Indigener Einbruch in Europa
Invasion für die Freiheit und Würde der Völker der Welt
1. Wir existieren, weil wir Widerstand leisten
500 Jahre nach der sogenannten Eroberung Mexikos ist eine Delegation der indigenen Bevölkerung in das Land der Konquistadoren eingefallen.
Der Fall des großen Tenochtitlan 1, des politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und spirituellen Zentrums der Mexica in dem Gebiet, das später als Amerika benannt werden sollte, markierte 1521 den Beginn einer der tragischsten Episoden der Geschichte: der Versuch der Ausrottung der ursprünglichen Völker der Neuen Welt.
Fünf Jahrhunderte später kommen wir, eine Delegation indigener Menschen aus Mexiko, StellvertreterInnen der Nahua, Popoluca, Rarámuri, Maya, Purépecha, Zapoteken und Otomí Völker in dieses entfernte Gebiet, das wir als Slumil K’ajxemk’op 2 kennen, um die zapatistische 'Tour für das Leben' zu begleiten und mit lauter Stimme und in Würde zu sagen: "Sie haben uns nicht erobert, wir leben, wir leben, weil wir Widerstand leisten".
Zu diesem indigenen Aufstand in Europa sind wir, eine Delegation des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI), gekommen. Diese Bewegung entstand 1996 und konstituierte sich als Heimat der indigenen Völker Mexikos, als Antwort auf den Aufruf der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung nach ihrem bewaffneten Aufstand im Jahr 1994; ein Aufruf, dem wir, die Völker Mexikos, gefolgt sind, um uns zu versammeln und unseren eigenen Raum zu schaffen, um den Dialog zu führen, unseren Schmerz zu erkennen, uns zu organisieren und als die brüderlichen Völker, die wir sind, zu kämpfen.
Es war am 12. Oktober 1996 in Mexiko-Stadt, als sich die indigenen Völker Mexikos in Anwesenheit der Kommandantin Ramona - die mit einer zapatistischen Delegation kam - versammelten, dass wir als Nationaler Indigener Kongress geboren wurden: und einen Organisationsraum für die indigenen Völker und Gemeinden, Nationen, Stämme und Vierteln Mexikos schufen.
Seitdem geht der CNI an der Seite der zapatistischen Völker, geleitet von den sieben Prinzipien des Befehlens durch Gehorchen: 1. Dienen und nicht sich dienen; 2. Repräsentieren und nicht ersetzen; 3. aufbauen und nicht zerstören; 4. gehorchen und nicht befehlen; 5. vorschlagen und nicht aufzwingen; 6. überzeugen und nicht besiegen; 7. absteigen und nicht aufsteigen.
Wir sind Männer und Frauen mit verschiedenen Farben, wie die verschiedenen Farben des Mais; mit verschiedenen Sprachen, wie die verschiedenen Texturen der Erde; wir sind Söhne und Töchter der Berge, Erben der jahrtausendealten Weisheit unserer Völker; Hüter des Wassers, der Dschungel, der Mangroven und all dessen, was heilig ist und in unseren Gebieten lebt. Wir sind Völker, die den angestammten Widerstand gegen die Enteignungen, den Rassismus, Klassismus und gegen die strukturelle Gewalt teilen, die dieses hegemoniale kapitalistische, patriarchalische und koloniale System über uns, die Völker der Welt, ausübt. Wir sind Gemeinschaften, die sich wehren und ihren eigenen Weg zur Autonomie erschaffen.
2. La Gira por la Vida (Die Tour für das Leben)
Im Jahr 2021 gedenken wir 500 Jahren des Widerstands, des Kampfes und der Verteidigung unserer Länder, Gebiete und traditionellen Lebensweisen.
Wir beobachten mit Besorgnis und Alarmbereitschaft, wie die Enteignung der Gebiete indigener Völker zunimmt. Die Eroberer kommen nicht mehr in Karavellen mit königlichen Bannern, sondern mit den Emblemen multinationaler Bau-, "sauberer" Energie-, Bergbau-, Tourismus- und Immobilienunternehmen und all jener Branchen, die dem kapitalistischen Extraktivismus dienen. Der Kapitalismus ist der neue Kolonisator, der die Arbeiter:innen in der neuen Welt versklavt, die Jahrhunderte später Dritte Welt genannt wurde und für die dringend eine Entwicklung notwendig ist; eine Entwicklung, die als einziges Produktions- und Lebensmodell aufgezwungen wird.
Als indigene Völker der Welt fragen wir uns also: Ist es möglich, weiterhin mit einem Ausbeutungssystem zu leben, das die Mutter Erde zerstört; ist es nicht offensichtlich, dass die Zivilisations- und Umweltkrise vom Kapitalismus provoziert wurde; was sind wir, die Völker der Welt, bereit zu tun; wie werden wir uns treffen und den Kampf organisieren?
Diese Reise durch Europa gab dem Nationalen Indigenen-Kongress die Möglichkeit, mit indigenen Völkern, ländlichen und städtischen Gemeinschaften, sozialen Organisationen und Bewegungen, Gewerkschaften, Menschenrechtsaktivist:innen, Umweltschützer:innen, Kollektiven, Student:innen, kämpfenden Frauen, Jugendlichen, Migrant:innen, Intellektuellen und Künstler:innen zusammenzutreffen; Männer und Frauen, die gegen den Kapitalismus und seine Logik der Ausbeutung, Enteignung, Diskriminierung und Zerstörung kämpfen und Widerstand leisten.
Es war eine Gelegenheit, unsere Schmerzen zu teilen und herauszufinden, was uns als Völker verbindet, ungeachtet der Entfernungen, die unsere Geografien und Lebensweisen trennen.
Es ist eine Gelegenheit, unsere Herzen zu verbinden und unseren Geist zu stärken, unabhängig von den verschiedenen Sprachen und Kontexten, in denen wir uns befinden; uns als Verteidiger:innen der Erde zu erkennen; und zu verkünden, dass unser Kampf dem Leben gilt; dass unser Kampf der Freiheit und der Würde der Völker der Welt gilt.
3. Eine Welt, in die viele Welten passen
Die Reise durch das Leben begann in Österreich. Die Delegation des Nationalen Indigenen Kongresses traf am 23. September ein, um an der von den zapatistischen Völkern organisierten großen Tournee teilzunehmen. Der Empfang war großartig: Transparente, Slogans, Musik und Lärm. Es war eine Feier des Lebens.
In Wien haben wir uns mit Migrant:innenorganisationen, Frauenkollektiven, Jugendgruppen und Künstler:innen ausgetauscht; Organisationen, die wie die indigenen Völker Mexikos gegen die kapitalistische Hydra3 kämpfen, die sich unter dem Deckmantel von Entwicklung, Fortschritt und Zivilisation verbirgt.
Wir stoßen auf die gleichen Probleme der Enteignung von Territorien, Spiegel der Enteignungen, die in unseren Völkern stattfinden; aber wir stoßen auch auf den Widerstand und die Rebellion eines unnachgiebigen Europas.
Das Europa von unten, das den Bau einer Autobahn am Rande der Stadt Wien lahmgelegt hat, das gleiche Europa, das sich Räume der Selbstverwaltung zurückerobert und für die Rechte von Migrant:innen sowie gegen Rassismus und strukturellen Klassismus kämpft. Wien hat uns gezeigt, dass eine Stadt, die ein Beispiel und der Stolz der ersten Welt ist, auch ein echtes Beispiel für den Kampf der Menschen ist; ein Beispiel für die Reflexion und das Hinterfragen der Privilegien von Ländern, die sich auf Kosten der Ausbeutung und Zerstörung anderer Völker der Welt bereichern.
Wien empfing uns in den imposantesten Schlössern der Stadt, und es waren keine kolossalen kaiserlichen Schlösser, sondern Schlösser, die mit Träumen von Würde gebaut wurden, jenen Träumen von Freiheit, die uns vereinen und die Herzen von Männern und Frauen aus allen Ecken der Welt verbinden.
In Österreich, der ersten Station der Tour für das Leben, spürten wir den Ruf der Erde, die Dringlichkeit, dieses System zu stürzen und die Grenze zum Postkapitalismus zu überschreiten. Der Ruf der Erde, der uns auffordert, aus den herrschenden Paradigmen auszubrechen und solidarische Welten für das Gemeinwohl zu schaffen.
Ab da waren wir uns sicher, dass die Zeit der Völker gekommen war, die Zeit der indigenen Völker; der Völker auf dem Land und in der Stadt; der Migrant:innen-Völker; der Geflüchteten-Völker; der Völker, die für die Verteidigung ihrer Gebiete kämpfen; der Völker der Welt, die von einem würdigen Leben für unsere Gebiete, für die Menschheit träumen; für die Kinder, die kommen werden; zu Ehren des Gedenkens an die Menschen, die ihr Leben im Kampf gegeben haben.
Lassen Sie unsere Invasion ein Vorwand sein - dringend und notwendig - um Wege zu finden, eine Welt aufzubauen, in die viele Welten passen.
Fußnoten
1. Tenochtitlan war damals die Hauptstadt der Region (der Mexicas) - heute Mexico City.
2. Slumil K'ajxemk'op, in der Sprache der Tseltal Maya, war der Name, den Marijose, ein Mitglied der zapatistischen Schwadron 421, Europa gab.
Übersetzung aus dem Spanischen: Marisel Orellana Bongola