

In der Dancehall-Musik verschiebt sich der Fokus auf Themen wie Ghetto, Armut, Gewalt, Drogen und explizite Sexualität. Insbesondere letztere verstößt gegen die von der jamaikanischen Elite eingeforderten Moralvorstellungen. Performances von weiblichen Dancehall-Künstler_innen verschaffen laut der jamaikanischen Literaturwissenschaftlerin Carolyn Cooper schwarzen Frauen, die in der rassistischen Hierarchie des Kolonialismus an unterster Stelle standen, eine eigenständige Ausdrucksmöglichkeit.

Aus der im Ska und Reggae gefeierten "Rudeboy"-Figur wurde in der Dancehall-Musik ein "Badman", ein Gangster oder ein "Shotta". Sänger_innen und Deejays, die dieses Rollenmodell verkörpern, werden häufig zu Unrecht als lediglich Gewalt verherrlichend und sexistisch bezeichnet. Ihre Performances und Texte sind immer auch Ausdruck von Widerstand gegen koloniale und neo-koloniale Vorstellungen. Ferner repräsentieren sie Menschen aus den unteren Gesellschaftsschichten, die ansonsten in der jamaikanischen Gesellschaft wenig Gehör finden.

Was den "Badman" und dessen Männlichkeit in der Dancehall außer seiner Devianz von (neo-)kolonialen Normen auszeichnet, ist, laut der jamaikanischen Kulturwissenschaftlerin Donna P. Hope, die Glorifizierung von Gewalt, ein polygamer heterosexueller Lebensstil sowie die radikale Ablehnung von insbesondere männlicher Homosexualität. Der Homosexuelle wird als Gegenbild zum stets heterosexuellen "Badman" entworfen. Dancehall-Künstler_innen benötigen quasi den "Battyman", um durch seine Existenz die heterosexuelle Männlichkeit zu festigen. Ein Schwuler verkörpert in ihren Augen einen verweiblichten und damit machtlosen Mann. Diese Ansicht macht deutlich, inwiefern Homophobie und abwertendes Denken gegenüber Frauen miteinander verknüpft sind.

Homophobie in der deutschen Dancehall

Als Reggae- und Dancehall-Musik nach Deutschland kamen, wurden sie zuerst von jugendlichen Subkulturen als Widerstands-Soundtrack verwendet. Es wurde außer Acht gelassen, dass die Inhalte aus einem spezifischen Kontext stammten, der geprägt war vom Widerstand gegen kolonialen Rassismus. Begrifflichkeiten wie "Rebel Music" oder "Babylon" wurden oft unkritisch in die sozialen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik übertragen. Überbleibsel aus diesem Denken sind bis heute vorhanden – sie finden sich zum Beispiel in der Adaption von "Rudeboy"-Einstellungen unter Punks, der Instrumentalisierung von Bob Marley als Marihuana rauchenden Hippie oder bei der hedonistischen Aneignung von Gangstertum und "Badboy"-Gebärden. Zu letzterem gehören die unkritische Reproduktion homophober Lyrics und deren Abfeiern bei vielen deutschen Soundsystems, Künstler_innen und Dancehall-Besucher_innen, leider bis zum heutigen Tag.

Reggae und Dancehall in Deutschland besitzen sowohl die Fähigkeit zum Party-Soundtrack als auch zum Transport von emanzipatorischen politischen Inhalten. Wichtig ist aber dabei, dass Ausdrücke und Gesten, die aus einem anti-kolonialen Kontext stammen, nicht unüberlegt angeeignet oder inhaltlich entleert werden. Deshalb sollten Reggae- und Dancehall- sowie auch HipHop-Hörer_innen stets respektieren, dass die Musikgenres immer auch Ausdruck schwarzer Populärkultur sind und sich gegen weiße Dominanzvorstellungen und Rassismus richten.

Veränderungen in Jamaika und Deutschland

(Nicht nur) Die internationale Diskussion um homophobe Lyrics hat innerhalb der jamaikanischen Gesellschaft zu einer großen Auseinandersetzung mit Homosexualität und Homophobie geführt. Auch wenn die Mehrheit der Jamaikaner_innen Homosexualität weiterhin ablehnend gegenübersteht, hat in den letzten zehn Jahren ein Wandlungsprozess begonnen. Gruppen wie J-FLAG können heute offener arbeiten und auf das politische Geschehen der Insel einwirken. Stimmen, die sich gegen die Illegalität von Homosexualität wenden, werden lauter, und im Wahlkampf 2011 äußerte die aktuelle Premierministerin Portia Simpson-Miller den Vorsatz, das Gesetz gegen Analverkehr überdenken zu wollen. Bis zur Veröffentlichung dieses Artikels gab es aber keinen Versuch der jamaikanischen Regierung, das international viel beachtete Wahlversprechen in die Tat umzusetzen.

Auch in der Populärkultur haben zahlreiche Veränderungen eingesetzt. Beispielsweise hat die Sängerin Tanya Stephens Homophobie und Rassismus in ihren Performances und Liedern immer wieder kritisiert. In der Dancehall haben metrosexuelle Kleidungsstile und Accessoires die äußerliche Erscheinung vom aggressiven, heterosexuellen Gangster oder "Badman" aufgeweicht. Seit den internationalen Protesten hat die Anzahl an gewaltverherrlichenden Liedern gegen Homosexuelle stark nachgelassen. Öffentliche "Soundclashes" – Wettkämpfe bei denen unterschiedliche Soundsystems miteinander konkurrieren – finden teilweise ohne homophobe Äußerungen statt, während weiße Soundsystem-Betreiber_innen in Deutschland und Europa insbesondere bei solchen Events auf schwulenfeindliche Lyrics und Ansprachen zurückgreifen.

Zwar wird Maskulinität hier wie dort, inner- und außerhalb der Dancehall, noch immer stark durch die Abwertung von Homosexualität definiert. Trotzdem sind Schwule und Lesben auch in Jamaika nicht nur ein wichtiger Teil der Gesellschaft, sondern auch aktive Teilnehmer_innen an der Reggae- und Dancehall-Kultur. Die Kampagne "Make Some Noise" hält es für wichtig, auch in Deutschland LGBTIQ explizit in die Dancehall-Szene einzubeziehen. Deswegen würden wir uns wünschen, dass sich Soundsystem-Betreiber_innen, Künstler_innen und Fans für eine vielfältige und diskriminierungsfreie Form von Reggae- und Dancehall stark machen: Erteilt "Battyboy"-Tunes eine Absage! Kritisiert Soundsystems, die immer noch homophobe Lyrics auf Dances oder im Radio spielen! Setzt euch ein für eine Reggae- und Dancehall-Szene, in der Menschen frei von rassistischer, sexistischer oder homophober Diskriminierung feiern können!

Patrick Helber / Make Some Noiseschreibt seine Dissertation zum Thema "Zwischen 'Murder Music' und ‚Gay Propaganda'. Die mediale Kontroverse über die homophoben Inhalte von Dancehall-Musik in Jamaika". Er ist Teil von Scampylama Sound und Unterstützer der Kampagne "Make Some Noise – sexism & homophobia out of my music". "Make Some Noise" wurde von Mal Élevé (von Irie Révoltés) und Freund_innen ins Leben gerufen. Ziel ist es, das Schweigen über Homophobie und Sexismus innerhalb der Reggae- und HipHop-Szene zu brechen und längerfristig einen Gegenpol dazu zu bilden. Dazu werden auf Konzerten und Festivals Infotische organisiert, Soli-Partys veranstaltet, T-Shirts gedruckt u.v.m. Der hier publizierte und leicht gekürzte Text erschien zuvor auf http://makesomenoise.blogsport.eu und ist Teil einer Broschüre der Kampagne. Vor kurzem feierte "Make Some Noise" ihren einjährigen Geburtstag.