Communiqué of Communication
Schon lange gibt es in den sozialen Bewegungen das Bemühen, eine alternative Gesprächskultur zu etablieren, die ein hierarchiefreies Diskutieren in der Gruppe ermöglicht. Im Zuge der Auseinandersetzung mit Formen gleichberechtigter Kommunikation bildete sich während der letzten Jahrzehnte ein differenziertes Vokabular von Handzeichen heraus, die in Gruppendiskussionen eingesetzt werden. Auch im Rahmen der Bildungsproteste 2009/10 in Österreich hat sich auf zahlreichen Besetzungsplena die Arbeit mit solchen Diskussionshandzeichen durchgesetzt. Sie dienen vor allem dazu, dass jede anwesende Person zu jeder Zeit einen Kommentar machen, einen Vorschlag einbringen oder ihr Missfallen ausdrücken kann, ohne den Redefluss der sprechenden Person zu unterbrechen.
Wollen bei großen Versammlungen mehrere Personen das Wort ergreifen, wird in der Regel eine Redner_innenliste erstellt. Im besten Fall führen dabei verschiedene Personen Protokoll und notieren, wer sich zu Wort meldet. Dabei können unterschiedliche Kriterien herangezogen werden, um die Abfolge der Redner_innen festzulegen und so gängigen Hierarchiegefällen entgegenzuwirken – so werden zum Beispiel bei gegenderten Listen Frauen* als Redner_innen vorgereiht. Ebenso kann vereinbart werden, dass Personen, die sich noch nicht geäußert haben, immer solchen vorgezogen werden, die bereits das Wort hatten.
Über eine Redner_innenliste scheinen die gröbsten Schwierigkeiten gelöst: Es kann nicht immer nur die Person sprechen, die am lautesten schreit, vielmehr müssen alle warten, bis sie an der Reihe sind.
Sprechende Hände
Trotzdem kann es passieren, dass nur bestimmte Personen sprechen, und das immer wieder, während der Punkt, zu dem eine_r etwas sagen wollte, schon lange vorbei ist, wenn die Liste einer_einem endlich erlaubt, das Wort zu ergreifen. Oder aber es gibt Ungeduldige, die meinen, den_die andere_n ständig unterbrechen zu müssen. In solchen Situationen können definierte Handzeichen Abhilfe schaffen.
Einige davon hier im kurzen Überblick:
Mit dem Zeigefinger wie auf einen imaginären Punkt in der Luft zeigen: Ad-hoc-Meldung. Was eine_r sagen möchte, bezieht sich direkt auf das, worüber gerade gesprochen wird und sollte deswegen möglichst gleich angehört werden.
Mit den Händen kreisende Bewegungen machen, ähnlich dem Auswechslungszeichen beim Fußball: Komm zum Punkt! Das Zeichen macht die redende Person darauf aufmerksam, dass sie sich wiederholt und sich kürzer fassen sollte.
Mit den Händen und/oder Fingern leichte Wellenbewegungen machen: Die Person weiß nicht, was sie vom Gesagten halten soll.
Mit den Armen ein "X" machen: Veto. Worüber auch immer gerade gesprochen wird, es muss noch einmal anders diskutiert, es müssen andere Lösungen gefunden oder der Konflikt muss anerkannt werden.
Mit den Händen wackeln wie beim Einschrauben einer Glühbirne: Zustimmung.
Ver- und Abwendung
Eine alternative Diskussions- und Plenumskultur verfolgt das Ziel, Hierarchien abzubauen und gesellschaftlichen Ausschlüssen entgegenzuwirken, ebenso wie konsensuale Beschlüsse zu ermöglichen. Die beschriebenen Handzeichen können bei konsequenter Anwendung und gegenseitigem Respekt der Beteiligten diesen Prozess unterstützen, indem sie störende Zwischenrufe, Gegröhle, lauten Applaus etc. ausschalten, was zu einer weniger aggressiv aufgeladenen Atmosphäre beiträgt. Darüber hinaus bieten solche non-verbalen Zeichen auch "leisen" Personen, die nicht vor vielen Menschen reden möchten, die Möglichkeit, Zustimmung oder Ablehnung auszudrücken und sich somit am Diskussionsprozess zu beteiligen. Nicht zuletzt bewirkt das Handzeichen-Vokabular, dass "Macker_innen" zur Verwendung desselben angehalten werden können, ohne ihnen "das Wort verbieten" zu müssen.
Allerdings ist oft zu beobachten, dass die Handzeichen genau von denen verstärkt eingesetzt wurden, die sich in den Diskussionen ohnehin sicher fühlten. So artikulieren dann einige permanent per Handzeichen ihre Zustimmung oder Ungeduld, während sich andere auf allen Ebenen stumm verhalten. Gerade die angeblich größere "basisdemokratische" Legitimität der Handzeichen scheint einem inflationären Gebrauch der Zustimmungs- oder Ablehnungsgeste zuzuspielen. Diese losgetretene Dynamik kann zu einer Dominanz der Meinung von wenigen und zur Schwächung von Gegenstimmen führen.
Jenseits solcher Hierarchiebildungen war es bei den Besetzungsplena im Rahmen der Bildungsproteste vor allem das "Ad Hoc"-Zeichen, das schon bald Appelle nach Regulierung hervorrief – spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem eine Diskussion über mehrere Wortmeldungen hinweg "ad hoc" geführt wurde und somit erst recht wieder Kleingruppengespräche entstanden. Damit wurde die Redner_innenliste de facto ausgehebelt.
Entscheidungen
Der Anspruch, bei Entscheidungen im Plenum basisdemokratisch und konsensual vorzugehen, bringt zahlreiche Probleme ans Tageslicht – auch, was die Anwendung der Handzeichen betrifft. Auf den Uni-Besetzungsplena wurden diesbezüglich verschiedene Strategien entwickelt, um Entschlüsse festzuhalten. Meist wurde der Wunsch nach einer Entscheidung per "Proposal" angekündigt – das bedeutet, zum abzustimmenden Text, nächsten Schritt usw. wurden "Stimmungsbilder" erstellt. Das hieß zum Beispiel, dass sich alle Anwesenden per Handzeichen zu "Ja"/"Nein"- oder anderen Fragen äußerten. In einem zweiten Schritt musste immer nach Gegenstimmen gefragt werden. Je nachdem, wie diese ausfielen, wurde weiter diskutiert oder aber die Gegenstimmen wurden ins Protokoll aufgenommen, allerdings nicht in Form von Zahlen, sondern mit ihren Inhalten.
Ob ich nun aber mit den Händen wedle oder mein Handzeichen durchgezählt wird, ändert nichts an der Tatsache, dass ich an einer Abstimmung teilgenommen habe (deren Ergebnis nicht auf einem Konsens beruhen muss). Schwierig wird es auch, wenn Personen großzügig von ihrem Recht Gebrauch machten, Veto einzulegen, ohne dieses näher begründen zu müssen, und derart ganze Entscheidungsprozesse blockieren.
Auch kann es noch immer leicht passieren, dass redegewandte bzw. mit einem größeren (aktivistisch-)symbolischen Kapital ausgestattete Personen ihre Argumente eher durchbringen können als andere.
Zugehörigkeiten
Die Diskussionshandzeichen weisen aber noch einen weiteren ambivalenten Aspekt auf: Sie signalisieren Zugehörigkeit und können somit ein- bzw. ausschließend wirken. Im Laufe der Bildungsproteste wurde beschlossen, die Handzeichen vor jedem Plenum aufs Neue vorzustellen – inklusive der Möglichkeit, Einwände gegen ihre Verwendung einzubringen. Angesichts des eingeübten Verlaufs der Gespräche blieb es jedoch Voraussetzung, sich der Zeichen bedienen zu können: Jene, die schon lange an den Plena teilgenommen hatten, waren so daran gewöhnt, dass es schwierig geworden wäre, auf sie zu verzichten.
Eine fragliche Zugehörigkeitsgeste trug sich an der besetzten Akademie der bildenden Künste in einer recht entscheidenden Situation zu: Nachdem Studierende die Dokumente zu den sogenannten Leistungsvereinbarungen [2] aus dem Büro des Vizerektors entwendet hatten, fand am nächsten Tag ein Plenum in der Aula statt, zu dem auch Rektor und Vizerektor erschienen. Der Rektor sprach von einem "gewalttätigen Vorgehen der Studierenden", der Vizerektor hingegen betonte, dass die Studierenden zu jedem Zeitpunkt "transparent" und "kommunikativ" gehandelt hätten und er gar "von der Situation gelernt" hätte. Im Verlauf des Plenums hob er zu einem Vorschlag von Studierendenseite die Hände und signalisierte seine Zustimmung.
So ambivalent sich Arbeitsteilung in "good cop"/"bad cop" zwischen den beiden darstellte, so problematisch war die Aneignung eines Zeichens, das in diesem Fall eben die Zugehörigkeit zu herrschaftskritischen Positionen repräsentieren sollte – mit dem Resultat, dass auf beiden Seiten die Konfliktgrenzen nicht mehr so scharf gezogen werden konnten.
Non-verbale Kommunikation und Gebärdensprache
Die Nähe der Handzeichen zur Gebärdensprache ist offensichtlich, allerdings werden diese nur als Ergänzung zur gesprochenen Sprache eingesetzt. Während der Uni-Besetzungen bemühte sich der Verein österreichischer gehörloser Studierender (VÖGS) für eine breitere Sichtbarkeit gehörloser Menschen, teilweise wurden die Diskussionen in den Plena simultan in Gebärdensprache übersetzt. Über die "AG Barrierefreie Uni" wurden Forderungen von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Forderungskatalog aufgenommen. Seit dem Sommersemester 2011 gibt es an der Universität Wien die Möglichkeit, im Vorlesungsverzeichnis all jene Lehrveranstaltungen herauszufiltern, die in Gebärdensprache abgehalten werden, was laut VÖGS auch als spätes Resultat der Proteste 2009/10 gesehen werden kann.
Ich persönlich bezweifle, dass die Verwendung der Handzeichen die Bedürfnisse Gehörloser stärker ins Bewusstsein Nicht-Gehörloser gerückt haben. Auch die Visualisierung eines "Stimmungsbildes" hilft wenig, wenn die Inhalte der Diskussion nicht entsprechend vermittelt werden. Interessant wäre, hierzu betroffene Expert_innen zu befragen. Vor kurzem tauschte ich mich mit meiner Arbeitgeberin über die Gebärdensprache aus. Aufgrund einer körperlichen Behinderung kann sie ihre Hände nur eingeschränkt bewegen und bräuchte z.B. für die beschriebenen Plena-Situationen immer eine "Übersetzung". Auch wenn ich während der Proteste keiner Person begegnet bin, die ihre Hände schlecht oder nicht bewegen konnte, und mich auch nicht an die Teilhabe blinder oder sehbehinderter Personen erinnern kann, sind dies Aspekte, die bei einer Beschreibung der Handzeichen zumindest Erwähnung finden sollten: Welche Möglichkeiten der Übersetzung gibt es bzw. lassen sich entwickeln?
Handzeichen können – mit all ihren Einschränkungen – hilfreiche Instrumente sein, um Diskussionen in großen Gruppen zu strukturieren und partizipativer zu gestalten. Ob ihr Gebrauch jedoch auch immer einen reflektierten Umgang mit dem Redeverhalten bedeutet, ist fraglich – schließlich sind die so getroffenen Beschlüsse deswegen nicht automatisch "basisdemokratischer" als andere. Oft genug habe ich Plena erlebt, in denen die Teilnehmer_innen zustimmend mit den Händen gewackelt haben. Doch eine kritische Praxis verlangt mehr, etwa nach Gegenstimmen zu fragen oder auf zu viel Raum nehmende und Autorität fordernde Redeweisen zu achten.
Was also einen Unterschied macht, sind die Fragen nach einem respektvollen Umgang, nach Gruppenkonstellationen und ihren versteckten Hierarchien, nach Sensibilität und Vertrauen, die noch immer schwer zu vermitteln sind. Sogenannte "Befindlichkeitsrunden" oder (etwas weniger emotional aufgeladene) "Reflexionsrunden", in denen alle Beteiligten äußern können, wie es ihnen mit der Situation geht oder was sie von der Form der Diskussion halten, können vor allem in kleinen Gruppen nützlich sein. Auf jeden Fall sollte jedoch immer wieder von neuem die "herrschende" Dominanzstruktur einer Diskussionskonstellation sichtbar gemacht und infrage gestellt werden. Mit oder ohne Handzeichen.
Detaillierte Beschreibungen der Handzeichen finden sich u.a. auf http://diskussionshandzeichen.wordpress.com und bei http://www.youtube.com/watch?v=e7yGBZeSHQM.
Fußnoten:
[1] Für Kim Schlosser, Libertina Bomba und all ihre Kolleg_innen, die viele(s) sind.
[2] In den Leistungsvereinbarungen werden die von Bund und Universität gegenseitig zu erbringenden Leistungen ausgehandelt.