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"Und ich drückte meine Lippen gegen ihre ..."

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Interview mit Renaud Lagabrielle

migrazine.at: Du hast am Beispiel von dreißig französischen Kinder- und Jugendbüchern, die zwischen 1989 und 2003 erschienen sind, die Darstellungsweisen von Homosexualität untersucht. [1] Wie hat sich die Repräsentation der "Sissy Boys" und "Tom Girls", wie du sie nennst, in diesem Zeitraum verändert?

Renaud Lagabrielle: Geändert hat sich vor allem die Erzählperspektive. Im Laufe der Zeit finden sich in den Büchern immer häufiger Ich-Erzähler_innen, die adoleszent sind und sich ihrer Homosexualität bewusst werden bzw. diese akzeptieren. Davor waren homosexuelle Figuren lange nur ein Familienmitglied der sich als heterosexuell definierenden Erzählinstanz.

Im Zuge dieser Entwicklung haben sich auch die thematischen Schwerpunkte und Fragen bezüglich der Homosexualität verändert: Mit den lesbischen und schwulen Ich-Erzähler_innen wurden die Fragen um das Coming-out zentral, während es in den älteren Büchern allgemeiner darum ging, das Anderssein – also in diesem Fall die Homosexualität – eines Onkels, eines Bruders, einer Tante usw. zu akzeptieren und als legitime Liebes- und Lebensweise anzuerkennen. Hier ist wichtig anzumerken, dass das Coming-out in den Romanen immer als etwas Positives dargestellt wird: als etwas, das einem_einer hilft, glücklicher zu sein. Und: Das Coming-out der Protagonist_innen wird immer auch mit einer Liebesgeschichte in Verbindung gebracht.

Wichtige Themenschwerpunkte im Zusammenhang mit Homosexualität sind auch AIDS, der Suizid und die Homo-Elternschaft. Man merkt im Laufe der Jahre noch eine weitere Entwicklung – und zwar werden die Geschichten, in denen Homosexualität Thema ist, weniger traurig oder "schwer".

Stammen diese Bücher von LGBT-Autor_innen?

Manche, vor allem die Autoren, sind deklariert schwul – zum Beispiel Christophe Honoré. Was die Autorinnen betrifft, sind einige deklariert heterosexuell, Brigitte Smadja und Marie-Aude Murail etwa. Am ihrem Beispiel kann man gut sehen, dass die Qualität eines Textes, in dem es – nicht nur, aber auch – um Homosexualität geht, nicht unbedingt mit der Homosexualität des_der Autors_Autorin in Zusammenhang steht. Diese beiden genannten Autorinnen haben wirklich sehr gute Texte geschrieben – Brigitte Smadja die Serie der "Maxime" (auf Deutsch erschienen: "Max und die Frauen"), Marie-Aude Murail "Oh Boy!" (Titel der deutschsprachigen Übersetzung: "Drei für immer"). Absolut empfehlenswert!

Die erste homosexuelle Figur in einem französischen Jugendbuch tauchte erst sehr spät, nämlich 1989 auf. Sind denn in den heutigen Büchern für Kinder und Jugendliche häufiger lesbische und schwule Charaktere anzutreffen?

Ehrlich gesagt verfolge ich die heutige Produktion nicht mehr ... Aber was das erwähnte Jugendbuch angeht: In "Côte d'Azur", so der Titel des Romans von Cathy Bernheim, geht es um zwei Adoleszentinnen, die sich ineinander verlieben und entscheiden, diese Liebe auch zu leben. Dies ist umso bemerkenswerter, als es sich um zwei weibliche Jugendliche handelt. Insgesamt sind bisher in nur acht Jugendromanen lesbische Figuren zu finden, was das Unsichtbarmachen der Lesben in der Gesellschaft widerspiegelt.

Cathy Bernheim war eine engagierte Feministin in den Bewegungen der 1970er-Jahre, und als ihr Buch herauskam, war Geneviève Brisac zuständig für das Programm beim Gallimard-Verlag. Das ist insofern relevant, als Brisac dann zur L'École des loisirs wechselte – jenem Verlag, in dem fast die Hälfte aller Romane von Cathy Bernheim erschienen sind. Geneviève Brisac ist eine engagierte und couragierte Verlegerin, und es braucht nach wie vor solche Menschen, um Kinder- und Jugendbücher mit "homosexuellem Inhalt" zu veröffentlichen.

In Frankreich hat das Parlament im März die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare beschlossen, begleitet von einer breiten und sehr heftig geführten öffentlichen Debatte. Erwartest du, dass man in französischen Kinderbüchern künftig öfters lesbischen und schwulen Eltern begegnen wird?

Ob das so sein wird, kann ich nicht sagen. Festzustellen ist aber, dass die Anzahl der Kinder- und Jugendromane, in denen Homosexualität als Thema präsent ist, nach der Verabschiedung des PACS [2] im Jahr 1999 rasant gewachsen ist. Es kann also sein, dass man hier ein ähnliches Phänomen beobachten wird.

Was die Kinder- und Jugendbuchverlage betrifft, muss betont werden, dass das Veröffentlichen eines Kinder- bzw. Jugendbuchs mit homosexueller Thematik immer noch viel Mut verlangt. Es ist nämlich ein ökonomisches Risiko, da sich Entscheidungsinstanzen – vor allem Eltern – nach wie vor konservativ verhalten und noch immer die Angst herrscht, dass die Kinder selbst homosexuell werden könnten, wenn sie Geschichten mit homosexuellen Figuren lesen. Erst 2003 musste die Autorin Isabelle Chaillou den letzten Satz ihres Jugendromans "H.S." auf Druck ihrer Verlegerin ändern: Statt "... und ich drückte meine Lippen gegen ihre Lippen" – ein Satz, der die Liebe und das Begehren zwischen zwei weiblichen Figuren explizit gemacht hätte – steht jetzt: "... und ich nahm ihre Hand in meine Hand".

In Deutschland ist im letzten Jahr eine Debatte über rassistische Stereotype und Sprache in Kinderbüchern entfacht. Existiert in Frankreich eine vergleichbare Auseinandersetzung, etwa im Hinblick auf seine koloniale Vergangenheit?

Hier ist mir nur die Auseinandersetzung mit den kolonialen und rassistischen Diskursen in den berühmten "bandes-dessinées" (Comics) "Tintin et Milou" ("Tim und Struppi") bekannt.


Interview: Vina Yun




Literatur

Cathy Bernheim: Côte d´Azur, Gallimard 1989
Isabelle Chaillou: H.S., Rageot 2003
Christophe Honoré: Tout contre Léo, L'École des loisirs 1996
ders.: C'est plus fort que moi, L'École des loisirs 1996
Marie-Aude Murail: Oh Boy!, L'École des loisirs 2000 (Deutsch: Drei für immer, Fischer 2010)
Brigitte Smadja: Maxime fait de la politique, L'École des loisirs 1991
dies.: Maxime fait des miracles, L'École des loisirs 1991
dies.: Maxime fait l'idiot, L'École des loisirs 1993
dies.: Adieu Maxime, L'École des loisirs 2000 (Deutsch: Max und die Frauen, Fischer 2002)
dies.: Maxime fait un beau mariage, L'École des loisirs 2000


Fußnoten

[1] Siehe: "Représentations des homosexualités dans le roman français pour la jeunesse", L'Harmattan 2007.

[2] "Pacte civil de solidarité" ("Ziviler Solidaritätspakt"): ein seit 1999 gültiges Partnerschaftsgesetz, das sowohl Heterosexuellen als auch Homosexuellen offensteht.

Renaud Lagabrielle1977 in Nantes, Frankreich geboren. 2005 Doktorat am Institut für Romanistik der Universität Wien zum Thema "Sissy Boys et Tom Girls? Représentations des homosexualités dans les romans français pour la jeunesse". Publikationen zu Fragenkomplexen um (Homo-)Sexualitäten in Literatur und Film Frankreichs und des Maghreb. Seit 2009 Senior Lecturer am Institut für Romanistik der Universität Wien. Zur Zeit APART-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für ein Forschungsprojekt zum französischen Musikfilm. Homepage