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Und es kamen Menschen

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von Hengameh Yaghoobifarah

Wir schreiben das Jahr 1961. Am Münchner Hauptbahnhof fährt ein Zug aus Istanbul ein. Die Wagons sind gefüllt mit Menschen, die seit fünf Tagen unterwegs und nun endlich am Ziel sind: Endstation Almanya.
Seit dem fünfzigsten Jubiläum des sogenannten Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei im Jahr 2011 häufen sich die Berichte über die erste Generation von türkischen Gastarbeiter_innen in der Bundesrepublik. Dennoch bleiben einige Fakten unausgesprochen. "Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen an" - mit diesen Worten beschreibt der türkische Musiker Cem Karaca die Situation, als er in Deutschland ankam. Allein an der Effizienz der neuen Mitbürger_innen war man interessiert, nicht aber an ihren Bedürfnissen oder Interessen.



Es waren nicht bloß Arbeitskräfte, sondern Menschen, die die BRD bereicher(te)n. Und wo Menschen sind, ist Kultur nicht weit. Abseits des mehrheitsdeutschen Mainstreams entstand ein ganzes Genre, das sich als "Gastarbeiter_innen-Musik" betiteln lässt. Musik, die auch die Eltern von Imran Ayata, Autor in Berlin, und Bülent Kullukcu, Künstler aus München, ständig hörten. Jahrzehnte später betätigten sich Ayata und Kullukcu als Archäologen und durchforsteten Archive, private Platten- und Kassettensammlungen und das Internet, auf der Suche nach den Soundschätzen der Vergangenheit. Hervorgeholt wurden über hundert Lieder, die von der ersten und zweiten Generation der Gastarbeiter_innen komponiert wurden. Eine Auswahl dieser Lieder made in Almanya findet sich auf der Kompilation "Songs of Gastarbeiter Vol. 1", die Ende 2013 auf dem Trikont-Label erschienen ist.

Migrationsgeschichte hören

"Songs of Gastarbeiter" ist vieles: historische Musiksammlung, authentisches Zeitzeugnis, Ergebnis eines multikulturellen Austausches. Vor allem aber ist die Kompilation eine Hommage auf die erste Generation von Gastarbeiter_innen in Deutschland - und macht damit auch ein Stück unsichtbar gemachter Geschichte wieder sichtbar.
Zur Recherche inspiriert wurden Ayata, Autor in Berlin sowie Mitbegründer von Kanak Attak und ehemaliger Redakteur der Zeitschrift "Die Beute", und Kullukcu, der als Künstler, Kurator und Regisseur in München arbeitet, durch ihre Arbeit für das Festival "Almanci! 50 Jahre Scheinehe" im Berliner Theater Ballhaus Naunynstraße, in der sie fünf Jahrzehnte Einwanderung nach Deutschland musikalisch auf die Bühne brachten. Ayata und Kullukcu zogen aus den vergangenen fünfzig Jahren ihr eigenes Fazit. "Nach diesem Gig entstand die Idee, der Leidenschaft für diese Musik mehr Raum zu geben. Ein Ergebnis dessen ist die CD", erzählt Ayata im Gespräch mit migrazine.at.

Entdeckt haben sie die Lieder der Gastarbeiter_innen durch ihre Eltern, aber auch durch Eigeninitiative. Grundsätzlich erwies sich die Materialsuche jedoch als äußerst schwierig. "Es gibt ja kein Archiv für diese Geschichte. Dafür gibt es weder Interesse noch Neugierde. Zwar hat es immer wieder Projekte - auch verschiedene politische - zur Archivierung der Migration gegeben. Trotzdem ist sie einfach nicht präsent, weil sie von der Mehrheitsgesellschaft ignoriert wird."

Almanya, bittere Heimat

Der Sampler featuret 16 Tracks, teils auf Deutsch, teils auf Türkisch und mit sehr viel Rotation in sprachlichen Grauzonen. Auch die Biografien der MusikerInnen, ihre musikalischen Stile und die Inhalte ihrer Songs erweisen sich als höchst unterschiedlich: Viele handeln von Sehnsucht und Trennungsschmerz (zum Beispiel Mahmut Erdal, Gülcan Opel, Zehra Sabah) oder deklarieren Almanya zur "bitteren Heimat", wie Selda in ihrem Cover des Ruhi-Su-Klassikers "Almanya Acı Vatan".

Wenig verwunderlich spielen auch die Arbeitsbedingungen im Betrieb und in der Fabrik eine prominente Rolle (etwa bei Aşık Metin Türköz, Gurbetçi Rıza): Während Cem Karaca in "Es kamen Menschen" den mechanischen, kalten Umgang mit den Gastarbeiter_innen thematisiert, schlägt Metin Türköz' Protestlied "Guten Morgen Mayistero" einen ironischen Ton an.





Türköz wurde als einer der ersten Sänger türkischer Volksmusik in Deutschland bekannt und veröffentlichte nicht weniger als 13 LPs und 72 Singles. 1962 kam der gelernte Schlosser nach Köln und arbeitete zunächst bei Ford. Es dauerte nicht lang, bis er seine Karriere in die musikalische Richtung lenkte und das neue Genre "Gurbet Türküleri" ("Türkische Lieder aus der Fremde") bediente.
Wie sich das Schicksal der Familie Türköz weiterentwickelte, beschrieb Anna Kemper 2011 in "Die Zeit": Metin Türköz' Sohn wird Manager, seine Enkelin studiert - der türkische Traum des sozialen Aufstiegs im Ausland ist nicht etwa ein altbackener Mythos, sondern für viele Türk_innen Realität geworden.

Das provozierende Spiel mit Klischees beherrscht Yusuf auf seiner Single "Ich türkisch Mann". Bereits die erste Strophe lässt seine Rhetorik erahnen: "Ich türkisch Mann / Nix deutsch sprechen kann / Kümmel, Knoblauch, Paprika ess ich auch / Mir sagen Leute: 'Du nix Knoblauch heute!'" Was wie ein rassistisches Spottlied klingt, entpuppt sich als beißende Sozialkritik, begleitet von Pfeifen und Akustikgitarre, typischen Elementen von Protestsongs. Zudem thematisiert Yusuf den fehlenden Respekt seiner weißdeutschen Arbeitskollegen für seinen Glauben und die ausbeuterischen Ansprüche, die ihm von der BRD gestellt wurden.

Pioniergeist

Die meisten Stücke auf der "Songs of Gastarbeiter Vol. 1"-Kompilation sind Originalversionen, bei einigen entschieden sich Ayata und Kullukcu für Remixe. Den Musiker Ozan Ata Canani baten die beiden, seinen Ohrwurm "Deutsche Freunde" im Studio neu aufzunehmen, da davon keine qualitativ hochwertige Aufnahme existierte. Während der Gesang und die Instrumentalisierung in der Originalversion von "Deutsche Freunde" an türkische Folklore erinnern, weist das aktuelle Remake auch funkige Elemente auf.



Die eigentliche Gemeinsamkeit der Künstler_innen sehen Ayata und Kullukcu jedoch darin, dass sie Wegbereiter_innen waren: Sie machten sich und ihren Alltag zum Thema, gaben sich nicht nur leidend, sondern auch kämpferisch und ironisch und waren scharfsinnige Beobachter_innen der deutschen Gesellschaft. Pioniergeist zeigten sie auch, indem sie neue Musikstile wie anatolischen Disko-Folk kreierten und sich im Crossover versuchten (wie zum Beispiel Ali Avaz) oder mit Sprechgesang experimentierten, lange bevor es deutsch-türkische Rapper_innen gab.
Nicht zuletzt waren sie auch Pionier_innen, weil sie den Sound des Arabesk in Deutschland einführten (wie Yüksel Özkasap) und virtuos mit dem Mix der Sprachen jonglierten (Aşık Metin Türköz, Aşık Divane, Cem Karaca) und der deutschen Sprache einen eigenen Ton verliehen (etwa Ozan Ata Canani).

Kinder der "Gastarbeiter_innen"

Zuletzt gingen Ayata und Kullukcu mit ihren "Songs of Gastarbeiter" auf Tour und machten im März auch einen Zwischenstopp in der Wiener Garage X, wo sie mit einer Slideshow, Hörbeispielen und witzigen Anekdoten ihr Musikprojekt vorstellten. Zwar endet auf "Songs of Gastarbeiter Vol. 1" die Chronologie der "Gastarbeiter_innen"-Musik Anfang der 1990er Jahre, bei der Präsentation wurde jedoch der Generationen-Bogen bis in die Gegenwart gezogen, zum Beispiel mit Malek Samo oder Haftbefehl.



Eine witzige Entdeckung, die Ayata und Kullukcu zufällig bei ihren Recherchen machten, war etwa, dass Yarinistan nicht nur das Lied "Türken sind froh" mit den makabren Songzeilen "Türken sind lustig, Zigeuner sind froh / Trinken viel Raki und putzen das Klo" in die Welt setzte, sondern auch einen Sohn. Bei besagtem Nachwuchs, der ebenfalls in der Musikbranche tätig ist, handelt es sich um keinen geringeren als Ekrem Bora - auch unter seinem Rapper-Alias Eko Fresh bekannt.
Generell lässt sich, angesichts der (Musik-)Geschichte der "Gastarbeiter_innen", die Entwicklung von HipHop in Deutschland neu lesen: Während Bands wie Die Fantastischen Vier als Veteranen gelten, sind die frühen migrantischen Protagonist_innen des Genres zunehmend in den Hintergrund gedrängt worden.

Empowerndes Vermächtnis der "Gastarbeiter_innenkultur"

"Songs of Gastarbeiter" legt nicht nur eine neue Rezeption migrantischer Geschichte in Deutschland nahe, sondern eröffnet die Musik der ersten Gastarbeiter_innen auch deren Enkelkindern. "Nach unserer Veranstaltung ist eine junge Frau zu mir gekommen", erzählt Kullukcu, "sie meinte: 'Ich hab mich erst, nachdem ich eure CD gehört hatte, mit meiner Migrationsgeschichte beschäftigt.' Ihre Oma lebt nicht mehr und kann ihr deshalb nichts mehr über ihre Identität als Gastarbeiterin erzählen. Die dritte Generation ist davon schon so abgeschottet und hat einen noch krasseren Konflikt in der Identitätsfindung, weil sie sich weder als deutsch noch als türkisch einordnen kann."
Das neue Identifikationspotenzial misst sich nicht zuletzt auch daran, dass die Nachkommen der Gastarbeiter_innen rassistische Klischees internalisiert haben und viele die Kultur ihrer Großeltern und Eltern mit den Augen der Mehrheitsgesellschaft als "uncool" betrachten. Umso empowernder ist es, diesen Teil der Identität in einem neuen Kontext zu entdecken. Bestätigung dafür gibt es auch seitens des Feuilletons, das das "Songs of Gastarbeiter"-Projekt äußerst positiv aufgenommen hat.

"Uns war es aber auch wichtig, einige Dinge klarzustellen", sagt Ayata. "All diese türkischen Kabarettleute, die im Fernsehen gefeiert werden, sind nicht vom Himmel gefallen. Es gibt eine Vorgeschichte. Man tut oft so, als seien die erfolgreichen Migranten, die in die Vitrine gestellt werden, Teil der zweiten Generation. Die werden ganz schnell eingemeindet, weil sie erfolgreich sind. Für Bülent und mich ist es aber wichtig zu betonen, dass es immer Leute vor uns gab, die Pionierarbeit geleistet haben. Es ist im Filmbereich genau so wie in der Literatur und der Musik, deshalb ist die Vielfalt auf dem Album so wichtig."


"Songs of Gastarbeiter" ist bei Trikont auf CD und Vinyl erschienen.


Links

In den Sampler reingehört werden kann hier.
"Songs of Gastarbeiter" auf Facebook


"Mezzanin" ist ein Teilprojekt von "Intermezzo", entwickelt von maiz und gefördert vom BMBF und Europäischen Sozialfond/ESF.

Hengameh Yaghoobifarahist Online-Redakteurin bei "Missy Magazine", freie Autorin und bloggt auf teariffic.de.