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Forensic Body

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von Ezgi Erol
Interview mit Songül Sönmez
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© Songül Sönmez, 2018/20
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© Songül Sönmez, 2018/20
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Fünf Haarzöpfe sind installiert in fünf Glasröhren. Festgebunden vom Boden bis zur Decke mit einem dünnen Stahldraht. Durch die in einem Labor-Setting integrierte Soundinstallationen erfahren wir forensische Geschichten von fünf Mädchen und Frauen, die im Zuge der von der Türkei verhängten Ausgangssperren 20151 ermordet worden sind. Die Arbeit Forensic Body von der Künstlerin Songül Sönmez wurde für die Ausstellung krieg kuratieren 2018 angefertigt. Sönmez‘ Arbeit bringt die gerichtsmedizinische Vorgehensweise mit den Leichen dieser fünf Frauen während des Krieges in die Ausstellung ein, und thematisiert und reflektiert die vom türkischen Staat über die Körper von Mädchen und Frauen ausgeübte Gewalt.

Ezgi Erol: Songül, was erzählt uns deine Arbeit Forensic Body?

Songül Sönmez: In Forensic Body geht es um die Geschichten von fünf Mädchen und Frauen, die im Rahmen von Ausgangssperren 2015/16 von türkischen Spezialeinheiten umgebracht worden sind. Die Tatorte bzw. Wohnorte von diesen Mädchen und Frauen beschreiben die kurdischen Territorien in der Türkei. Sie sind die Erzählerinnen der dortigen kriegsverbrecherischen Entwicklungen. Die Guerillafrau Kevser Ekin Eltürk aus Van (sie wurde im Stadtbezirk Varto (Muş) erschossen), Taybet Ana (dt. Taybet Mutter / Taybet Inanlı) aus Silopi/Şırnak, Cemile Çağırga aus Cizre/Şırnak, Sultan Irmak aus Cizre/Şırnak und Rozerin Çukur aus Diyarbakır.

Ezgi: Was sind die politischen Motive dieser Ermordungen?

Songül: Die türkische Regierung verfolgte 2015/16 eine massenmörderische Politik gegen Kurd_innen. Eine der Folgen waren Massaker in den Kellern und auch auf den Strassen. Viele Menschen – vom Kind bis hin zu alten Menschen – wurden von Scharfschützen erschossen. Mit dieser gewaltvollen und systematischen Praxis haben wir feststellen müssen, dass den Kurd_innen nicht nur das Lebensrecht sondern auch das Todesrecht geraubt wurde. Taybet Ana wurde an einer Stelle 150 Meter entfernt von ihrem Haus erschossen. Sie war erst verletzt und lag sieben Tage lang auf der selben Stelle. Es war verboten, den schwerverletzten Menschen zu helfen und ihre Leiche zu bergen. Sultan Irmak hat sich in einem von den drei Kellern befunden, in denen über 200 Menschen ums Leben gekommen sind. Die Menschen haben sich vor den Bombardierungen in die Keller geflüchtet. Sie waren dort verletzt, ohne Wasser und Nahrung. Anschließend wurden militärische Operationen durchgeführt.  Der Körper von Sultan Irmak wurde zu 90 Prozent verbrannt und beinhaltete Waffenschüsse und Granatsplitter. Cemile Çağırga war ein 10 jähriges Mädchen. Sie wurde im Garten ihres Hauses von Scharfschützen erschossen. Die Familie durfte ihre Leiche zuerst nicht begraben. Sie wurde von ihrer Familie drei Tage lang im Tiefkühlschrank aufbewahrt. Rozerin Çukur, ein 17 jähriges Mädchen, wurde in der Nähe von ihrer Schule erschossen. Die Familie konnte ihre Leiche 150 Tage lang nicht erreichen. Am Ende der 150 Tage musste ein DNA-Test durchgeführt werden, um ihre Identität bestätigen zu können. Als Kevser Ekin Ertürk erschossen wurde, hatte sie keine tödliche Verletzung. Ihre Todesursache ist bis heute noch unklar. Ihre Kleidung wurde ihr ausgezogen und ihr Körper wurde nackt fotografiert, die Fotos wurden über den Social Media Account der türkischen Spezialeinheiten verbreitet. Diese Tötungspolitik, die die türkische Regierung hier verfolgt hat, war eine Kriegspropaganda, die auf den Körpern von Frauen und Kindern gemacht wurde.

Ezgi: Wem gehören die Haare und warum war es wichtig, sie zu verwenden?

Songül: Die Haare habe ich schon lange zusammengesammelt. Es sind die Haare von meiner Mutter, Tante und Schwester. Haare zu verwenden ist natürlich nicht einfach, weil es ein sehr starkes Symbol für die Repräsentation des weiblichen Körpers ist. Außerdem gibt es auch andere Metaphern über die Haare. Im kurdischen Befreiungskampf gibt es die Tradition, dass die Frauen sich ihre Haare abschneiden und  begraben wenn sie in den Krieg ziehen.

Ezgi: Ich denke, auf den ersten Blick erinnert deine Installation auch an die IS-Verfolgung und den darauffolgenden Genozid 2014 an der jesidischen Bevölkerung in Sengal / Irak, insofern, als dass die jesidischen Frauen ihre langen Haarzöpfe abgeschnitten und begraben haben...

Songül: Ja genau. Ich beziehe mich aber eher darauf, dass es ein starkes Symbol ist, mit dem ich an den Repräsentationsformen von Frauen arbeiten kann. Zum Beispiel wissen wir nicht wirklich, was mit den Körpern dieser Frauen und Mädchen passiert ist. Von Seiten der Menschenrechtsorganisationen wurde Druck ausgeübt für die Erstellung von richtigen Obduktionsgeschichten. Obduktionsberichte wurden entweder nicht verfasst, und selbst wenn sie verfasst worden sind, dann wurden sie falsifiziert oder es war eben verboten, sie zu haben. Das ist der Grund warum ich die Arbeit "forensic"2 genannt habe und ein Labordisplay entwickelt habe. Die forensische Seite von Krieg zeigt uns wie brutal das alles ist und welche menschenverachtende Methoden verfolgt werden und damit verbundene mediale Argumentationen und Kriegspropaganda produziert werden.

Ezgi: Wie sind die Geschichten von Forensic Body entstanden und wie war deine Arbeit mit Ton?

Songül: Ich habe die Nachrichten und Videos in den staatlichen, regierungsnahen aber auch alternativen Zeitschriften und Zeitungen, die diese Tode behandelt haben, gesammelt. Ich habe gemeinsam mit zwei Ärzt*innen Obduktionsberichte geschrieben, die nicht geschrieben worden waren. Mit den audiovisuellen Dateien von echten Aufnahmen designte ich Hintergrundsoundspuren. Es ist aber am Ende eine fiktive Form zwischen Geschichte und Bericht geworden, die die Obduktionswerte beinhaltet aber auch persönlich und intim ist.

Ezgi: Darüber zu schreiben, worüber nicht geschrieben wurde und nicht geschrieben werden durfte, hängt auch mit Gedächtnispolitiken zusammen. Wir dürfen jetzt um die Menschen die in Kellern, auf der Straße umgebracht worden sind in den öffentlichen Räumen der Türkei nicht trauern und ihrer nicht gedenken. Sogar das öffentliche Gedenken an die 107 Menschen, die durch einen IS-Anschlag auf eine  Friedensdemonstration am 10. Oktober 2015 in Ankara ums Leben gekommen sind, ist verboten. Eine der wichtigsten Akademiker_innen in der Türkei, Şebnem Korur Fincancı3, Rechtsmedizinerin und Menschenrechtlerin, die auf diese Folter- und Tötungspolitiken aufmerksam machte und betonte, dass wir einen Raum für das Trauern um gesellschaftlich geprägte Traumata brauchen, wurde zu zweieinhalb Jahre Gefängnis verurteilt. Erinnern und Gedenken und sich dafür zu äußern werden kriminalisiert. Daher stelle ich mir die Frage, was ermöglicht da Kunst?

Songül: Für mich reicht es, wenn es um Archivierung geht. Für mich ist es wichtig, dass ich über das reden kann, worüber nicht geredet wird, über das erzählen kann, worüber nicht weiter erzählt wird. Ich wusste die Ausstellung krieg kuratieren hatte eher einen kriegsökonomischen Ausgangspunkt. Mein Beitrag ist auf der kulturellen Ebene, wie die ganzen Lebensgrundlagen von Menschen zerstört werden und ihre Körper für eine Kriegspropaganda instrumentalisiert werden. Da musste ich viel über meine eigene Geschichte nachdenken und von dem ausgehend eine Erzählung entwickeln, die auch ein kritischer Beitrag ist für das Erinnern und nicht Vergessen.
 

1 Bei der Parlamentswahl 2015 verlor die AKP seit 2002 zum ersten Mal die Mehrheit im Parlament. Von der HDP (Halklarin Demokratik Partisi, dt. Demokratische Partei der Völker) wurden 80 Abgeordnete gewählt. Der ehemalige Kanzler und heutige Präsident der Türkei Recep Tayyip Erdoğan interpretierte das Wahlergebnis als Bedrohung seiner Planung eines Präsidialsystems. Ein paar Monat später trieb die AKP-Regierung die Kriegspolitik durch monatelange Ausgangssperren in den kurdischen Städten voran. Während der Ausgangssperren wurden auch Wasser- und Nahrungsmittel-Embargos für Städte verhängt, in denen mehrheitlich Kurd_innen leben. Nach diesen Ereignissen wurde im November 2015 die Parlamentswahl wiederholt und die AKP-Regierung sicherte sich die Mehrheit im Parlament. Das war eine Vorbereitung auf die Einführung des Präsidialsystems, für die letztendlich bei dem Referendum im April 2017 mehrheitlich gestimmt wurde.

2 Sönmez bezieht sich mit dem Name ihrer Arbeit auf die unabhängige Recherche- und Kunstagentur Forensic Architecture. https://forensic-architecture.org/

3 Akademiker*innen wie Şebnem Korur Fincancı haben nach diesen Entwicklungen eine Petition mit dem Titel "Wir werden nicht Teil dieser Verbrechen sein" verfasst. Es gab rund 2.000 Unterzeichner*innen, doch viele dieser Akademiker*innen wurden daraufhin gekündigt; einige sind ins Exil gegangen.

Das Interview wurde im Oktober 2019 auf Türkisch geführt, ins Deutsche übersetzt und überarbeitet.

Ezgi Erolist Redakteurin von Migrazine und Kuratorin der Ausstellung "Krieg kuratieren". 
Songül Sönmezstudierte Malerei an der Marmara Universität in Istanbul im Jahr 2009. Seit 2011 studiert sie Konzeptkunst an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Ihre Arbeiten konzentrieren sich auf die Politik der Verleugnung und Assimilation, auf die Menschen, die durch Folter gestorben sind, Untersuchungshaft, prekäre und informelle Arbeitsbedingungen, Ausnahmezustände und aktuelle gesellschaftspolitische Themen. Sie arbeitet mit Multimedia wie Videos und Installationen. Sönmez lebt und arbeitet in Wien. Ihre Arbeit "Forensic Body" wird im Rahmen der zweiten Auflage der Ausstellung "Krieg kuratieren" im Kunstraum Innsbruck zu sehen sein.