"Vom Tagebuch eines Einsiedlers zum Tagebuch eines Flüchtlings"
Die Dokumentarfilmemacherin, erste Kamerafrau der Türkei, Journalistin, ist die Schriftstellerin Şehbal Şenyurt, außerdem Gründerin von BSB, Verbund von Dokumentarfilmemacher:innen. Sie führte journalistische Arbeiten und Studien zur Oral History/ kollektivem Gedächtnis zu Völkermord, Bevölkerungsaustausch, Exil, Rechte der Minderheiten, der kurdischen Frage, Antimilitarismus und Kampf für Frauenrechte durch. Sie wurde 2017 festgenommen und musste nach Deutschland gehen. Wir sprachen mit der Stipendiatin des PEN – Writers-in-Exile-Programm, über ihr neuestes Buch „Leben aus dem Koffer“, über Literaturwissenschaft in Deutschland und der Türkei und die Konzepte von Heimat und Zugehörigkeit.
Migrazine: Şehbal, wir kennen Dich als Journalistin, Filmemacherin und erste Kamerafrau der Türkei und wir kennen auch Deine Kolumnen und Dokumentarfilme. Hat Dein Literaturstudium begonnen, nachdem Du nach Deutschland gekommen bist?
Schreiben ist für mich eine heilende Beschäftigung. Neben meinen professionellen Texten im Journalismus und den Dokumentationen schreibe ich eigentlich sehr viel für mich selbst. Tagebücher, Kurzgeschichten, Gedichte ... vielerlei Arten... Ich habe nie wirklich daran gedacht das alles auszudrucken. Kurz gesagt, Schreiben war immer ein Teil meines Lebens. Ein bisschen den Kopf frei bekommen, mit sich selbst reden, ein bisschen analysieren, Emotionen vermitteln... Das sind meistens die Texte, die ich für mich aufhebe. Als der Exilprozess begann hatte ich ein solches Bedürfnis, das Bedürfnis übers Papier mit mir selbst zu sprechen. So fing dieses Buch an. Eigentlich hatte ich nicht vor, es zu veröffentlichen. Aber später habe ich ein PEN Deutschland Writers-in-Exile Stipendium erhalten. Im Rahmen des Stipendiums entstand ein Briefwechsel zwischen mir und der Autorin Terézia Mora, Mitglied des PEN- Zentrums. Ein Projekt bildete sich und “Zwei Autorinnen im Transit: Ein Dialog” wurde als Buch veröffentlicht. Diese Erfahrung hat mich ermutigt, vermute ich, und ich dachte, dass meine Gespräche mit mir selbst auch veröffentlicht werden könnten. Natürlich habe ich auch kleine Artikel in anderen Zeitschriften und einigen Publikationen veröffentlicht. Gleichzeitig wurden ein kleines Theaterstück und einige der von mir geschriebenen Monologe in der Anthologie des PEN veröffentlicht. Kurz gesagt, ich führe mein Leben in Deutschland hauptsächlich als Schrifftstellerin, ich schreibe Geschichten, ich habe einen Roman fertiggestellt, den ich in der Türkei begonnen habe. So läuft es.
Migrazine: Das neu erschienene Buch “Leben aus dem Koffer” hat die Untertitel “Gehversuche im Exil” und „bir münzevinin güncesinden bir mültecinin güncesine”. Beschreibt es Deine Ankunft in Deutschland und Deine Beziehung zur Literatur?
Der Einsiedler dort symbolisiert tatsächlich das Gefühl der Einsamkeit, das durch die türkische Sozialpolitik geschaffen wurde. Wie ein Tagebuch des Exils sind die Geschichten der Gegenden, aus denen ich kam, die Ereignisse, die ich sah, erlebte und miterlebte, sehr schwer. Warum bin ich hier, wieso bin ich im Exil? Der Mensch will vermitteln, reden und diskutieren. Das Bedürfnis zu Teilen hat das wohl auch ausgelöst. Was frühere Generationen übermittelt haben, unsere eigenen Erlebnisse, unsere Erfahrungen … Diese Themen stehen auch im Mittelpunkt des Buches. Es wird unweigerlich Teil meiner neuen Arbeiten sein. Vielleicht nicht als Geschichte, sondern als Hintergrundgefühl, als Perspektive. Wenn ein Mensch aus politischem Geschehen kommt, gibt einem das was man erlebt und miterlebt hat ein Verantwortungsgefühl. “Schaut, all das ist passiert und geschieht weiterhin”, möchte man aus der Seele schreien. Jeder soll von einer Seite anpacken, möchte man sagen. Ich denke, diese Spuren werden auch in anderen Werken deutlich spürbar.
Migrazine: Wie ergänzen sich diese verschiedenen Bereiche gegenseitig? Machst Du immer noch Filme oder arbeitest Du hauptsächlich im Bereich Literatur?
Tatsächlich gingen verschiedene Bereiche zusammen, indem sie sich regelmäßig auf bestimmte Bereiche konzentrierten, die dort gebildete Anhäufung auf andere Bereiche übertrugen und sie miteinander vermischten. Der Kampf der Frauen, der Kampf um Gleichberechtigung, war schon immer ein Teil in diesem Bereich. In jedem Kampf ist es vor allem wichtig als Frau dort zu sein... Warum gibt es in der Kinobranche, besonders im technischen Bereich wie der Kamera, keine Frauen? Warum machen wir weiter mit der Perspektive der Männer?... Ziel ist es, die weibliche Sprache/den weiblichen Stil zu offenbaren und zu lernen, und man möchte, dass jemand kommt und es weiterentwickelt. Man trägt die Erfahrungen, die in diesem Bereich gemacht wurden, in andere Bereiche, und auf diese Weise wird der soziale Kampf weitergeführt. Die Kameraausbildung von Frauen und die Gründung einer Dokumentarfilmergewerkschaft sind eigentlich eine Schlussfolgerung. Auch ist es unmöglich, die Arbeiten, die man während des Journalismus und Filmemachens schafft, nicht dem sozialen Kampf zu widmen. In den Demokratisierungsprozessen der Türkei habe ich versucht, in vielen Organisationen präsent zu sein und zu den Organisationen der Zivilgesellschaft beizutragen; Als Antimilitaristin habe ich versucht, die Erfahrungen anderer, nicht souveräner Völker und ihre Erlebnisse in vielen Bereichen wie der Kriegsdienstverweigerungsbewegung, Stigmatisierung, Ausgrenzung und Ignoranz, Uniformität und Zwangsvertreibung zu vermitteln. Anschließend trafen diese Studien durch politische Aktivitäten wie die Bürgerinitiative und die Friedensinitiative in den politischen Prozessen der Türkei auf die Kurdische Frage, und dann wurde ich von einer politischen Partei übernommen, um die Verantwortung zu übernehmen. Die Kurd:innenfrage – die HDP, Halkların Demokrasi Partisi war damals in 2011 noch nicht gegründet – wurde nur als kurdisches Problem erlebt. Ich meine, natürlich gab es Leute aus verschiedenen Völkern, aber wir waren sehr wenige. Um dieses Problem, welches wichtig für uns alle ist, deutlich zu machen, habe ich auch etwas unternommen: Ich war Kandidatin für den Emek Özgürlük Demokrasi Bloğu (Arbeits Frieden Demokratie Block) und habe dann in den Parteiräten der BDP, Barış ve Demokrasi Partisi (Friedens und Demokratie Partei) gearbeitet. Ich beteiligte mich am Demokratik Toplum Kongresi/DTK (Kongress der Demokratischen Gesellschaft), an Veranstaltungen über Kurdistan, wurde dann verhaftet. Es folgte Exil. Während des Exils habe ich mich hauptsächlich der Literatur zugewandt. Literatur hat mir in meiner Einsamkeit hier gut getan. Bei Filmprojekten verzichte ich darauf, neue komplexe soziale Beziehungen zu knüpfen. Und in der Türkei habe ich mich immer auf die Geschichten anderer konzentriert. Es war, als würde mich die Einsamkeit in Deutschland in mich selbst kehren lassen. Literatur entsprach mehr dem.
Migrazine: In Deinem Buch kritisierst Du die Frage “Was bedeutet Zuhause für dich?” Wieso?
Tatsächlich ist das Zugehörigkeitsgefühl ein Thema, das ich immer wieder diskutiert habe. Ich gehöre keinem Ort an, ein Ort gehört mir nicht, eine Person gehört mir nicht, ich gehöre keiner Person an, ein Gegenstand gehört mir nicht, ich gehöre diesem Gegenstand nicht. Also sie sind in bestimmten Zeiträumen da und sie befinden sich in diesen Existenzbedingungen. Das ist etwas sehr Vorübergehendes. Es ist eine saisonale Situation. Ich hatte nie mit dem Konzept eines Heimatlands zu tun. Dieses Konzept erinnert an Organisationen, die für den Nationalstaat sterben würden. Das Leben erscheint mir allerdings komplizierter. Eigentlich habe ich in der Türkei nicht mit einem Zugehörigkeitsgefühl gelebt, das kann ich jetzt mehr einsehen. Ich schätze, wegen Konflikten mit allgemein akzeptierten Werten. Ich wurde von der Kultur, von der Sprache und von Beziehungen geprägt. Aber ich habe dort mit den Werten gekämpft. Ich bin hier, doch die Werte unterscheiden sich teilweise nicht wirklich von dort. Daher glaube ich, dass es wenigstens für mich nicht möglich war, eine Zugehörigkeitsbindung herzustellen.
Migrazine: Nun, wenn wir nicht Zugehörigkeit sagen, wie können wir dann die Abwesenheit eines Ortes, eines Netzwerks von Beziehungen beschreiben? Es gibt eine Welt voller Bedeutung, die uns mit einem oder mehreren Orten verbindet …
Ich hinterfrage bereits diese Sinnwelt. Es gibt eine Sehnsucht, ja. Eine Person vermisst ihren Ehepartner, Freund, physische Umgebung, das Funktionieren des täglichen Lebens im Zusammenhang mit Gewohnheiten ... Aber ich denke nicht wirklich über diese Welt der Bedeutung nach. Aus der Zugehörigkeitsproblematik wird ein Gefühl der Ablehnung durch das Leben in antidemokratischen Gesellschaften. Wer kann sich wo zugehörig fühlen und warum?
In teildemokratischen Gesellschaften gewinnt der Ansatz, dich so zu akzeptieren, wie du bist, du bist ein Wert „so wie du bist“, du spürst, dass du so etwas zur Gesellschaft beiträgst. Aber in Gesellschaften, in denen menschliche Beziehungen auf Ausgrenzung und Unterdrückung aufgebaut sind, scheint es, als ob sich die Weigerung, dieser Gesellschaft anzugehören, automatisch entwickelt. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, es tritt tatsächlich in verschiedenen Formen auf. Und das ist nicht nur eine Ablehnung aufgrund des unterdrückenden Verhältnisses zwischen Staat und Individuum. Beziehungen zu Freunden, Arbeit und Familie, einschließlich unserer Beziehungen zur Natur, werden durch Machtverhältnisse, Privilegien und Etiketten hergestellt. Die erworbenen Identitäten entstehen durch die Fehler anderer. Ich denke dieser Punkt macht die Entwicklung einer Zugehörigkeitsbindung problematisch, behindert sie. Andererseits, gehört man unbedingt irgendwo hin? Ich denke, das ist die Frage!
Es scheint mir, dass wir über periodische Besitztümer sprechen können, die wir mit der Wertereihe der Gesellschaft, des Ortes und der Zeit, in der wir leben, vereinbaren können. Die Vorstellung einer lebenslangen Zugehörigkeit scheint mir eine Illusion von Geborgenheit und Schutz vor den größten Schwächen unserer Existenz zu sein. Es scheint ein Produkt der Bemühungen zu sein, in einer Gesellschaft zu bleiben.
Das Gespräch wurde von Ezgi Erol am 18.04.2022 via Zoom geführt.
Übersetzung: Deniz Hohn