Migration und Gesundheit: Das Zauberwort heißt "Strukturelle Prävention"
Im Rahmen unserer Arbeit erleben wir täglich hautnah, wie massiv bestimmte Migrant_innen-Communitys sozialer und struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind. Fehlender oder unsicherer Aufenthaltsstatus, fehlende Krankenversicherung sowie durch die Mehrheitsgesellschaft erfahrene Stigmatisierung, Diskriminierung und Rassismus sind die Barrieren für den Zugang zu HIV/STI-Prävention, die Migrant_innen am häufigsten erleben. So haben Menschen ohne Papiere in Deutschland zwar formal Anspruch auf eine eingeschränkte ärztliche Behandlung, doch zur Kostenerstattung von langfristigen Therapien müssten sie oder die behandelnden Einrichtungen sich an das Sozialamt wenden, das zur Datenübermittlung an die zuständige Ausländerbehörde verpflichtet ist - und diese kann dann eine Abschiebung veranlassen. Aus Angst vor Abschiebung suchen viele daher gar nicht erst die nötige medizinische Hilfe, und behandelbare Erkrankungen entwickeln sich zu lebensbedrohlichen Notfällen. Ein anderes Beispiel: Menschen aus den neuen EU-Ländern Bulgarien und Rumänien dürfen sich zwar legal in Deutschland aufhalten, besitzen aber oft keine Krankenversicherung. Auch wenn der Arbeitsmarkt in Deutschland für diese Gruppen seit 2014 offen ist, bleibt er für viele unerreichbar - besonders betroffen davon sind die Roma-Communitys. Solche Lebenssituationen und Bedingungen sind nicht förderlich für die Inanspruchnahme von präventiven Angeboten, für den Schutz vor HIV und anderen Erkrankungen sowie den Umgang damit. Präventionsangebote und Maßnahmen, die den gesellschaftlichen Rahmen von individuellem Verhalten nicht berücksichtigen, können schnell ins Leere laufen.
Strukturelle Prävention als Grundlage der Aidshilfe-Arbeit
Die Arbeit des Verbands Deutsche AIDS-Hilfe orientiert sich an der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung von 1986 und dem Lebensweisenkonzept der Weltgesundheitsorganisation (WHO), das ihr zugrunde liegt (vgl. WHO 1986). Unser Konzept sieht vor, individuelles Verhalten und gesellschaftliche Verhältnisse zu beeinflussen, dabei unsere Communitys zu beteiligen und zu stärken sowie die Präventionsebenen (Primär-, Sekundär und Tertiärprävention) so zu verschränken, dass Gesundheit lebensweltnah gefördert wird.
Die Strukturelle Prävention nimmt also das Verhalten Einzelner ebenso in den Blick wie die Verhältnisse (Strukturen), in denen sie leben. Denn was ein Mensch für seine/ihre Gesundheit und die Gesundheit anderer tun will und kann, hängt von seinem/ihrem Umfeld und den gesellschaftlichen Strukturen ab, in denen er/sie lebt. Diskriminierung, Ausgrenzung und/oder Kriminalisierung behindern gesundheitsförderliches Verhalten. Deshalb setzen wir dort an, wo die strukturellen und sozialen Verhältnisse Menschen daran hindern, ihre Rechte - auch das Recht auf Gesundheit - wahrzunehmen. Wir richten unsere Angebote an den Lebenswelten von Einzelnen und Gruppen aus und engagieren uns für eine Versorgung, die den Bedürfnissen unserer Zielgruppen bzw. Communitys entspricht.
Für die praktische Arbeit heißt das: Es gibt sowohl Angebote, die sich an einzelne Personen richten (u.a. Beratung, Bereitstellung von Informationen, aufsuchende Arbeit), als auch Maßnahmen, die auf einer kollektiven Ebene angesiedelt sind. Die lokalen Aids- und Drogenhilfeorganisationen und ihr Dachverband (DAH) engagieren sich dabei - orientiert an der Epidemiologie und der Vulnerabilität - vor allem für die besonders von HIV bedrohten und betroffenen Gruppen, "traditionell" also für Schwule und andere Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), für Sexarbeiter_innen und Drogenkonsument_innen, und führen auf politisch-gesellschaftlicher Ebene zum Beispiel Antidiskriminierungskampagnen, Kampagnen zur Entkriminalisierung des Drogengebrauchs oder gegen Homophobie durch.
Entscheidend dabei ist die Beteiligung der Menschen aus unseren Communitys und ihrer Netzwerke - zum Teil gehören wir selbst zu ihnen - an der Präventionsarbeit. Sie ist eine der wichtigsten Quellen unserer Fachkompetenz. Nur wenn das lebensweltliche und kulturelle Wissen unserer Communitys in die Präventionsarbeit einfließt, können Maßnahmen angemessen gestaltet werden. Die Teilhabe unserer Communitys ermöglicht uns zugleich eine authentische Interessenvertretung.
Strukturelle Prävention mit und für Migrant_innen
Das Konzept der "Strukturellen Prävention" ist daher auch in der Prävention und Gesundheitsförderung für und mit Migrant_innen konsequent anzuwenden. Die eingangs beschriebenen strukturell bedingten Zugangsbarrieren zum medizinischen Versorgungssystem können nicht nur durch Einzelfallhilfe beseitigt werden. Vielmehr müssen sich die relevanten Einrichtungen politisch gegen die Ausgrenzung und Diskriminierung von Migrant_innen einsetzen. Dies bedeutet, sich in den (bundesweiten) Netzwerken der Migrationsarbeit zu engagieren und sich an aktuellen Diskursen und Aktionen zu beteiligen. Außerdem müssen die Einrichtungen der Prävention und Gesundheitsförderung die besonderen Bedürfnisse und Interessen von Migrant_innen in diese Netzwerke einbringen und dafür sorgen, dass Migrant_innen ihre Interessen dort selbst vertreten können. Die konsequente Umsetzung des Konzepts der Strukturellen Prävention bedeutet auch, dass in der Migrationsarbeit die individuellen und kollektiven Ressourcen von Migrant_innen berücksichtigt werden. Dazu müssen innerhalb der einzelnen Einrichtungen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es Migrant_innen ermöglichen, ihre Bedürfnisse zu formulieren, ihre Kompetenzen und Ressourcen einzubringen und Arbeitsprozesse auf allen Präventionsebenen mitzubestimmen. Das Zauberwort heißt also auch im Migrationsbereich: Strukturelle Prävention!
Leicht ist dieser Prozess der Beteiligung nicht, setzt er doch immer die Bereitschaft voraus, Macht (teilweise) abzugeben: in Form von Ressourcen, Mitentscheidungsmacht, Prestige. Aber er ist unerlässlich, wenn wir nachhaltig Gesundheitsförderung betreiben und für alle das Recht auf Gesundheit sichern wollen. Bereits 1973 schrieb Paulo Freire in seinem Werk "Pädagogik der Unterdrückten": Wo marginale Gruppen sind, ist immer nach den Verhältnissen zu fragen, die sie marginalisieren, und nur durch die Veränderung dieser Verhältnisse durch die Marginalisierten selbst und mit ihnen ist dem Phänomen beizukommen (vgl. Freire 1973). Und das gilt bis heute.
Literatur
Drewes J., Sweers H. (Hrsg.) (2010): Strukturelle Prävention und Gesundheitsförderung im Kontext von HIV (AIDS-Forum DAH, Bd. 57). Berlin: Deutsche AIDS-Hilfe e. V.
Freire, P. (1973): Pädagogik der Unterdrückten. Stuttgart: Kreuz Verlag.
Weltgesundheitsorganisation (WHO) (1986): Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung (englisches Original: Ottawa Charter for Health Promotion, WHO/HPR/HEP/95.1; WHO autorisierte Übersetzung: Hildebrandt/Kickbusch auf der Basis von Entwürfen aus der DDR und von Badura sowie Milz). Genf: WHO.
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