crossover

Seduction at a Crossroads

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von Verena Melgarejo Weinandt
Interview mit Pêdra Costa
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©Pedrâ Costa
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Der folgende Text ist ein Auszug des Beitrags von Pêdra Costa und Verena Melgarejo Weinandt zur Publikation Saberes sobre Puentes_Wissen über Brücken: Gloria E. Anzaldúa as method in decolonial art, education and politics. Der Band erscheint parallel zur deutschen Übersetzung von Gloria E. Anzaldúas Borderlands/La Frontera im Herbst 2022 bei Archive Books. Basierend auf einem Besuch Costas im Archiv von Anzaldúa in Austin, Texas gehen die beiden im Interview kritischen Fragen zum Umgang mit Anzaldúas Schaffen nach: Wie können wir uns auf sie beziehen, ohne sie auf eine theoretisch akademische Referenz zu reduzieren? Für welche politischen Kämpfe kann sie Wegbereiterin verstanden werden? Costa bietet uns hier wichtige Ansätze und Methoden, um Wissensbezüge und Referenzen auf deren Kolonialität zu befragen.

Verena: Wir hatten dich im Rahmen der Nepantla Bibliothek1 in die Amerika-Gedenkbibliothek (AGB) eingeladen. In der Veranstaltung Seduction at a Crossroads, die du als performatives Sprechen, Bewegen und Fühlen bezeichnet hast, hast du den Teilnehmenden das Konzept der Crossroads nähergebracht. Die Veranstaltung begann damit, dass du dich der Bibliothek langsam von außen genähert hast. Die Anwesenden haben dich zuerst im Vorgarten der Bibliothek durch die große Glasfront gesehen. Gleichzeitig warst du mit einem Audiosystem mit allen verbunden. Es waren starke Bilder und es entstand gleich zu Beginn ein intimer Moment mit dir und jedem einzelnen. Kannst du erzählen, was in der AGB für dich passiert ist und worum es für dich ging?     

Pêdra: Als ich eingeladen wurde, diese Veranstaltung zu machen, habe ich an den Ort gedacht, an die Bibliothek, das Gebäude, die Bücher und das Wissen, das in diesen Büchern steckt. Ich mag es nicht die gängigen Formate für solch eine Veranstaltung zu wiederholen, denn das ist, was erwartet wird. Ich mag es nicht, diejenige Person zu sein, die die Macht des Wortes innehat und ich mag es nicht, Sachen zu wiederholen, die in Texten existieren. Spontanität ist sehr wichtig für meine Arbeiten, ich mag den Moment der Überraschung, es gefällt mir, nicht zu wissen…      

Die Bibliothek ist ein sehr formaler Ort, an dem Wissen systematisiert und kategorisiert wird. Die Straße ist auch ein Ort, an dem Wissen existiert, und eine Straßenkreuzung bietet die Möglichkeit, dass Personen, Wissensformen und Erkenntnisse verschiedener Welten aufeinandertreffen. Die Frage ist, wie diese beiden Formen zusammenkommen können?       

Eine Kreuzung ist ein Ort der Straße, der Geister der Straße und deswegen ist dieser Ort auch Teil der Umbanda2. Deswegen habe ich meine Veranstaltung auf der Straße begonnen, außerhalb des institutionellen Raumes, außerhalb des Gebäudes. 

Zu Beginn konnte das Publikum die Person, die zu ihnen über das Audiosystem sprach, nicht sehen. Sie war wie ein Geist, der zu ihnen sprach. Die Verführung passiert über das Rationale wie auch über das Irrationale, deswegen ist sie so wirkungsvoll. Mit der Verführung zu arbeiten, bedeutet auch das Begehren einzubeziehen. Es ist etwas, das nur zwischen zwei oder mehreren Personen passieren kann, es kann nicht unilateral sein. Ich habe allen, die mir zugehört haben, Anleitungen gegeben. Sie hätten sie nicht befolgen können, aber sie waren offen mir gegenüber und haben mir zugehört. Ich habe die Teilnehmenden aufgefordert sich in den Gängen zwischen den Büchern zu bewegen, damit sie sehen, wie viel Wissen hier existiert, formalisiertes Wissen, das gelesen werden soll. Wie können diese Körper diese Kreuzungen von Wissen innerhalb einer Bibliothek verstehen? Und was passiert, wenn du die Augen schließt und versuchst, die Bücher auf andere Art und Weise wahrzunehmen?     

Das Wissen dieser Crossroads hat mit der Frage der Brücke, der Grenze, des Seins im Dazwischen zu tun oder wie du selbst zu einer Brücke wirst. Das hat mit Gloria Anzaldúa zu tun. Während die Teilnehmenden die Augen geschlossenen hatten, habe ich ihnen ein Gedicht von Anzaldúa vorgelesen, das von der Dunkelheit handelt. Danach habe ich die Personen gebeten mit geschlossenen Augen ein Buch auszuwählen. Mit diesen Büchern sind wir in den großen Raum zurückgekehrt und haben uns kurze Abschnitte daraus vorgelesen. Wir hatten Bücher in allen Sprachen, auch welche, die wir nicht verstanden. Im Anschluss haben wir uns über die Vielfalt von Wissensformen unterhalten. 

Im Spanischen bevorzuge ich das Wort saber statt conocer (beide bezeichnen im Deutschen das Verb wissen), aber el conocimiento (das Wissen als Substantiv) verweist auf das bereits etablierte, hegemoniale Wissen, im Unterschied zu saber. Mit el saber bezeichne ich das Wissen, das du durch das Leben, im Sex, in den Vorfahren und in der Migration suchst und findest. All diese Formen werden zu dem Wissen deiner Person, deines Körpers. Und das ist kein Wissen, bei dem eine andere Person kommen kann, um dir zu erklären: So und so ist das.      

Du fragst nach der Methodologie, die ich verwende? Alle Wissensformen, auf die ich mich beziehe, sind Teil meiner Lebenserfahrung, kommen aus dem Theater, dem Tanz, den Künsten und aus meinem spirituellen Wissen. Aber ich arbeite nicht mit einem rigiden Plan, natürlich habe ich eine Idee von einem Ablauf, aber darin suche ich immer Spontanität. Ich arbeite mit Kontrollverlust. Ich habe keine Angst vor dem was passieren wird und muss nicht Bücher und Bücher lesen, um einen Vortrag geben zu können. Ich habe mir das Wissen, dass ich dafür brauche, angeeignet und ich gehe dann mit dem um, was vor Ort passiert. Ich glaube hier liegt die Schwierigkeit für Personen, die mit der Beherrschung von Wissen arbeiten: Die Frage der Unvorhersehbarkeit, der Überraschung. Beides ist sehr wichtig und ich bin sehr vertraut damit, weil ich früher als Clown auf den Straßen in Brasilien gearbeitet habe. Du weißt, wie es auf den Straßen in Lateinamerika zugeht. Dort passiert alles Mögliche.

Mein Besuch im Archiv von Anzaldúa ist auch so ein Beispiel für Spontanität. Es war ein unsichtbarer Ruf. Es gibt viele Personen, die tiefgehende Recherchen über Anzaldúa machen und nie in ihrem Archiv waren, aber ich war dort. Es hat sich überraschend so ergeben.     

Verena: Kannst du noch einmal erzählen, wie du diese Zeit im Archiv genutzt hast. Hast du nach etwas Besonderem gesucht? Wie hast du dich Anzaldúas Arbeit durch das Archiv genähert? 

Pêdra: Zuerst muss ich erwähnen, dass ich keine Expert*in zu Anzaldúa bin. Ich habe kein einziges ihrer Bücher komplett gelesen. Ich kenne ihre Biografie, habe Gedichte von ihr gelesen und ich weiß, dass Leute wie du meine Arbeit in Verbindung mit ihrer sehen, verstehen und analysieren. Mir persönlich gefällt es nicht Texte und Positionen zu studieren, weil ich mich nicht zu stark mit ihnen identifizieren möchte, oder zu ihnen werden möchte. Ich bin eine sehr empathische Person und ich glaube an die contaminación profunda, die tiefe Kontaminierung. Ich möchte lieber allein sein auf meinem Weg – andere machen diese Verbindungen für mich. Du hast diese Verbindung hergestellt und ich hatte immer Zweifel daran und fragte mich, ob ich wirklich diese tiefe Verbindung zu Anzaldúa habe. Natürlich habe ich sie immer schon angenommen als meine queere Vorfahrin, als Teil meines spirituellen und unsichtbaren Wissens. Aber erst nach meinem Besuch im Archiv konnte ich das verstehen. Das war ein guter Schock (un buen choque). 

Meine Erfahrung in dem Archiv war voller Intimität, so als würde ich Anzaldúa bereits kennen. Es war, als würden wir über die gleichen Dinge sprechen. Wir sind Teil der gleichen Familie, wir sind Teil der gleichen Denktradition, wir schöpfen beide aus der unsichtbaren Welt (del mundo invisible), von anderen Wissensformen, für den Aktivismus, für die Wissenschaft, für die Künste. 

Verena: Ich finde sehr interessant, wie du über deine Begegnung mit dem Archiv nachdenkst.  Du bezeichnest sie als ein intimes Gespräch, das du mit ihr geführt hast und durch das du Gemeinsamkeiten entdeckt hast. Hier beschreibst du deine Erfahrung in dem Archiv als ein Kennenlernen, oder ein Treffen, das auch eine intime Seite hat, in dem es darum geht, Gemeinsamkeiten zu entdecken, sich in der anderen Person wiederzufinden. Diese Form von Annäherung steht konträr zu der Idee, wie in einem akademischen Kontext mit Archiven umgegangen wird. Dir geht es nicht darum in einem kolonialen und kapitalistischen Sinne Wissen zu extrahieren, zu konsumieren, zu analysieren und weiter zu verarbeiten für deinen eigenen Profit, oder einer Form von Kapitalgenerierung. Möchtest du das noch weiter kommentieren? 

Pêdra: Diese Form von Extraktion kommt von einer kolonialen Subjektivität. Damit meine ich eine extraktivistische Subjektivität (subjetividad extractivista). Wenn wir unsere Kritiken am akademischen System, am Kunstsystem, am Gendersystem, am kapitalistisch-kolonialen System vornehmen, dann machen wir immer auch eine Kritik am Extraktivismus. Der Extraktivismus ist die stärkste Waffe oder Strategie des kolonial-kapitalistischen Systems. Das ist die Ausbeutung unseres Wissens, unserer Freude, unserer Gesundheit, unserer Süße, unserer Formen von Liebe(n) (amorocidades). Wenn es uns gut geht, wenn wir uns lieben, wenn wir glücklich sind, wenn wir genießen…Das ist auch eine antikoloniale Positionierung und die extraktivistische Subjektivität kann darauf nicht zugreifen. 

Wenn eine Person mit einer extraktivistischen Mentalität auf das Archiv von Anzaldúa trifft, wird diese Person nicht die gleiche Erfahrung oder Begegnung haben, die ich mit ihr hatte. Das ist wie bei Zombies, die können auch agieren, aber sie haben keine Seele, es fehlt die Empathie, um sich zu verbinden, weil ihnen dieses Wissen im eigenen Körper fehlt. Davon spreche ich, wenn ich von verkörpertem Wissen rede, zum Beispiel in der Umbanda Religion kannst du durch Intuition, durch Träume, durch andere unsichtbare Wege dieses Wissen erhalten. Das koloniale System und die extraktivistische Subjektivität werden uns das NIE, NIE, NIE, bitte schreib das dreimal und in Großbuchstaben, wegnehmen können. Sie werden unsere Positionierung in der Welt nie verstehen können, weil diese nicht ausschließlich durch mentale Prozesse verstanden werden kann, nicht nur durch eine westliche Intellektualität.      

Das koloniale System arbeitet auch innerhalb Europas, innerhalb des globalen Nordens, innerhalb der Imperien, um die Menschen und ihre Seelen zu zerstören. Nach 10 Jahren, die ich in Europa lebe, denke ich, dass es für weiße Europäer*innen, die nach anderem Wissen suchen, viel schwieriger ist Zugang zu diesem Wissen zu bekommen. Anstatt tiefe Empathie mit einer anderen Person zu kreieren, bekommen sie normalerweise Burn-Out oder solche Sachen. Der rationale, mentale Kopf lässt es nicht zu, dass ihre Seele und ihre Gefühle zu ihnen sprechen und sie diesen zuhören können. Das Zuhören hat aber nicht nur mit den Ohren zu tun, Zuhören passiert mit dem gesamten Körper, mit dem Herzen, mit dem Bauch, durch den culo (Hintern). Das alles hat mit dem Zuhören zu tun. Was ist der culo, wenn nicht eine Form von Wissen, die so tief, so emotional, die so sensibel ist? Auch wenn die extraktivistischen Subjektivitäten versuchen, uns Dinge wegzunehmen, können und werden sie das nicht, weil sie nicht sehen und nicht zuhören können. Sie suchen oberflächliche Dinge, was sie schreiben ist oberflächlich. Sie wollen politisch und aktivistisch über diese Dinge sprechen, aber das ist leer, weil sie keine spirituelle Praxis haben. Mit dem Spiritual Activism spricht Anzaldúa über die Verbindung der beiden Dinge, die Praxis und das Wissen darüber. Eins ohne das andere geht nicht. Auch hier in Europa gab es spirituelles Wissen vor dem kolonialen System: Andere Formen von Wissen z.B. Wissen über Kräuter. 

Übersetzt aus dem Spanischen ins Deutsche von Verena Melgarejo Weinandt.

Fußnoten

Von September 2019 bis Juni 2020 begleiten monatliche Veranstaltungen in der Amerika-Gedenkbibliothek Berlin (AGB) die Übersetzung des Buches „Borderlands/La Frontera. The New Mestiza“ (1987) von Gloria E. Anzaldúa ins Deutsche. Diese Reihe, die Verena Melgarejo Weinandt zusammen mit dem Kunstraum District*Schule ohne Zentrum organisierte, war gedacht als eine Einladung, den Prozess der Übersetzung durch verschiedene Perspektiven und Praxen mitzuerleben. Dafür luden wir Künstler*innen, Aktivist*innen und Theoretiker*innen ein, ihre Arbeiten mit Anzaldúa in Beziehung zu setzen und zu präsentieren.

2 Umbanda ist eine Religion, die durch das Zusammenführen des Wissens verschiedener Personen entstanden ist: Aus dem Norden Afrikas, dem indigenen Wissen aus Brasilien, den marginalisierten Menschen aus den europäischen Gefängnissen, von Frauen*, die von der Inquisition verfolgt wurden, den Säufer*innen und den Arbeitslosen. Diese Menschen mit unterschiedlichem Wissen und verschiedenen Praktiken der Hexerei, mit dem Wissen der Straße und ebenfalls katholischem Wissen haben die Umbanda Religion gegründet. Umbanda arbeitet mit ihren Seelen: Menschen, die unter der brasilianischen Kolonie gelebt haben. Umbanda bedeutet: Wir sind alle eins, wie ein kollektiver Körper. (Pêdra Costa)

Verena Melgarejo Weinandt(*1986) ist eine deutsch-bolivianische Künstlerin, Kuratorin, Pädagogin und Forscherin, die ihre verschiedenen Arbeitsfelder miteinander verschränkt. Ihr eigenes Dasein in dieser Welt dient ihr als Werkzeug, um koloniale und patriarchale Strukturen zu thematisieren und nach Wegen individueller und kollektiver Heilung für das, was sie "arte-sana" nennt, zu suchen. Ihre künstlerische Arbeit wird derzeit in der BiennalSur in Buenos Aires ausgestellt. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der bildenden Künste Berlin und arbeitet im Rahmen des Projektes Saberes Wissen über Brücken.
Pêdra Costais a ground breaking, formative Brazilian, Visual & Urban Anthropologist and Performer based in Berlin who utilizes intimacy to connect with collectivity. They work with their body to create fragmented epistemologies of queer communities within ongoing colonial legacies. Their work aims to decode violence and transform failure whilst tapping into the powers of resilient knowledge from a plethora of subversive ancestralities that have been integral to anti-colonial and necropolitical survival. https://cargocollective.com/pedra