Distanzierung in der Covid-19 Pandemie: Die Marginalisierung nicht-traditioneller Formen von Intimität und Verbundenheit
Intimität wurde lange Zeit mit Liebe und Erotik gleichgesetzt. Die feministische Intimitätsforschung fasst Intimität breiter und versteht darunter eine Qualität sozialer Beziehungen. Intimität umfasst u.a. Nähe, Vertrauen, Verlässlichkeit, Fürsorge, Offenheit, Verletzlichkeit, Verbundenheit und Empathie. Intimität kann sich in der Form von emotionaler, körperlicher, intellektueller oder solidarischer Nähe ausdrücken (Jamieson, 1999) und sich in Partnerschaften, Freundschaften, Familienbeziehungen, Arbeitsbeziehungen und in sozialen Gemeinschaften herstellen. Keine dieser Beziehungsformen ist jedoch notwendigerweise mit Intimität verbunden. Intimität im Kontakt mit anderen Menschen zu erleben ist eine intensive Erfahrung, die die Identität von Menschen und ihre Zugehörigkeit zu Gemeinschaften prägt. Intimität findet sich folglich nicht nur im Privaten, sondern wird auch in affektiven Bindungen und sozialen Zugehörigkeiten in öffentlichen Kontexten verhandelt, beispielsweise in sozialen Medien, in der Psychotherapie, oder in sexualisierten Arbeitsbeziehungen (Berlant, 1998). Wie die feministische Kulturtheoretikerin Lauren Berlant betont, ist es daher wichtig, die institutionelle Normalisierung intimer Praktiken in den Blick zu nehmen und kritisch zu analysieren.
Unter Pandemiebedingungen ist eine solche Analyse dringlicher denn je. Die Distanzierungsmaßnahmen, die seit März 2020 zur Eindämmung der Covid-19 Pandemie notwendig wurden, veränderten sowohl das Verhältnis sozial akzeptierter Nähe und Distanz als auch intime Beziehungsstrukturen. Die Veränderungen lassen sich an drei Beispielen nachzeichnen: 1) Der Habitualisierung physischer Distanz, 2) dem Verlust intimer Nähe und von Körperkontakt, und 3) der Moralisierung nicht-traditioneller Sexualitäten und Beziehungen. Die Beispiele basieren auf der Auswertung eigener Befragungsdaten, die im Rahmen eines Forschungsprojekts (vgl. Rothmüller 2021b) zu den Veränderungen von Intimität und intimen Beziehungen in der Covid-19 Pandemie 2020-2021 in Österreich und Deutschland erhoben wurden1.
1) Bereits zu Beginn der Pandemie verinnerlichten viele Menschen die physische Distanzierungsnorm und entwickelten ein neues Gefühl für Nähe und Distanz. Drei Viertel der im Rahmen des Forschungsprojekts befragten Personen berichteten im April 2020 davon, dass sie dieses Distanz-Gefühl bewusst wahrnehmen konnten, wenn sie Menschen beobachteten, die nahe zusammenstanden, oder wenn sich im Fernsehen Menschen umarmten. Im Winter 2020 machte sich dieses neue Gespür für Nähe und Distanz bei 9 von 10 Befragten in Form eines inneren Alarmsystems bemerkbar, wenn ihnen Menschen näher als einen Meter kamen. Interessant ist dabei, dass vor allem jüngere Befragte berichten, dass sie teilweise mehr Nähe zuließen als sie wollten, um einen Konflikt zu vermeiden, wie beispielsweise eine Umarmung zur Begrüßung, obwohl sie sich damit unwohl fühlten. Auch Menschen in kontakt-intensiven Berufen berichteten davon, zur Konfliktvermeidung im Rahmen ihrer Berufsausübung immer wieder Grenzverletzungen in Kauf nehmen zu müssen. Eine Distanzierung auch gegen Widerstreben durchsetzen zu können, setzt soziale Macht voraus, die in der Gesellschaft ungleich verteilt ist.
Ansteckungsängste haben umgekehrt zu einer übermäßigen Distanzierung von Bevölkerungsgruppen geführt, die unter Pandemiebedingungen als besondere Bedrohung wahrgenommen wurden. So berichteten Befragte davon, gezielt um bestimmte soziale Gruppen einen Bogen zu machen, weil sie vermuteten, sich bei ihnen besonders wahrscheinlich mit Corona anzustecken. Von dieser Stigmatisierung als Krankheitsüberträger*innen waren vor allem Kinder und Jugendliche sowie Obdachlose betroffen. Vereinzelt wurden auch Suchtkranke und Migrant*innen in der Befragung als Gruppen genannt, die aus Ansteckungsängsten bewusst gemieden wurden. Insgesamt betraf nur rund die Hälfte der Nennungen sachlich begründete Gruppen, wie etwa große Menschenansammlungen, Menschen ohne Maske oder Menschen, die sich nicht an die Schutzmaßnahmen hielten.
Im Verlauf der Pandemie wurde immer wieder öffentlich darauf hingewiesen, dass eine notwendige physische Distanzierung nicht mit einer sozialen Distanzierung gleichzusetzen sei. Allerdings führte bereits im zweiten Lockdown die Distanzierung zu einem Rückgang sozialer Vertrauensbeziehungen, u.a. weil Menschen es anstrengend fanden, mit Freund*innen digital in Kontakt zu bleiben, aber auch weil Freizeitkontakte verloren gingen und Menschen sich mit langjährigen Vertrauenspersonen über die Pandemiemaßnahmen zerstritten (vgl. Rothmüller 2021b). Insbesondere jüngere Menschen litten unter sozialer Isolation und machten sich Sorgen, dass im Lockdown ihre intimen Beziehungen auseinanderbrechen würden. Von der sozialen Distanzierung betroffen waren aber auch selbstgewählte 'soziale Familien' und 'communities of care' gesellschaftlicher Minderheiten. 38 Prozent der LGBQ-Befragten hatten beispielsweise im zweiten Lockdown gar keinen Kontakt mehr zu Peers aus ihrer Community. Vor der Pandemie traf das nur auf rund 15 Prozent zu. Ein Drittel der LGBQ-Befragten hatte bereits im ersten Jahr der Pandemie den Kontakt zu wichtigen Vertrauenspersonen verloren, bei trans und nicht-binären Befragten waren es sogar 40 Prozent. Queere Befragte waren deshalb häufiger mit belasteten Menschen im Freundeskreis konfrontiert, die sich im Lockdown von ihnen Unterstützung erwarteten, und sie waren auch stärker solidarisch engagiert als heterosexuelle Befragte.
2) Im Herbst 2021 wurde eine Umarmung zum vielbeachteten World Press Foto des Jahres gewählt. Auf dem Bild ist zu sehen, wie die 85-jährige Rosa Luzia Lunardi wird von ihrer Pflegerin Adriana Silva da Costa Souza im Pflegeheim Viva Bem in São Paulo, Brasilien, in den Arm genommen wird - durch einen Umarmungsvorhang aus Plastik und das erste Mal seit fünf Monaten, nachdem alle Pflegeheime für Besucher*innen geschlossen worden waren. Berührungsdeprivation, d.h. der Entzug von körperlicher Nähe und Berührung, war im Lockdown allerdings nicht nur eine Erfahrung älterer Menschen, sondern auch ein verbreitetes Problem alleinlebender Personen, von gesundheitlichen Risikogruppen und Menschen ohne Partnerschaft (vgl. von Mohr et al. 2021). Freundschaftliche Umarmungen wurden insgesamt zwar am häufigsten vermisst, am stärksten belastet waren jedoch Menschen, die sich nach körperlichen Berührungen sehnten und über mehrere Monate hinweg keine partnerschaftliche Intimität leben konnten. Von den befragten Personen ohne sexuelle oder romantische Beziehung hatte zum Zeitpunkt des zweiten Lockdowns rund die Hälfte schon länger als drei Monate keinen Menschen mehr umarmt. Sie erlebten daher auch am häufigsten ein Gefühl von "Hauthunger" im Sinne einer Art Entzugserscheinung von körperlichen Berührungen bzw. ein starkes körperliches Verlangen nach Hautkontakt.
Die Bedeutung kleiner körperlicher Gesten wurde in der Pandemie vielen Menschen das erste Mal deutlich. Berührungen sind für viele Menschen ein Ausdruck sozialer Verbundenheit. Fehlt diese Dimension intimer Nähe, können Menschen teilweise intensive Gefühle von Einsamkeit und Isolation entwickeln. Manche Menschen bemühten sich deshalb um einen pandemiekonformen Ersatz für den Verlust von körperlicher Intimität und fanden diesen teilweise in körperlichen Erfahrungen von Yoga oder Sport über ein heißes Bad nehmen bis zu Kuscheln mit Stofftieren. Viele Menschen suchten sich im Lockdown “schöne Dinge”, die ihnen gut taten. In queeren Gruppen fanden sich kreative und kollektive Bewältigungsformen, bspw. die Vernetzung queerer bodyworkers für Nähe und community support trotz körperlicher Distanz im Lockdown2. Wie der Umarmungsvorhang und andere Formen des Umgangs mit dem Leiden unter sozialer Distanzierung zeigen, sind minorisierte Gruppen in der Pandemie auch Akteur*innen, die neue Formen der Intimität und Verbundenheit (weiter-)entwickeln, erproben und kreativ an die konkreten Lockdownbedingungen anpassen.
Einige Menschen entschieden sich schließlich bewusst dafür, Ausnahmen der strengen Distanzierung zu machen, um Menschen psychosozial unterstützen zu können. So schrieb eine Frau (20 Jahre) in der Befragung über ihre Maßnahmen-Compliance: "Ich sehe die Coronamaßnahmen recht streng. (...) Im Rettungsdienst halte ich manchmal nicht so viel Abstand, weil viele Patient*innen einfach jemanden brauchen der ihre Hand hält oder so. Das sehe ich aber als meine Aufgabe und ich versuche Schutzmaßnahmen zu treffen sowie das eben geht, aber Menschen helfen will ich auch trotz Pandemie, diese Leute haben oft sonst niemanden." Während der Pandemie gab es eine hohe Bereitschaft, private Kontaktreduktion in Kauf zu nehmen, um Sorgearbeit mit vulnerablen Gruppen professionell leisten zu können. Diese Bereitschaft kann Menschen in Gesundheitsberufen nicht nur hohen Ansteckungsrisiken aussetzen, sondern auch der Gefahr, in der Pandemie auszubrennen, wenn sie zusätzlich zu den Arbeitsbelastungen auch noch privat isoliert sind.
3) Intimität steht immer auch in Verbindung mit lokalen Politiken der Intimität und intimer Moral (Plummer 2003). Intime Beziehungsstrukturen in modernen Gesellschaften folgen häufig einem “regime of the couple norm” (Roseneil et al. 2020), in der heterosexuelle Paarnormativität rechtlich und sozial privilegiert wird. Wie sich in der Pandemie erneut zeigte, ist die hegemoniale Form intimer Beziehungen nach wie vor die romantische Zweierbeziehung, die verbindlich, exklusiv und dauerhaft an einem gemeinsamen Wohnsitz gelebt wird. Sie bildet die staatlich abgesicherte und gesellschaftlich akzeptierte Intimität, die auch in einer Gesundheitskrise geschützt wird. Diese Intimitätsnorm wurde vor allem zu Beginn der Pandemie explizit, später eher implizit formuliert, im Verlauf der Pandemie aber immer wieder erneuert. Beispielsweise als im Dezember 2020 eine Covid-19-Notmaßnahmenverordnung regelte, dass Onlinebekanntschaften von der Datingplattform Tinder nicht als "Bezugspersonen" gelten und daher nicht unter die Ausnahmeregelungen fallen - im Gegensatz zu Erwachsenen, die als Nikolo verkleidet ehrenamtlich Kinder besuchen.
Die Pandemie-Regelungen prägten nicht nur die rechtliche Legitimität von intimen Beziehungen, sondern auch ihre soziale Legitimität. Befragte meiner Studie berichten von einer umfassenden Moralisierung sexueller Kontakte, aber auch komplexer Beziehungsarrangements wie polyamoren Partnerschaften, durch Freunde und Bekannte im Lockdown. Sie erlebten die Pandemiemaßnahmen als “erzwungene Monogamie” oder “staatlich verordnete Monogamie”, kurz: als “Coronamonogamie” (Rothmüller, 2021a). Die verringerte Legitimität nicht-traditioneller Intimitätsformen wirkte sich auf die gelebten Beziehungsformen aus: Fast die Hälfte der Befragten in Mehrfachbeziehungen (offen, polyamor, unklarer oder unverbindlicher Status mit mehreren Personen) hatten nur mehr Kontakt zu einem*r Primärpartner*in während des Lockdowns. Sexuelle Kontakte mit Fremden standen im Lockdown unter besonderem Rechtfertigungsdruck, so dass einige Menschen mit unverbindlichen sexuellen Kontakten begannen, diese vor ihrem Bekanntenkreis zu verheimlichen. Jene Singles, die ihre Partnersuche nicht pausierten, versuchten für die Lockdown-Zeit eine Corona-Partnerschaft einzugehen. Sie gaben damit neuen Dates die Chance, eine längere intime Beziehung aufzubauen, was einige Befragte als überraschend positive Erfahrung nach längerem unverbindlichen Dating erlebten. Die Fokussierung romantischer und sexueller Beziehungen auf eine Person, häufig verbunden mit einer Stabilisierung der Beziehung in einem (zumindest vorübergehend) gemeinsamen Haushalt, kann als mononormative Beziehungspraxis in der Pandemie interpretiert werden (Rothmüller, 2021a). Mononormativität generiert pandemiespezifische “Wissensproduktionen, Machttechnologien und Praktiken, die eine exklusiv dyadische Struktur von Paarbeziehungen als elementare und ‘natürliche’ Form des Zusammenlebens produzieren” (Pieper/Bauer, 2014, 1; Wimbauer et al., 2012).
Die strukturelle Rekonfiguration von Intimität in der Pandemie veränderte das Erleben von Nähe und Distanz im Alltag. Während viele Liebespaare im Lockdown ihre Beziehung vertieften und eine gute Zeit hatten, waren freundschaftszentrierte Lebensweisen und queere Communities verhältnismäßig häufig negativ von den Regelungen betroffen. Distanzierungsmaßnahmen, die sich an der traditionellen Paarnorm ausrichten, treffen unverhältnismäßig häufig queere Menschen, weil sie häufiger nicht-traditionelle Formen von Intimität leben als heterosexuelle Personen. Das betrifft nicht nur unkonventionelle romantische Beziehungskonstellationen, sondern auch intime Kontakte in Freundschaftsnetzwerken und Gemeinschaftskontexten. Maßnahmen, die definieren, wer als legitime intime Vertrauensperson gelten darf und wer nicht, drohen damit die Marginalisierung queerer Formen von Intimität zu verstärken. Als nicht-intendierte Folgen der Distanzierungsmaßnahmen lassen sich soziale Isolation, Einsamkeit und Berührungsdeprivation von Singles beobachten sowie eine Stigmatisierung von benachteiligten Bevölkerungsgruppen als Pandemietreiber.
Quellen
Berlant, L. 1998. “Intimacy: A Special Issue” Critical Inquiry 24(2): 281–288.
Jamieson, L. 1999. Intimacy Transformed? A Critical Look at the `Pure Relationship'. Sociology, 33(3), 477-494.
Pieper, M., Bauer, P. 2014. Polyamorie: Mono-Normativität – Dissidente Mikropolitik – Begehren als transformative Kraft? In: Journal für Psychologie 22(1).
Plummer, K. 2003. Intimate Citizenship. Private Decisions and Public Dialogues. University of Washington Press.
Roseneil, S., I. Crowhurst, T. Hellesund, A. C. Santos, and M. Stoilove 2020. The Tenacity of the Couple-Norm. Intimate citizenship regimes in a changing Europe. London: UCL Press.
Rothmüller, B. 2021a. “The Grip of Pandemic Mononormativity in Austria and Germany.” Special Issue: Viral Times - Re-thinking COVID-19 and HIV. In: Culture, Health & Sexuality. International Journal for Research, Intervention and Care 23(11), S. 1573-1590.
Rothmüller, B. (Hg.) 2021b. Liebe, Sexualität und Solidarität in der COVID-19-Pandemie. Erste Ergebnisse der Pilotstudie und Folgeerhebung 2020. Wien: Sigmund Freud Universitätsverlag, 2021.
Von Mohr, M., Kirsch, L.P. & Fotopoulou, A. (2021). Social touch deprivation during COVID-19: effects on psychological wellbeing, tolerating isolation and craving interpersonal touch. Royal Society Open Science 8(9).
Wimbauer, C., Motakef, M. und Teschlade, J. (2012). Gleichheit oder Geschlechterkampf? Von vermeintlichen ‘Gebärverweigerinnen’ in der ‘schönen neuen Arbeitswelt’. In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 9(2), S. 180-193.
Fußnoten
1. Ich beziehe mich dazu auf empirische Befragungsdaten (erhoben während der Lockdowns 4/2020 und 11-12/2020) aus dem Projekt "Intimität, Sexualität und Solidarität in der Covid-19 Pandemie", das von der Stadt Wien finanziert wurde (vgl. dazu Rothmüller 2021b). Dank sei an dieser Stelle meinen Projektmitarbeiterinnen ausgesprochen, die zu verschiedenen Zeitpunkten im Projekt beschäftigt waren und mich bei der Forschung unterstützt haben: Emelie Rack, Laura Wiesböck, Sophie König, Mascha Leskien, Anna Maria Diem und Julia Luncer.
2. Facebook Group Corona Connect by Queer Bodyworkers Vienna https://www.facebook.com/groups/206168927152653/
*About the Picture: Rosa Luzia Lunardi, 85, hugging social worker Adriana Silva da Costa Souza, 39. The first hug in 5 months. The coronavirus has infected 4.1 million Brazilians, and more than 127, 000 have died. Since March elderly homes have not allowed family visits and the nursing staff has strictly limited all physical contact as much as possible. But at ‘Viva Bem’ outside São Paulo, the elderly no longer have to live without hugs. A specially made plastic curtain with sleeves allows the family to get really close. And if the relatives can’t come, the staff lends a hand. Here everyone is family as the staff explain. And everyone deserves a real tight hug. ©Mad Nissen