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Im Dazwischen schreiben?

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von Meri Disoski

AusländerInnenliteratur, Literatur ausländischer AutorInnen, Literatur von außen, Literatur der Betroffenheit, Gast- bzw. GastarbeiterInnenliteratur, Migrations- bzw. MigrantInnenliteratur, Minderheitenliteratur, Emigrations- bzw. ImmigrantInnenliteratur, Literatur der Fremde, Literatur mit dem Motiv der Migration, multikulturelles Schreiben, interkulturelle bzw. transnationale Literatur, Schreiben im Dazwischen …

Eine Vielzahl an Begriffen ist in den vergangenen 30 bis 40 Jahren geprägt worden, um eine vermeintlich besondere Art der Literatur, nämlich jene von AutorInnen mit sogenanntem Migrationshintergrund [1] zu bezeichnen. Die literaturwissenschaftliche Rezeption "dieser" Literatur setzte im deutschsprachigen Raum in den 1980er Jahren ein und ist eng mit den Namen von Irmgard Ackermann und Harald Weinrich verknüpft. Auf Initiative des Zweitgenannten hin errichtete die in Stuttgart beheimatete Robert-Bosch-Stiftung den Adelbert-von-Chamisso-Preis, mit dem 1985 erstmals "deutsch schreibende Autoren [sic!] nicht deutscher Muttersprache" ausgezeichnet wurden. Seitdem verleiht eine Jury den Preis jährlich an solche AutorInnen, "deren Muttersprache und kulturelle Herkunft nicht die deutsche ist" und "die mit ihrem Werk einen wichtigen Beitrag zur deutschsprachigen Literatur leisten".

Die Namen der bisherigen PreisträgerInnen lesen sich wie ein Who is who der deutschsprachigen Literaturszene: Neben Alev Tekinay, Dimitré Dinev, Zsuzsanna Gahse und Terézia Mora zählen auch Ilma Rakusa, Yoko Tawada, Ilija Trojanow und Feridun Zaimoğlu zu den bislang Prämierten. In einer anhand mehrerer Kriterien festgelegten Reihenfolge der über 400 in Deutschland vergebenen Literaturpreise steht der Chamisso-Preis "ungefähr an 30. Stelle" [2] und ist mit seinen 15.000 Euro Preisgeld für den Haupt- und 7.000 Euro für den Förderpreis gut dotiert.

"schreiben zwischen den kulturen"

Auch in Österreich gibt es zwei Literaturpreise, die eigens für AutorInnen mit "Migrationshintergrund" ins Leben gerufen wurden. So wird mit dem von der edition exil seit 1997 jährlich vergebenem Preis "schreiben zwischen den kulturen" die Literatur von "autorInnen mit migrationshintergrund und von angehörigen ethnischer minderheiten in österreich" prämiert. Mit dem Ziel, "neue literarische talente in österreich zu entdecken und zu fördern" wurde der Preis damals ins Leben gerufen – heute, 14 Jahre später, kann festgehalten werden, dass dieses Ziel durchaus erreicht wurde. AutorInnen wie Dimitré Dinev, Anna Kim und Julya Rabinowich wurden durch den Preis entdeckt, veröffentlichten ihre ersten Texte in den Anthologien zum Preis und werden mittlerweile von renommierten Verlagen [3] betreut, wodurch ihre Werke einer größeren, literarisch interessierten Öffentlichkeit zugänglich sind.

Mit 10.000 Euro (und damit um 7.000 Euro mehr als "schreiben zwischen den kulturen") ist der "Hohenemser Literaturpreis für deutschsprachige AutorInnen nichtdeutscher Muttersprache" dotiert. Die Ausschreibung des 2009 erstmals an Michael Stavarić und Agnieszka Piwowarska vergebenen Preises adressiert "deutschsprachige Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Muttersprache, unabhängig von Alter, Geschlecht, Wohnort oder bereits veröffentlichten Arbeiten". Zur Einreichung zugelassen werden Texte im Umfang von maximal zehn Seiten, die "in literarisch überzeugender Weise nicht nur migrantische Erfahrungen, sondern in freier Themenwahl das Ineinandergreifen verschiedener kultureller Traditionen und biographischer Prägungen vor dem Hintergrund einer sich beständig wandelnden Gegenwart thematisieren – einer Gegenwart, in der Sprache und Literatur wie auch Identität keinesfalls als Konstanten anzusehen sind", wie es auf der Homepage der preisstiftenden Stadt Hohenems heißt.

Marginalisierung und Schubladisierung

Dass die hier vorgestellten Literaturpreise die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Literatur von AutorInnen mit "Migrationshintergrund" lenken und somit deren Verbreitung unterstützen und dass mit dem Preisgeld die weitere Entwicklung der AutorInnen gefördert wird [4], steht außer Frage. Fest steht jedoch auch, dass mit der Institutionalisierung derartiger Preise, ebenso wie mit der Etablierung eigener Begrifflichkeiten für die Literatur von AutorInnen mit "Migrationshintergrund" eine Vielzahl an Problemen einhergeht. Durch die Prägung bestimmter Begriffe für die Arbeiten von AutorInnen mit "Migrationshintergrund" kommt es zu einer Marginalisierung und Schubladisierung, sie werden von SchriftstellerInnen ohne "Migrationshintergrund" abgegrenzt und auf bestimmte Themen festgelegt, was sich beispielsweise auch in den Ausschreibungen zu oben genannten Literaturpreisen widerspiegelt. Folglich sprechen sich AutorInnen mit "Migrationshintergrund" logischerweise gegen einschränkende Label à la "Migrationsliteratur" und alternativen Begriffen dazu aus.

Die türkisch-österreichische Autorin Seher Çakir etwa wendet sich dezidiert gegen das Label "Migrantenliteratur" und etwaige alternative Begriffe, da diese ihrer Ansicht nach "ausschließend, diskriminierend und ausgrenzend" sind und die so bezeichneten "MigrationsliteratInnen" auf die Themen "Migration, Assimilation, Emigration, Nation, Identifikation" reduzieren. [5]

In einem Interview mit "dastandard.at" antwortete dieselbe Autorin, gefragt nach ihrer Meinung zu Literaturpreisen, die eigens für AutorInnen nicht-deutscher Muttersprache ausgeschrieben werden: "Einerseits finde ich sie gut, andererseits Scheiße. Wobei sich 'Scheiße' darauf bezieht, dass solche Preise noch immer nötig sind. Aber wenn es sie nicht gäbe, wenn es diese Förderungen nicht gäbe … Ich weiß nicht, ob ein Dimitré Dinev, eine Julia [sic] Rabinowich, eine Anna Kim oder auch eine Seher Çakir entdeckt worden wäre."

Autobiografie oder Fiktion?

Ein anderes Problem stellt der oftmals biografisierende Zugang zur Literatur von AutorInnen mit "Migrationshintergrund" dar. Lange Zeit wurde ihre Literatur, wie sich unter anderem auch in der Bezeichnung "Literatur der Betroffenheit" widerspiegelt, rein autobiografisch gelesen bzw. – wenn überhaupt – von der Kritik auch als solche besprochen. Die Literarizität der Texte, ihre Stilistik und Rhetorik wurden ignoriert, sprachspielerische Innovationen der Texte wurden als Fehler und Makel rezipiert und nicht als Bereicherung der deutschen Sprache gesehen.

Die unter anderem auch von Roland Barthes und Michel Foucault kritisierte autorInnenorientierte Lesart von Texten, bei der der Biografie der Autorin/des Autors eine entscheidende Bedeutung zukommt [6], war lange Zeit die übliche Art der Auseinandersetzung mit Literatur von AutorInnen mit "Migrationshintergrund" – ein Umstand, der von der Forschung erst in den vergangenen Jahren vermehrt aufgegriffen und kritisch diskutiert wird.

Definitionsmacht

Auch gilt es in diesem Zusammenhang danach zu fragen, wer aus welchen Gründen die Definitionsmacht besitzt, um jene Kriterien festzulegen, nach denen "MigrantInnenliteratur", "interkulturelle Literatur", "Literatur der Fremde" etc. behauptet wird. So problematisiert etwa Carmine Chiellino, Herausgeber des Handbuchs für "Interkulturelle Literatur", den Umstand, dass der Großteil jener WissenschaftlerInnen, die sich mit "MigrantInnenliteratur" auseinandersetzen, selbst der so genannten Mehrheitsbevölkerung angehören. Darin erkennt er einen Umstand, der bestenfalls zu einem "monokulturelle[n] Gesprächsversuch über Interkulturaliät" führen könne, was seiner Meinung nach einer "wissenschaftlichen Fehlleistung" [7] gleichkomme. Mit Leela Gandhi könnte dem allerdings entgegengehalten werden: "First, is experience the only valid precondition for theory? If so, and second, can one then speak about anything, which is outside one's realm of experience? […] Taken to an extreme, the unilateral privileging of experience over theory – or activism over academy – works to disqualify or debar the social validity of almost all intellectual activity." [8]

Kritisch hinterfragt werden muss ferner auch die Rolle des Literaturbetriebes, der bei der Vermarktung bestimmter AutorInnen konsequent auf deren "Migrationshintergrund" setzt. Was steckt aber hinter der Akzentuierung des kulturellen/religiösen/sprachlichen Backgrounds der vermarkteten AutorInnen? Strategischer Essenzialismus, um die Präsenz bzw. die Partizipation von AutorInnen mit "Migrationshintergrund" im gegenwärtigen Literaturbetrieb gewährleisten zu können? Oder wird mit dieser Marketingstrategie nicht vielmehr jene Praxis fortgeschrieben, mittels derer die Literatur der jeweiligen AutorInnen – sowie die AutorInnen selbst – als etwas Marginales, Exotisches, letztlich Anderes markiert werden?

Boom der Differenz

Fest steht, dass sich die literaturwissenschaftliche Rezeption der Literatur von AutorInnen mit "Migrationshintergrund" in den vergangenen 20 Jahren grundlegend geändert hat. Während die in den 1990er Jahren veröffentlichten Texte nur sehr zögerlich zum Gegenstand germanistischer Forschung wurden, lässt sich für jene Werke, die ab 2000 publiziert wurden, ein regelrechter Rezeptionsboom beobachten. Dieser scheint eng mit der in den vergangenen Jahren einsetzenden Institutionalisierung interkultureller Literaturwissenschaft und postkolonialer Studien an deutschsprachigen Universitäten einherzugehen. Mit der zunehmenden Etablierung dieser Forschungsrichtungen lässt sich ein bei den Analysen der Texte in den Vordergrund tretender Fragenkomplex feststellen, der sich mit Konzepten wie "Fremdheit", "Differenz", "Identität" und "Alterität" auseinandersetzt, gleichzeitig aber andere Fragestellungen weitgehend auszublenden scheint. So liegen beispielsweise bislang kaum Arbeiten vor, die Fragen der Intertextualität in der Literatur von AutorInnen mit "Migrationshintergrund" fokussieren würden. Weitgehend unberücksichtigt blieben lange Zeit auch Fragen nach der Modellierung von Geschlecht/ern in den Texten. Hier lässt sich allerdings seit kurzem eine Trendwende feststellen: Immer öfter werden Arbeiten publiziert, die die "Geschlechterfrage" an die Themenkomplexe der ethnischen bzw. kulturellen Differenz koppeln und somit das Zusammenspiel verschiedener identitätsstiftender Faktoren in den Mittelpunkt rücken.

Dabei wird die Formulierung vom "Dazwischen" im Sinne eines "Zwischen den Kulturen/Sprachen schreiben/leben" immer populärer. Wird jedoch angenommen, dass in einem "Dazwischen" geschrieben oder sogar gelebt werden kann, heißt das im Umkehrschluss auch, dass es zwei voneinander getrennte – in diesem Fall: kulturell bzw. sprachlich voneinander getrennte – Seiten geben muss, zwischen denen dieses "Dazwischen" situiert ist. Doch gerade die Literatur von AutorInnen mit "Migrationshintergrund" macht aufgrund ihrer "ästhetischen Disposition und der Vielfalt neuer Themen eine differenzierende Lesart jenseits monolithischer Kulturparameter" erforderlich, von denen die Formulierung vom "Dazwischen" letzten Endes ausgeht, wie Karin E. Yeşilada exemplarisch in Bezug auf türkisch-deutsche Literatur festhält. [9]



Fußnoten:

[1] Im Folgenden verwende ich statt Begrifflichkeiten wie "Migrationsliteratur", "GastarbeiterInnenliteratur", "interkulturelle Literatur" etc. durchgehend die Umschreibung "Literatur von AutorInnen mit 'Migrationshintergrund'", die mir noch am neutralsten zu sein scheint – im vollen Bewusstsein darüber, dass sich einige der so bezeichneten AutorInnen (zu Recht) vehement gegen eine solche Umschreibung wehren. So äußert sich etwa Feridun Zaimoğlu in einem Interview dazu wie folgt: "'Menschen mit Migrationshintergrund' ist für mich wirklich das Allerletzte. Mit dem Beiwort 'Migrationshintergrund' wird man ja zum Gegenstand, das ist eine Produktbezeichnung mit dem Prädikat 'besonders mies'." Siehe: http://dastandard.at/1295571094020/daStandardat-Interview-Das-machen-nur-charakterschwache-Assimilzombies

[2] Irmgard Ackermann: Der Chamisso-Preis und der Literaturkanon. In: Die "andere" deutsche Literatur. Istanbuler Vorträge. Hg. v. Manfred Durzak und Nilüfer Kuruyazıcı. In Zusammenarbeit mit Canan Şenöz Ayata. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 47–51, hier: S. 48.

[3] Dimitré Dinev: Deuticke bzw. Residenz-Verlag; Anna Kim: Droschl; Julya Rabinowich: Deuticke.

[4] Vgl. dazu Ackermann (2004), S. 47.

[5] Seher Çakir: "Migrantenliteratur". In: passwort. anthologie. das buch zu den exil-literaturpreisen "schreiben zwischen den kulturen 2007". Hg. v. Christa Stippinger. Wien: edition exil 2007, S. 5–11, hier: S. 8.

[6] Vgl. dazu Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, S. 185–193 und Michel Foucault: Was ist ein Autor?. In: ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 7–31.

[7] Carmine Chiellino: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 389.

[8] Leela Gandhi: Postcolonial Theory: A Critical Introduction. Edinburgh: Edinburgh University Press 1998, S. 61.

[9] Vgl. dazu auch Leslie A. Adelson: Against Between: A Manifesto. In: Unpacking Europe. Towards a Critical Reading. Hg. v. Iftikhar Dadi u. Salah Hassan. Rotterdam 2001, S. 244–255.

Meri Disoskiist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Wien und Redakteurin von daStandard.at. Sie arbeitet an einer Dissertation mit dem Titel "Die Welt in neue Worte kleiden. Analysen 'interkultureller' Literatur/wissenschaft aus Österreich".